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Die Europäische Zentralbank hat auf der letzten Ratssitzung mit einer Reihe von Maßnahmen auf die Corona-Krise reagiert, aber auf Leitzinssenkungen verzichtet. Darin unterscheidet sie sich vom Federal Reserve System und von der Bank of England, die beide im März ihre Leitzinsen beträchtlich abgesenkt haben. Die abwartende Haltung nährt den Verdacht, das Eurosystem habe inzwischen sein zinspolitisches „Pulver“ verschossen und sei aus verschiedenen Gründen zu weiteren Zinssenkungen nicht mehr imstande. Insbesondere wird befürchtet, die Eurozone sei mittlerweile in die Nähe der „Reversal Interest Rate“ gerückt, ab der eine akkommodierende Geldpolitik ihre Effekte umdreht und kontraktiv auf die Kreditvergabe wirkt. Darauf angesprochen hat EZB Präsidentin Christine Lagarde während der Pressekonferenz am 12.03. betont, die Eurozone befände sich „certainly not at the reversal rate“, weil „if we were at the reversal rate we would not see the growth of credit as I have described for you“ (Lagarde, de Guindos, 2020). Besteht also Grund zur Entwarnung?
Nullzinsgrenze und Bargeldsubstitution
Inzwischen sind die Leitzinsen in vielen Ländern an die Nullzinsgrenze oder darunter abgesunken, wie Tabelle 1 zeigt, wo Kredit- und Einlagenzinsen einiger Notenbanken aufgelistet sind. Üblicherweise werden die Schwierigkeiten für Notenbanken bei Erreichen der Nullzinsgrenze vor allem mit dem Argument begründet, dass Akteure bei negativen Habenzinsen auf die Bargeldhaltung ausweichen werden. Allerdings können Banken die negativen Einlagenzinsen bislang kaum an ihre (Firmen-)Kunden weiterreichen, die mit Abwanderung zu anderen Banken drohen (Hainz et al. 2017).
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Zudem ist auch die Bargeldhaltung nicht kostenlos und kann erhebliche Unannehmlichkeiten verursachen. Dies hat die NZZ einmal sehr anschaulich verdeutlicht mit der Frage, wie viele Kisten (in m3) es zur Lagerung von Bargeld im Wert von 1 Mrd. USD in alternativen Währungseinheiten braucht (Fuster, 2016). Das „Experiment“ verwendete die 2016 gültigen Wechselkurse und unterstellte, dass jeweils die Banknoten mit dem höchsten Nennwert (also auch die 500-Euro-Note) verwendet wurden.
Während sich der Platzbedarf in Schweizer Franken (1,5 Kisten) und in Euro (2,5 Kisten) noch in Grenzen hielt, war er für die Dänische Krone (etwas mehr als 8 Kisten), den US Dollar (10,5 Kisten), die Schwedische Krone (etwas mehr als 11 Kisten) beträchtlich und belief sich im Falle des Japanischen Yen sogar auf fast 15 Kisten. Bargeldhaltung ist zumindest für die zuletzt genannten Länder ein unvollständiges Substitut zur Depositenhaltung, sodass dort eine Bargeldsubstitution kaum ein Absinken der Marktzinsen in negative Territorien verhindern dürfte.
Für die Schweiz konnte die NZZ – mit Verweis auf eine vorherige Studie – die Zinsuntergrenze auch numerisch bestimmen, da der Platzbedarf für den Franken in etwa dem von Gold entsprach. Für Gold belaufen sich die jährlichen Lagerhaltungskosten auf ca. 0,2% des Wertes; hinzukommen Produktions- und Kommissionskosten in Höhe von 0,5%. Da Papier verderblicher als Edelmetall ist, entstehen zusätzliche spezifische Lagerhaltungskosten, wodurch sich eine effektive Zinsuntergrenze von -1,5 bis -2 % ergibt. Im Falle des Euros läge die Zinsuntergrenze tiefer, zumal die 500-Euro-Note inzwischen nicht mehr ausgegeben wird.
