„Eine Politik, die gegen ökonomische Gesetze und damit gegen menschliche Grundbedürfnisse regiert, zieht immer den Kürzeren.“ (Eugen von Böhm-Bawerk in seinem Essay „Macht oder ökonomisches Gesetz?)
Deutschland geht es wirtschaftlich und sozial gut. Die Beschäftigung ist hoch, die Inflation niedrig, die Armut minimal, die soziale Sicherheit groß. Nur mit dem Wachstum hapert es, wie fast überall in der reichen Welt. Für viele sind allerdings die hohen Überschüsse in der Leistungsbilanz ein Ärgernis. Die ausländische Kritik ist zwar unbegründet (hier). Dennoch sind die hohen Überschüsse ein Hinweis auf den drohenden Niedergang. Hohe Leistungsbilanzüberschüsse und ein großer industrieller Sektor sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Deutschland lebt noch immer gut von den „alten“ Industrien. Das wird sich ändern, grundlegend. Der notwendige strukturelle Wandel wird die noch heile Welt wirtschaftlich und sozial auf eine harte Probe stellen. Die Traumtänzer der Politik verhalten sich wie die Musikkapelle auf der Titanic. Sie spielen trotz Havarie die umverteilungspolitische Melodie unverdrossen weiter. Da sind die Tarifpartner von IG Metall und Gesamtmetall weiter. Das ökonomische Gesetz zwingt sie, verbandspolitische Macht abzugeben. Es bleibt ihnen keine andere Wahl als mit der zentralistischen Tarifpolitik zu brechen. Sie scheinen zu erkennen, über Löhne und Tarife muss stärker dezentral (betrieblich) entschieden werden.
Struktureller Wandel
Der industrielle Sektor ist das wirtschaftliche Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Er sorgt für sichere, gut bezahlte Arbeitsplätze, kräftigt den innovativen Motor unserer Volkswirtschaft und begrenzt die wachsende wirtschaftliche Ungleichheit in der Gesellschaft. Damit könnte es bald vorbei sein. Die deutsche Sektorstruktur ist im Herbst ihres wirtschaftlichen Lebens. Das hat weniger mit der anhaltenden konjunkturellen Schwäche zu tun. Der industrielle Sektor ist seit Mai 2018 konjunkturell auf dem Weg nach unten. Die Produktion sinkt überall, im Bereich der Investitionsgüter aber auch im Automobilsektor. Allerdings bleibt die Beschäftigung in der Industrie trotz dieser Rückschläge erstaunlich stabil. Das eigentliche Problem ist aber kein konjunkturelles (temporäres), sondern ein strukturelles (dauerhaftes). Im internationalen Vergleich ist der Industriesektor in Deutschland seit langem atypisch groß, der Dienstleistungssektor ist dagegen eher unverhältnismäßig klein. Das wird nicht so bleiben. Die deutsche Volkswirtschaft (Arbeitnehmer und Unternehmen) hat den schwierigen Übergang zur Wissensgesellschaft noch vor sich.
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Unter der Oberfläche des inter-sektoralen Wandels tut sich aber mehr, intra-sektoral und inter-qualifikatorisch. Im Strukturwandel gewinnen und verlieren nicht nur Sektoren. Auch intra-sektoral gibt es Gewinner und Verlierer (hier). Unternehmen derselben Branche sind unterschiedlich erfolgreich. Die Empirie zeigt, es sind vor allem große Unternehmen, die von dieser Entwicklung profitieren. Das schlägt sich auch in den Verdiensten der Arbeitnehmer nieder. Erfolgreichere Unternehmen zahlen besser, weniger erfolgreiche schlechter. Die Einkommen ähnlich produktiver Arbeitnehmer sind ungleich verteilt. Und noch etwas passiert: Die inter-qualifikatorische Lohnstruktur ändert sich. Hochqualifizierte stehen auf der Sonnenseite des Arbeitsmarktes, bei Löhnen und Arbeitsplätzen. Geringqualifizierte müssen sich nach der Decke strecken. Ihre Löhne sind niedrig, ihre Arbeitsplätze unsicher. Der schnelle inter-sektorale Wandel setzt aber auch den Facharbeitern zu. Ihre gut bezahlten Arbeitsplätze im industriellen Sektor kommen in Gefahr. Damit geraten auch weite Teile der Mittelschicht in den Strudel des strukturellen Wandels.
