Die Bundesregierung und die EU haben bei der Bestellung von Impfstoffen vermutlich Fehler gemacht. Es wurden durch die EU relativ geringe Mengen bei Biontech bestellt, um auch Sanofi im Spiel zu halten, den französischen Anbieter, dessen Entwicklungsprozess besonders langsam abläuft.
Die Bundesregierung hat ihrerseits Chancen verpasst, auf die Entwicklung in Brüssel zu reagieren. So hätte sie eine selbst verantwortete Notfallzulassung auf nationaler Ebene initiieren können, ebenso hätte sie selbst zusätzlichen Impfstoff bestellen können. So kam es, dass Länder wie die USA und Israel, aber auch das Vereinigte Königreich früher mit den Impfungen beginnen konnten und ihre Bevölkerung auch schneller versorgen. Die EU sieht im Vergleich nicht gut aus, die Bundesrepublik auch nicht.
Nun werden Sündenböcke gesucht. Auf der linken Seite des politischen Spektrums werden die Ursachen der Probleme bereits auf den Schutz intellektuellen Eigentums geschoben. Würde man die für die Impfstoffproduktion relevanten Patente zwangsvergesellschaften, so heißt es, dann könne man den Impfstoff viel schneller und in viel größeren Mengen produzieren.
Dieses Argument überzeugt aber nicht. Anzeichen für eine strategische Verknappung des Impfstoffs durch die Hersteller sind nicht zu beobachten. Im Gegenteil sind diese alle dabei, ihre Produktionskapazitäten auszuweiten, um ihren vertraglichen Lieferverpflichtungen schnell nachkommen zu können. Dass dies einige Zeit dauert, liegt in der Natur der Sache. Hier werden keine Würstchenbuden gebaut, sondern hoch komplexe Produktionsanlagen für völlig neue Impfstofftypen. Das geht nicht über Nacht. Es geht aber dennoch erstaunlich schnell – so wird etwa eine neue Produktionsanlage von Biontech in Marburg bereits zu Beginn des Jahres 2021 ihren Betrieb aufnehmen.
Warum sind die Produzenten so engagiert? Man sollte nicht ignorieren, dass im Markt für den Corona-Impfstoff durchaus ein lebendiger Wettbewerb herrscht. Zwar ist die Produktion der kommenden Monate durch bereits geschlossene Verträge schon verkauft und die Preise sind fixiert, aber die verschiedenen Hersteller mit ihren unterschiedlichen Impfstoffen stehen auch im Wettbewerb um den Rest der Welt und um die routinemäßigen Auffrischungsimpfungen, die später folgen werden.
Dies gibt ihnen einen Anreiz, ihre vertraglich bereits fixierten Verpflichtungen schnell zu bedienen. Dieser Anreiz wird dadurch verstärkt, dass die unterschiedlichen Impfstoffe unterschiedliche Eigenschaften haben. Das in Oxford entwickelte Produkt, das erst in einigen Wochen auf den Markt kommen wird, zeichnet sich beispielsweise durch eine leichtere Handhabbarkeit aus (es muss nicht so stark gekühlt werden), ist preiswerter als das von Biontech, aber ebenfalls hoch wirksam. Im Gegensatz zu früheren Einschätzungen ist hier inzwischen erfreulicherweise auch von einer Wirksamkeit von mindestens 90% die Rede.
Ein Anbieter wie Biontech hat also erhebliche Anreize, schnell große Mengen abzusetzen. Gäbe es freie Kapazitäten, oder hätten andere Pharmaunternehmen die Möglichkeit, solche Kapazitäten schnell aufzubauen, so hätte Biontech selbst einen Anreiz, Lizenzen zur Produktion an diese Unternehmen zu verkaufen. Allein, es scheint diese Möglichkeiten nicht zu geben. Der Kapazitätsaufbau bleibt komplex und braucht eine gewisse Zeit.