Konzept der „Reversal Interest Rate“
Das klingt nach Entwarnung. Allerdings zeigen Brunnermeier und Koby (2019) auf einen anderen Grund, warum Zinssenkungen nicht durchzusetzen sind. Sie stellen nicht auf das Verhalten der Geldnutzer ab, sondern verweisen auf die Auswirkungen von Negativzinsen auf Banken, deren Profite in der Vergangenheit nach Ankündigung der Negativzinspolitik schrumpften und deren Aktienkurse relativ zu andern Aktien sanken. Im Mittelpunkt der Hypothese steht ein als „Reversal Interest Rate“ (RIR) bezeichneter Zinssatz, bei dessen Unterschreiten die Banken ihre Kreditvergabe einschränken, um ihre Profitabilität zu sichern. Die RIR kann durchaus positiv sein und sich im Zeitverlauf verändern. Je höher sie ausfällt, desto ungünstiger sind die Möglichkeiten für die Geldpolitik, die Wirtschaft über Zinssenkungen anzukurbeln.
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Eine vereinfachte Geschäftsbankenbilanz soll die Intuition verdeutlichen (Abb. 1). Die betrachtete Bank hält zu Periodenbeginn auf der Aktivseite festverzinsliche Wertpapiere S und Darlehen L; sie finanziert sich durch Ausgaben von Depositen D und hält Eigenkapital E. Sinkt der Marktzins infolge der expansiven Geldpolitik, hat dies zwei gegenläufige Effekte auf den Nettovermögenswert der Bank zum Periodenende: Einerseits steigt der Kurswert der festverzinslichen Wertpapiere, wodurch der Vermögenswert der Bank zunimmt. Andererseits sinkt das „Net Interest Income“ (NII) der Bank, d.h. die Differenz aus Zinserträgen und Zinsaufwendungen aus dem Aktiv- und dem Einlagengeschäft. Dadurch nimmt das Nettovermögen der Bank ab, sofern sie konstant bleibende Dividenden ausschüttet.
Bei hinreichend starken Zinssenkungen überkompensiert der zweite Effekt den ersten Effekt und Nettovermögen der Bank nimmt ab. Dies zwingt bei strikten Eigenkapitalregulierungen die Bank zu einer Einschränkung ihrer Kreditvergabe, sofern es ihr nicht gelingt, neues Eigenkapital aufzunehmen. Der Marktzinssatz, bei dem dies passiert ist, die „Reversal Interest Rate“.
Determinanten der RIR
Deren Höhe hängt von verschieden Faktoren ab, wie der Anfangsausstattung der Bank an festverzinslichen Wertpapieren, dem Eigenkapitalbestand der Bank bzw. der Höhe der regulativen Eigenkapitalanforderungen, der Dividendenpolitik der Bank und der Dauer der Zinssenkung. Die Reversal Interest Rate ist umso höher
- je niedriger der Wertpapierbestand ist, weil damit die Kursgewinne und der Eigenkapitalzuwachs bei einer Zinssenkung niedrig ausfallen;
- je geringer die Eigenkapitalausstattung bzw. je höher die Eigenkapitalanforderung ist, weil die Bank aus regulatorischen Gründen eher ihre Kreditvergabe einschränken muss;
- je höher die Dividendenzahlungen sind, weil eine sinkende NII dann zu einer Reduktion des Nettovermögens führt;
- je länger die Zinssenkung anhält, weil es dann wahrscheinlicher ist es, dass die festverzinslichen Wertpapiere in der Bankbilanz auslaufen und damit die Kursgewinne entfallen, was die RIR im Zeitablauf steigen lässt.
Bei hoher RIR sinken die Möglichkeiten der Geldpolitik, expansiv auf die Kreditvergabe einzuwirken.