Politik als Brandbeschleuniger
Deutschland ist mit seinem industriebasierten und exportlastigen Geschäftsmodell (hier) ein sektoraler Nachzügler. Es ist fraglich, wie lange es noch von seinen „alten“ Industrien (Auto, Chemie, Maschinenbau, Pharma) profitieren wird. Der inter-sektorale Strukturwandel macht auch vor Deutschland nicht Halt. Wachsender Wohlstand ändert das Ausgabenverhalten von Haushalten und Unternehmen. Beide fragen mehr Dienstleistungen nach, die einen als End-, die anderen als Vorprodukte. Weltweit offene Märkte, deutsche Wutbürger und Politiker beschleunigen diesen inter-sektoralen Wandel. Offenere Gütermärkte setzen etablierte Anbieter von Industriegütern unter Druck. Große Teile der industriellen Produktion werden ins Ausland abwandern. Grüne deutsche Wutbürger und Politiker beschleunigen diesen Prozess der Abwanderung noch. Sie tun alles, den industriellen Sektor alt aussehen zu lassen. Die Atomindustrie haben sie schon außer Landes getrieben, die Gentechnik aus Deutschland verbannt, die chemische Industrie madig gemacht, die Automobilindustrie klimapolitisch stranguliert und die IK-Technologie als Teufelszeug gebrandmarkt.
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Die klimapolitische Hysterie, die in unserem Land herrscht, beschleunigt den inter-sektoralen Strukturwandel. Der Ausstieg aus der Atomenergie, die Stilllegung von Kohlekraftwerken und die Subventionen für regenerative Energie (EEG) wirken wie eine klimapolitische Peitsche der De-Industrialisierung in Deutschland. Sie verteuern Energie signifikant, erhöhen den Kostendruck auf die Unternehmen und fördern die Abwanderung. Darunter leidet besonders der industrielle Sektor. Der weitverbreitete „Hass auf die Verbrenner“ verstärkt diese Entwicklung. Die hohen Anforderungen an die CO2-Werte, die Einschränkung des Feinstaubausstoßes und die politische Priorität für die E-Mobilität setzen der Autoindustrie und ihren zahlreichen Zulieferern zu. Der industrielle Sektor kommt noch mehr unter Druck. Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf Output und Beschäftigung. Die Gefahr eines „süddeutschen Rostgürtels“ (hier) ist nicht von der Hand zu weisen. Das schreckt nicht nur die Unternehmen und Politiker in Baden-Württemberg auf. Auch die IG Metall sieht die Felle in ihrem gewerkschaftlichen Wohnzimmer davon schwimmen.
Machtverluste der Tarifpartner
Die ökonomische Welt ist nicht nur heterogener geworden. Gewachsen ist auch die Gefahr einer strukturellen Krise. Inter- und intra-sektoral wachsen die Unterschiede, die qualifikatorische Lohnstruktur wird ungleicher. Das institutionelle Arrangement auf den Arbeitsmärkten passt nicht mehr zu dieser „neuen“ Welt. Die Tarifpartner scheren lohn- und tarifpolitisch noch immer viel zu viel über einen Kamm. Mit den traditionellen Flächentarifen lässt sich der strukturelle Wandels nicht in den Griff bekommen. Heterogenere wirtschaftliche Entwicklungen und differenziertere individuelle Interessen erfordern ein neues institutionelles Arrangement. Die Lohn- und Tarifpolitik muss sich stärker an den betrieblichen Gegebenheiten orientieren. Betriebliche Bündnisse für Arbeit sind die Antwort. Das ist nur mit mehr Öffnungsklauseln möglich, tariflichen und (besser noch) gesetzlichen. Die heterogenen Interessen in den Betrieben erfordern mehr Tarifvielfalt, keine Tarifeinheit. Es muss wieder möglich sein, dass sich diese Interessen der Arbeitnehmer institutionell organisieren. Das Tarifeinheitsgesetz ist eindeutig der falsche Weg.
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Die Zeit ist reif, einer dezentraleren Lohn- und Tarifpolitik endgültig den Weg zu ebnen. Darum kommen auch die Tarifpartner nicht herum. Lange Zeit haben sie sich dieser Entwicklung verweigert. Der Mitgliederverlust von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden zwingt sie nun aber zum Handeln. Der Organisationsgrad der Gewerkschaften sinkt seit langem. Die industrielle Basis ihrer vorwiegend männlichen Klientel schrumpft. Im wachsenden Dienstleistungsbereich lassen sich vor allem Frauen nur schwer gewerkschaftlich organisieren. Mit gewerkschaftlichen Fusionen lassen sich die heterogeneren Interessen der Arbeitnehmer noch weniger unter einen Hut bringen (hier). Den Arbeitgeberverbänden geht es nicht besser. Auch sie verlieren stetig an Mitgliedern. Starre Flächentarife werden den heterogenen Interessen der Unternehmen nicht mehr gerecht. Die angebotenen OT-Mitgliedschaften gleichen den Mitgliederschwund nicht aus. Mit der Erosion der Mitglieder der Tarifpartner geht der Abdeckungsgrad mit Flächentarifen immer mehr zurück. Überall entstehen regional „weiße“ Flecken, in denen es keine Flächentarife mehr gibt.
