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Anhand der Entwicklung der Neuinfizierten entscheidet die Politik über eine Verschärfung oder Lockerung der Quarantäne-Maßnahmen. Insofern kommt ihnen eine überragende Bedeutung zu, denn jede Woche Stillstand kosten die deutsche Wirtschaft Milliarden Euro. Allerdings erfüllen diese Daten kaum die üblichen statistischen Anforderungen. Sie sind daher bestenfalls als grobes Schätzeisen zu verwenden.
Jeden Tag gibt das Robert Koch Institut (RKI) die Zahlen zu den in Deutschland positiv getesteten Corona-Infizierten bekannt.1) Der Fokus der Berichterstattung liegt dabei auf der Zahl der Neuinfizierten und deren Veränderung zum Vortag. Steigende Fallzahlen werden als Beweis für eine weitere Ausbreitung des Virus angeführt. Doch dies wäre nur dann der Fall, wenn die Fallzahlen den statistischen Anforderungen gerecht würden, was sie nicht tun.
(1) Markantes Wochenprofil
Die Neuinfektionen weisen ein markantes Wochenprofil auf. Sonntags sind sie am niedrigsten, Donnerstag und Freitag am höchsten (Abbildung 1). Das könnte daran liegt, dass viele der am Wochenende erkrankten Personen erst montags zum Arzt gehen. Möglich ist aber auch, dass die Testlabore und Gesundheitsämter am Wochenende nur eingeschränkt arbeiten.
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Es hat folglich keinen Sinn, die Neuinfektionen gegenüber Vortag zu vergleichen. Aussagekräftig ist in diesem Fall allein der Vergleich gegenüber dem selben Tag in der Vorwoche oder der 7-Tage Durchschnitt. Letzterer ist in den vergangenen Tage nur noch wenig gestiegen (Abbildung 2).
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(2) Langer Nachlauf
Die täglich gemeldeten Fallzahlen beziehen sich auf Infektionen, die weit in der Vergangenheit stattgefunden haben. Im Mittel treten erst nach 5-6 Tagen Symptome auf. Danach vergehen weitere ein bis zwei Tage, bevor die Erkrankten zum Arzt gehen. Bis die Überweisung angekommen ist und der Test durchgeführt wird, vergehen weitere 2 bis 3 Tage. Und damit nicht genug. Gezählt werden die Fälle erst, wenn sie beim RKI gemeldet werden. Das kann ein bis mehrere Tage dauern (Grafik, gelbe Balken). Die aktuelle Zahl der Neuinfizierten misst folglich die Infektionen, die vor zwei bis drei Wochen stattgefunden haben.
(3) Testumfang wird stetig erhöht
Die Tests auf den Corona-Virus sind statisch betrachtet eine Stichprobe. Diese werden erhoben, um Rückschlüsse auf die Verhältnisse in der Grundgesamtheit abzuleiten, aus der sie gezogen wurde. Eines der bekanntesten Beispiele sind die regelmäßig durchgeführten Wahlumfragen. Dabei ist aus statistischer Sicht ein variierender Stichprobenumfang kein Problem. Sofern der Stichprobenumfang eine bestimmte Größe nicht unterscheitet, kann man weiter auf die Verhältnisse in der Grundgesamtheit schließen. Dies gilt aber nur in Hinblick auf den Anteil bzw. die auf die gesamte Bevölkerung hochgerechnete Zahl der Infizierten.
Die öffentliche Berichterstattung konzentriert sich aber auf die Zahl der positiv Getesteten, die natürlich entscheidend vom Umfang der Test bestimmt wird. Wird die Zahl der wöchentlichen Tests von 350.000 auf 500.000 erhöht, dann dürfte es auch mehr positive Fälle geben. Oder um es am Beispiel der Wahlumfragen zu verdeutlichen: Wenn man statt 1000 auf einmal 2000 Wahlberechtigte befragt, wird man auch mehr Anhänger der CDU finden, ohne dass deren Anteil an der Gesamtbevölkerung zugenommen haben muss.
