Novartis (1)
Novartis‘ Lotterie des Lebens
Im Spiegel und im Bild der veröffentlichten Meinung

Sofern sie über Fakten berichten, steht in Bild in etwa das gleiche, wie im Spiegel-Bild, nur kürzer. Die Berichterstattung über die von Novartis angebotene Überlebenslotterie für schwerstkranke Kleinkinder stimmt im Sachverhalt überein, nicht in der Bewertung.

Spiegel-Bild des Sachverhalts

Beide Presseorgane berichten auf ihren Internetseiten übereinstimmend, dass das Pharma-Unternehmen Novartis beginnend mit dem 03.02.2020 in zweiwöchentlichen Verlosungen insgesamt 100 Dosen des Medikamentes Zolgensma an Patienten aus aller Welt verlosen will. Das Medikament ist geeignet, die spinale Muskelathropie, eine Erbkrankheit, die gewöhnlich zum Tod im Säuglings- bis Frühkindsalter führt, zu therapieren. Die Therapie beruht darauf, dass genetisches Material in Nervenzellen „eingeschleust“ wird, um dort dauerhaft einem ohne diese Intervention  letalen Gendefekt entgegenzuwirken.

Obwohl Langzeitstudien zu diesem neuen Medikament bislang nicht vorliegen, scheint eine Studie an 36 Säuglingen, die dem Antrag auf Zulassung durch die amerikanische FDA zugrunde lag, zu zeigen, dass nach einmaliger Verabreichung einer Dosis des Medikamentes Aussicht auf eine nachhaltige Besserung besteht. Die einzige Therapiealternative sind schwer belastende therapeutische Eingriffe, die in mehrmonatigen Abständen ohne dauerhafte Besserungsaussicht wiederholt werden müssen. Für diese Eingriffe werden jeweils ca. $ 100.000 fällig, während für eine Dosis von Zolgensma einmalig ca. 2,1 Millionen US Dollar von Novartis aufgerufen werden.

Die Politik der Versorgung

Angesichts der Sachlage und der Kosten der Behandlung ist es klar, dass fast alle Eltern betroffener Säuglinge Zugang zum Medikament wünschen, diesen aber nur über öffentliche Versicherungssysteme erlangen können. Bislang steht die Zulassung des Medikamentes außerhalb der USA noch aus. Auch hinreichende Produktionskapazitäten stehen außerhalb der USA nicht zur Verfügung. Zudem besteht Grund zu der Annahme, dass angesichts der Kosten die Kostenträger und staatliche Gesundheitspolitik eine gewisse Entschleunigung der Zulassung nicht ungern sehen. Ohne Zulassung und ohne ausreichende Produktionskapazitäten, lassen sich Behandlungskosten vermeiden, ohne dass man die Behandlung aufgrund der Kosten versagen müsste. Die populäre Offizial-Illusion, dass in der Gesundheitsversorgung reicher Länder die beste Versorgung ohne Ansehung der Kosten garantiert wird, lässt sich bis auf weiteres aufrechterhalten.

Da in den USA, Europa und Japan jährlich nur etwas mehr als 1000 Kinder mit dem betreffenden Gendefekt geboren werden, scheinen die Zahlen Betroffener zu klein für politisch wirksame Organisation. Doch die Tatsache, dass es sich um konkrete und nicht nur statistische Leben und zudem um Kleinkinder handelt, eröffnet Chancen, die öffentliche Meinung trotz geringer Betroffenenzahlen zu mobilisieren. Sobald die allgemeine Aufmerksamkeit geweckt ist, werden Wähler und Gerichte dazu neigen, die Rettung konkreter Kinderleben nahezu „koste es, was es wolle“ zu unterstützen. Zudem tut sich der demokratische Rechtsstaat schwer, einerseits den Respekt vor dem einzelnen konkreten Leben allen anderen Gesichtspunkten voranzustellen und andererseits in Fällen wie den skizzierten, Behandlungen als unverhältnismäßig teuer zu versagen. Wenn Behandlungen zur Verfügung stehen und dies öffentlich bekannt wird, dann ist es schwer, deren öffentliche Finanzierung zu beschränken.

Darin, dass das so ist, zeigt sich eine Stärke der demokratischen Rechtsstaatlichkeit, aber auch deren Anfälligkeit für Öffentlichkeitsarbeit zugunsten legitimer Partikularinteressen. Novartis‘ Vorgehen ist ein Musterbeispiel strategischer Öffentlichkeitsarbeit: Die Veranstaltung der Lotterie mobilisiert keineswegs nur im Interesse von Novartis, sondern auch im Interesse der betroffenen Kranken und deren Familien die öffentlichen Medien und nutzt deren Praktiken wertender Berichterstattung.