Dies bedeutet auch, dass die RIR von Land zu Land unterschiedlich sein kann und vom Geschäftsmodell der ansässigen Banken abhängt. Sie wird eher niedrig sein in Ländern, wo (wie in Deutschland) Universalbanken dominieren (die neben dem Kredit- auch das Wertpapiergeschäft betreiben) oder deren Banken (wie in Schweden) ausreichend kapitalisiert sind. In solchen Ländern besteht ein größeres geldpolitisches Zinssenkungspotenzial. Umgekehrt steigt die RIR an, sofern die Zentralbank forward guidance betreibt und eine lang anhaltende Leitzinssenkung herbeiführt. Weil eine Politik der quantitativen Lockerung (QE) den Bestand an festverzinslichen Wertpapieren in der Bilanz der Geschäftsbank verringert, erhöht sie die Reversal Interest Rate, sodass mit einer QE-Politik erst begonnen werden sollte, nachdem alle Zinssenkungspotenziale ausgenutzt worden sind.
Brunnermeier und Koby (2019) kalibrieren ihr Modell für die USA und für die Eurozone und schätzen die Höhe der Reversal Interest Rate auf jeweils -1%. Damit bestünde weiterhin ein Zinssenkungsspielraum, der allerdings nicht zu üppig ausfällt, zieht man beispielsweise in Betracht, dass die US Fed am 15. März den Leitzins gleich um 100 Basispunkte gesenkt hat. Rostagno et al. (2019) weisen allerdings darauf hin, dass Bankgewinne nicht nur aus dem Zinsgeschäft, sondern auch aus anderen Geschäftsfelder resultieren. Weil diese prosperieren, ist in der Eurozone die Eigenkapitalrendite der Banken seit Eintritt in die Negativzinsphase sogar gestiegen, was Folge sinkender Rückstellungen für Kreditverluste und wachsender „sonstiger Erträge“ ist. Die Autoren simulieren die Auswirkungen auf die Kreditvergabe für den Fall, dass der Einlagezinssatz auf -1% abgesenkt wird, und finden keine Evidenz für eine sinkende Fähigkeit der Banken, Kredite zu schaffen. Allerdings weisen sie darauf hin, dass ihre Ergebnisse vom Auftreten negativer Schocks abstrahieren, die ein Zinssenkung gerade erforderlich machen.
Fazit
Auch wenn wir derzeit nicht genau wissen, „how low we can go“, legen die vorstehenden Überlegungen legen nahe, dass ein Absenken des Leitzinses unter die Nullzinsgrenze eine Reise in unerforschte Territorien bedeutet, weil immer noch unklar ist, ab welchem Zinssatz es zu unerwünschte Reaktionen des Kreditangebots kommt. Wahrscheinlich ist, dass die effektive Zinsuntergrenze eher nicht durch die Bargeldsubstitution der Nichtbanken bestimmt wird; insofern ist es aus geldpolitischen Gründen weder notwendig noch hinreichend, das Bargeld abzuschaffen. Die Überlegungen zur RIR zeigen zudem, dass das Zinssenkungspotenzial in einer Volkswirtschaft von den Charakteristika des Bankensektors und damit von einer Fülle von Faktoren abhängt, die sich sehr schnell ändern können. Dennoch steht zu befürchten, dass das Eurosystem nicht mehr viel Spielraum hat, um auf die aktuelle Krise zu reagieren. Insofern rächt sich, dass die EZB nicht – anders als beispielsweise die US Fed – die letzten Jahre nicht zu moderaten Zinssteigerungen genutzt hat.
Literatur
Brunnermeier, M., Koby, Y. (2019), The Reversal Interest Rate, NBER WP Series, No 25406, Cambridge/Mass.
Fuster, T. (2016), Geld – in Kisten vermessen, in: NZZ vom 04.02.2016, https://www.nzz.ch/wirtschaft/wirtschaftspolitik/negativzinsen-und-bargeld-geld-in-kisten-vermessen-ld.4911.
Hainz, C., Marjenko, A., Wildgruber, S. (2017), How the ECB’s Low-Interest Policy Impacts Firms: Results of the ifo Business Survey on the Effects of Negative Interest Rates for Bank Deposits, in: CESifo-Forum, Vol. 18, S. 21-24.
Lagarde, C., de Guindos, L. (2020), Introductory Statement to the Press Conference (with Q&A), Frankfurt am Main, 12 March 2020.
Rostagno, M., et al. (2019), A Tale of Decades: The ECB`s Monetary Policy at 20, ECB Working Paper Series, Frankfurt/M.
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