Modulare Tarifpolitik
Die Tarifpartner sind wie siamesische Zwillinge. Sie kämpfen mit denselben Problemen: Ihre Organisationsgrade bröckeln, der traditionelle Flächentarif erodiert, die Strukturkrise schwelt weiter. Es verwundert deshalb nicht, dass beide oft Hand in Hand die Politik um Hilfe bitten. Und die Politik ist gewillt, diese Hilfe zu gewähren. Höhere gesetzliche Mindestlöhne, leichtere Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit, ein umfassenderes Arbeitnehmer-Entsendegesetz, erleichterte längere Befristung bei der Zeitarbeit tarifgebundener Unternehmen und ein expandierendes Bundes-Tariftreue-Gesetz sind nur einige staatliche Anreize, die zu mehr Tarifbindung führen sollen. Neuerdings fordern die Gewerkschaften auch einen Steuerfreibetrag für Gewerkschaftsmitglieder in tarifgebunden Unternehmen. Das alles oder zumindest vieles ist zwar im organisatorischen Interesse der beiden Tarifpartner. Es zieht aber zwei Probleme nach sich: Die politischen Eingriffe gefährden die Tarifautonomie und sie helfen nicht, die strukturelle Krise in den Griff zu bekommen. Damit gelingt es nicht, die wachsende Heterogenität von wirtschaftlicher Lage der Betriebe und individueller Interessen der Arbeitnehmer wirksam in den Blick zu nehmen.
Mit der heraufziehenden Strukturkrise dämmert es den Tarifpartnern, dass mehr notwendig ist, um sie zu meistern. Die BDA, propagiert seit einiger Zeit einen Dreisatz der Deregulierung der Arbeitsbeziehungen: Mehr Öffnungsklauseln, modulare Tarifverträge und mehr Handlungsspielraum für Betriebsräte (hier). Er fordert eine modulare Tarifpolitik. Tarifgebundene Unternehmen müssen nicht den ganzen Flächentarif übernehmen, sie können Teile herauspicken. Die Entscheidung darüber soll auf betrieblicher Ebene fallen. Es soll allerdings nicht möglich sein, die Teile des Flächentarifs inhaltlich abzuändern. Die IG Metall scheint sich diesem Vorschlag nicht mehr zu verweigern. Ihre Schwerpunkte liegen auf den Investitions- und Produktperspektiven für Standorte und Beschäftigte, der Weiterbildung und dem Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen. Der entscheidende Punkt ist allerdings, dass die Betriebe in eigener Regie über die Ausgestaltung der „Zukunftstarifverträge“ entscheiden können. Damit springen die Gewerkschaften auf den Zug der von den Arbeitgeberverbänden geforderten dezentraleren Lohn- und Tarifpolitik.
Fazit
Der strukturelle Wandel wird Deutschland turbulente Zeiten bescheren. „Alte“ Industrien werden weiter an Boden verlieren, neue (wissensintensive) Branchen werden zum Treiber der wirtschaftlichen Entwicklung. Und die Politik tut gegenwärtig energie-, klima- und mobilitätspolitisch alles, den sektoralen Strukturwandel noch zu beschleunigen (De-Industrialisierungspeitsche). Weltweit (noch immer) offene Märkte besorgen den Rest. Das wird nicht ohne Friktionen abgehen. Die Betriebe werden sich noch mehr differenzieren, die individuellen Präferenzen der Arbeitnehmer weiter stärker streuen. Das alte institutionelle Arrangement passt nicht mehr. Es war stark auf Homogenität ausgerichtet. Das galt auch für die Lohn- und Tarifpolitik. Die Tarifpartner hatten sich mit dem Flächentarif behaglich eingerichtet. Arbeitskämpfe folgten bestimmten (archaischen) Ritualen. Diese Zeiten sind vorbei. In der veränderten Lage muss die Lohn- und Tarifpolitik dezentraler agieren. Betriebliche Bündnisse für Arbeit gewinnen lohn- und tarifpolitisch an Bedeutung. Nur so kann der heterogenen Entwicklung, die der Strukturwandel noch beschleunigt, besser entsprochen werden. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände dürfte das nicht freuen. Sie verlieren an Bedeutung. Die Betriebsräte werden gewinnen.
Literatur:
Norbert Berthold, Marita Brischke und Oliver Stettes, Betriebliche Bündnisse für Arbeit. Eine empirische Untersuchung für den deutschen Maschinen- und Anlagebau. Würzburg 2003 (hier)
Norbert Berthold, Marita Brischke und Oliver Stettes, Betriebliche Bündnisse für Arbeit. Gratwanderung zwischen Tarifbruch und Tariftreue. Würzburg 2003 (hier)
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