Das Vorgehen von Novartis im Spiegel & Bild der Berichterstattung

Die Spiegel-Bild bleibt sich treu, indem sie ihr genehme wertende Kommentare selektiv anführt:  „der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) spricht daher von einem ‚Glücksspiel‘ mit Kindern. Der Chef von Deutschlands größter Krankenkasse TK, Jens Baas, kritisiert: ‚weltweit 100 Patienten das Medikament zur Verfügung zu stellen, ist keine Lösung, sondern schlichtweg verantwortungslos.‘ “

Das ist eine Sammlung wohlmeinender Gemeinplätze, die pseudo-kritisch daherkommen und dem Tellektuell-In das Selbstdenken ersparen. Natürlich ist eine Lotterie so geartet, dass nur der gewinnen kann, der Glück hat. Für die Gewinner, die todgeweihten Kinder und deren Eltern, ist der Gewinn in der Lotterie in jedem Falle ein Glück. Das will man aber nicht anerkennen, sondern benutzt den negativ besetzten Begriff des Glücksspiels, um die Sache in Verruf zu bringen, so als hätten die bemitleidenswerten Betroffenen eine Pokerbude aufgesucht.

Wundervoll ist auch die Äußerung, dass es „verantwortungslos“ sei, 100 Patienten das Medikament zur Verfügung zu stellen, weil das „keine Lösung ist“. Hier stellt sich unmittelbar – wenn auch nicht dem SPIEGEL — die Frage, was eine Lösung wofür sein und was verantwortungslos gegenüber wem sein könnte. Natürlich werden durch die Lotterie zunächst nur einzelne Gewinner profitieren. Die anderen gehen leer aus. Aber das ändert nichts daran, dass einige Individuen, die sonst nicht gerettet werden könnten, gerettet werden. Was ist daran verantwortungslos?

Die Durchführung der Lotterie bietet natürlich keine „Lösung“ des Problems unzureichender Kapazitäten. Man fragt sich, wäre es eine Lösung, wenn keiner vorerst von der Behandlung profitieren dürfte? Wenn man nicht alle versorgen kann, ist dann nicht die einzige „faire“ Lösung tatsächlich eine Lotterie? Will man hingegen möglichst bald alle versorgt sehen, ist es dann nicht gerade zielführend, die öffentliche Meinung durch PR-Aktionen wie Novartis‘ Lotterie zu mobilisieren?

Man kann durchaus behaupten, dass Novartis mit der Durchführung der Lotterie seiner Verantwortung für die gegenwärtigen und zukünftigen Nutznießer der von der Firma entwickelten innovativen Therapie gerecht wird. Dass das im eigenen Interesse von Novartis geschieht, ändert nichts daran, dass es auch im Interesse der Betroffenen liegt. Die Original-Bild Zeitung stellt im Gegensatz zur Spiegel-Bild dazu zutreffend und lakonisch fest: „Ja was Novartis macht, ist eine kalkulierte PR- Kampagne. Aber jedes zusätzliche Kind, dass gerettet wird, lässt die Nachteile der Lotterie verblassen.“ Die Original Bild erkennt dabei an: „Natürlich verlost Novartis das Millionen-Medikament nicht aus reiner Nächstenliebe. Der Pharma-Konzern will nicht nur mehr Kinder heilen, er will auch mehr Zulassungen weltweit, mehr Profit.“

Dem ist an sich wenig hinzuzufügen. Vielleicht sollte man nur ausdrücklich betonen, dass sich hier die segensreichen Wirkungen des Profitmotivs jedenfalls für die betroffenen Eltern und Kinder zeigen. Die wenigen Betroffenen würden sonst nur schwer Anwälte für ihr Anliegen finden. Wenn die Vertreter der GKVen und des „Chefs“ der TK, das Vorgehen von Novartis ablehnen, dann agieren sie jedenfalls entgegen ihrer offiziellen Verlautbarungen kaum als Anwälte der betroffenen Patienten.

Novartis wahrt mit der Lotterie Partikularinteressen

Katastrophale Knappheitssituationen, in denen der Schattenpries der Rettung des einen Lebens die unterlassene Rettung eines anderen ist, sind uns durchaus vertraut. Sie treten nicht nur bei Großunfällen sondern auch dann regelmäßig auf, wenn medizin-technische oder pharmakologische Innovationen erstmals zur Verfügung stehen.

Als beispielsweise die Möglichkeit der Dialyse für Patienten mit terminalem Nierenversagen entwickelt wurde, waren ähnliche Probleme zu bewältigen. Für diejenigen, die von der Dialyse profitiert hätten, aber keinen Zugang erhalten konnten, weil die Kapazitäten nicht zur Verfügung standen, bedeutete die Vergabe eines Dialyseplatzes an einen anderen als sie den baldigen Tod.

Die Gesundheitssysteme der entwickelten Länder dieser Welt haben das Knappheitsproblem im Falle der Dialyse durch Widmung umfassender finanzieller Mittel weitgehend aufgefangen. Die Knappheit verlagerte sich allerdings nur auf die gleichgelagerte Knappheit menschlicher Spendernieren, die durch höheren Einsatz finanzieller Mittel nur wenig zu mildern ist.