(4) Keine zufällige Stichprobe, …
Aus statistischer Sicht ist auch die Art und Weise wichtig, wie die Stichproben ausgewählt werden. Die verlässlichsten Informationen über die Ausbreitung des Virus bekäme man, wenn man jede Woche zufällig eine bestimmte Anzahl an Personen testen würde. Der Stichprobenumfang müsste dabei mit einer sechsstelligen Zahl deutlich größer sein als bei Wahlumfragen (rund 1000), weil der Anteil der Infizierten an der Gesamtbevölkerung sehr klein ist. So reicht auch der Stichprobenumfang bei Wahlbefragungen nicht aus, um Aussagen zu Splitterparteien zu treffen.
Angesichts der beschränkten Testkapazitäten ist diese Vorgehensweise zur Zeit nicht möglich. Aus medizinischer Sicht kommt es derzeit vor allem darauf an, die Corona-Infizierten zu identifizieren. So werden derzeit nur Personen mit Symptomen, Personen, die Kontakt mit einer infizierten Person hatten, und das medizinische Personal getestet. Insofern lassen die Zahlen keine Rückschluss auf die Verbreitung Virus in der Bevölkerung zu. Aber ein steigender Anteil positiver Test, wäre ein Indiz dafür, dass sich das Corona-Virus in dieser Testgruppe ausbreitet. Um bei dem Beispiel der Wahlumfragen zu bleiben: Würden die Wahlforscher nur Personen befragen, die einen Schnupfen haben, könnte man daraus nicht mehr auf den Wahlausgang schließen. Aber eine Veränderung der Anteil der einzelnen Parteien würde zeigen, welche gerade an Zustimmung gewinnt oder verliert.
(5) … deren Kriterien sich auch noch ändern
Nun kommt aber noch hinzu, dass sich die Kriterien ändern, nach denen getestet wird. So werden auch immer mehr über 60-jährige Personen getestet, selbst wenn es keinen konkreten Verdacht gibt. Es wäre also so, dass bei der Wahlbefragung plötzlich nicht nur Personen mit Schnupfen, sondern auch Personen mit Allergien befragt würden. Unterscheidet sich das Wahlverhalten zwischen beiden Gruppen, wäre der Vergleich mit der vorangegangenen Stichprobe verzerrt. Bei einer Ausweitung der Test auf eine Risikogruppe ist dies sicherlich der Fall.
Fallende Neuinfektionen wären positiv, …
Die genannten Probleme schränken die Vergleichbarkeit der Daten zu den Neuinfektionen im Zeitablauf erheblich ein. Die aktuelle Zahl gibt nur einen groben Anhaltspunkt, wie die Situation vor zwei bis drei Wochen war. Dies bedeutet, dass wir im Idealfall erst Mitte April wissen, ob die Kontaktsperre in Deutschland wirkt. Fallen die gemeldeten Neuinfektionen bis dahin, wäre dies sicherlich ein Indiz dafür.
… leicht steigende aber nicht unbedingt negativ
Möglich ist aber auch, dass die angestrebte Ausweitung der Test dazu führt, dass die Zahl der Neuinfizierten bis dahin gar nicht sinkt, selbst wenn die Quarantäne-Maßnahmen wirken. Dies hätte zur Konsequenz, dass der wirtschaftliche Stillstand länger als nötig andauern würde.
Aussagekräftiger wäre es, die tägliche Zahl der neu stationär aufgenommenen Corona-Patienten zu betrachten. Eine sinkende/steigende Zahl würde zeigen, dass sich das Virus vor ein bis zwei Wochen langsamer/stärker ausgebreitet hat.
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1) Neben den Zahlen des Robert Koch Institut werden in der Presse auch die Zahl der Johns Hopkins Universität genutzt. Diese Zahl wird aus einer Vielzahl öffentlicher Quellen ermittelt, die ungeprüft übernommen werden. Sie umfasst auch Verdachtsfälle, die nicht laborbestätigt sind.
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