Ähnlich wie im Fall der Therapie des terminalen Nierenversagen ist es auch im Falle der Therapie der spinalen Muskelathropie anscheinend so, dass entsprechend zur Dialyse eine weniger nachhaltige und den frühzeitigen Tod bei schlechter Lebensqualität nur aufschiebende Therapie durch eine entsprechend zur Transplantation nachhaltigere, höhere Lebensqualität bietende Therapie möglich ist. Anders als im Falle der Transplantation, die gegenüber dauerhafter Dialyse-Behandlung zu massiven Kostenersparnissen führt, sind solche Ersparnisse im Falle der spinalen Muskelathropie aber eher nicht zu erwarten, da die Betroffenen aufgrund nur kurzer Lebensdauer trotz Therapie nicht mehr in den weiteren zweifelhaften Genuss der ebenfalls teuren gelangen und daher aufgrund ihres vorzeitigen Todes keine weiteren Kosten mehr verursachen können.

Die von Novartis veranstaltete Lotterie hilft den glücklichen Gewinnern, die bereits jetzt von der Krankheit betroffen sind. Im Vergleich mit einer Welt ohne die Lotterie schadet diese keineswegs denjenigen, die nicht in den Genuss eines Glücksloses kommen. Eltern künftiger Neugeborener, die von der Krankheit betroffen sein könnten, nützt die Lotterie. Denn sie haben ebenfalls ein Interesse daran, dass die betreffenden medizinisch-technischen Möglichkeiten zur Behandlung künftig ausreichend zur Verfügung stehen und auch finanziert werden können.

Die Politik dazu zu provozieren, die Übernahme der Kosten zu garantieren, liegt im Partikularinteresse der real und potentiell betroffenen Kranken. Ob populäre Garantieerklärungen dauerhaft der Gemeinwohlwahrung dienen, ist eine offene Frage, um die man sich durch Angriffe auf die „üblen Profiteure“ bei Novartis nur vorübergehend herum mogeln kann.

Die Lotterie fördert womöglich nicht das Allgemeinwohl

Aus übergeordneter Perspektive kann man durchaus daran zweifeln, dass die Schaffung von Kapazitäten zur Rettung schwerst-betroffener kranker Individuen immer im sogenannten Solidarinteresse der Gemeinschaft liegt. Sobald Kapazitäten existieren, konkrete Menschenleben aus unmittelbarer Lebensgefahr zu retten, wird es in einem westlichen demokratischen Rechtsstaat kaum möglich sein, die Rettung in konkreten Einzelfällen zu versagen.

Andererseits erträgt der Rechtsstaat sehr wohl die Gefährdung abstrakter Leben. Wir sind beispielsweise mit unserer Ausstattung mit Rettungshubschraubern generell zufrieden, obwohl wir wissen, dass die Überlebenschancen zukünftiger konkret betroffener Individuen höher sein würden, wenn mehr Rettungshubschrauber angeschafft und in Einsatzbereitschaft gehalten würden.

Nicht mehr Rettungshubschrauber anzuschaffen, weil uns das zu teuer ist, scheint uns legitim, einen bereits angeschafften Rettungshubschrauber nicht loszuschicken, weil uns die Kosten dafür zu hoch scheinen, würden wir fundamental ablehnen. Die Frage, ob sich Gesellschaften nicht in ähnlicher Weise weigern können sollten, Behandlungskapazitäten aufzubauen, die eine flächendeckende Versorgung mit Zolgensma ermöglichen, steht im Raum.

Solange wir nicht endlich darüber offen zu reden beginnen, welche Art auch lebenserhaltender medizinischer Leistungen wir nicht aus öffentlichen Mitteln garantieren wollen, werden „wir“ gegenüber PR-Strategien wie der von Novartis und dem politischen Druck, der dadurch durchaus im Sinne der Betroffenen aufgebaut wird, hilflos sein. „Uns“ selbst müssen wir den Vorwurf machen, dass wir uns nicht trauen, offen über künftig verstärkt auftretende fundamentale Knappheiten an Gesundheitsleistungen und Wege damit umzugehen, zu diskutieren.

Paradoxerweise werden diese Knappheiten daraus entstehen, dass es immer mehr immer bessere Möglichkeiten der medizinischen Therapie geben wird. Durch Markt und Wettbewerb steigen die Überlebenschancen aller. Wir werden das aber dem Markt nicht gutschreiben, sondern ihm ankreiden, dass er die Knappheiten und dadurch unbefriedigten Begehrlichkeiten, nicht behebt. Was Korrektive zu diesen gefährlichen Fehlmeiningen anbelangt sollten wir unsere Hoffnungen eher auf die Bild und ihre seriöse Tante WELT als auf die Spiegel-Bild setzen.

Websites

Spiegel: https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/zolgensma-novartis-verlost-teuerstes-medikament-der-welt-an-kinder-a-44556bb4-dece-448e-8917-4d397910f483

Bild: https://www.bild.de/politik/kolumnen/kolumne/medikamenten-lotterie-von-novartis-umstritten-aber-zulaessig-ein-kommentar-68601914.bild.html

Welt: https://www.welt.de/wirtschaft/article205731629/Novartis-stoesst-mit-Medikamenten-Losverfahren-Debatte-an.html

2 Antworten auf „Novartis (1)
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