In einem aktuellen Gastbeitrag für den SPIEGEL plädieren Moritz Schularick und Gustav Oertzen für eine „Kriegswirtschaft“ bei der Impfstoffproduktion. Auch hier ist von der Möglichkeit der Zwangslizenzen die Rede, die es dem Staat erlauben würde, selbst eigene Produktionskapazitäten aufzubauen. Alternativ könne der Staat einen hohen Zuschuss – die Rede ist von relativ willkürlich gegriffenen 2,5 Milliarden Euro – an die Hersteller transferieren, damit diese noch schneller noch mehr Kapazitäten aufbauen. Das Ziel der Kriegswirtschaft müsse es sein, in einem halben Jahr die ganze Welt geimpft zu haben.
Dahinter steckt das Argument, dass die Hersteller selbst keinen Anreiz haben, ihre Produktionskapazitäten derart massiv auszubauen, da sie nach dem Ende der Impfkampagne keine Verwendung für diese mehr hätten. Denn für die routinemäßige Produktion von Auffrischungsimpfungen sind dann wesentlich geringere Kapazitäten nötig als für die Herkulesaufgabe, in nur einem halben Jahr gut 15 Milliarden Impfdosen (zwei Stück pro Mensch) herzustellen.
An diesem Argument ist etwas dran. Der neu aufgebaute Kapitalstock könnte tatsächlich so spezifisch sein, dass er für andere Produkte nicht eingesetzt werden kann. Aber ganz genau wissen wir dies nicht, denn immerhin sind die neuen mRNA-Impfstoffe eine ganz neue Impfstoffklasse und es gibt die Hoffnung, dass diese bald auch für andere Krankheiten einsetzbar ist.
In jedem Fall wäre aber das Vorgehen über eine Zwangslizensierung unsinnig und gefährlich. Die Anreize, bei zukünftigen Pandemien massiv Ressourcen in die Forschung zu investieren, würden für die Unternehmen stark zurückgehen. Und vielleicht nicht nur bei Pandemien. Unternehmen, die damit rechnen müssen, dass ihre Eigentumsrechte an sehr spezifischen Investitionen nicht mehr sicher sind, werden misstrauisch und zurückhaltend. Dieses Problem sehen auch Schularick und Oertzen.
Wenn man also tatsächlich eine hohe gesellschaftliche Zahlungsbereitschaft für den Kapazitätsaufbau sieht, die in den bisher vereinbarten Lieferverträgen nicht enthalten ist, dann muss man den Aufbau von Produktionskapazitäten finanziell unterstützen. Tatsächlich ist dies nichts neues. Die 375 Millionen Euro, die Biontech bereits in diesem Jahr erhalten hat, dienten nicht etwa der eigentlichen Entwicklung des Impfstoffs, wie Anhänger der These des „unternehmerischen Staates“ gerne behaupten, sondern lediglich dem schnellen Aufbau von Test- und Produktionskapazitäten.
Problematisch erscheint aber die Vorstellung, dies in Dimensionen einer „Kriegswirtschaft“ tun zu können, die quasi-planwirtschaftlich gewaltige Ressourcen (wir erinnern uns: 15 Milliarden Dosen in einem halben Jahr) in die Produktion von Impfstoffen lenken soll. Um sich das klar zu machen, muss man aber wohl einmal den Blick von abstrakten Finanzströmen, die man mobilisieren könnte, zu realen Ressourcen lenken.
Man braucht Facharbeiter, Ingenieure, Pharmazeuten, Rohstoffe, Maschinen und vieles mehr, das nicht auf den Bäumen wächst und in sehr kurzer Zeit auch nicht beliebig vermehrbar ist. In der Welt der realen Ressourcen würde eine „Kriegswirtschaft“ anstelle eines geordneten Kapazitätsaufbaus unweigerlich dazu führen, dass all diese Ressourcen irgendwo anders fehlen werden. Auf die Produktion welcher anderen Medikamente und die Behandlung welcher anderen Krankheiten wollen wir also verzichten? Auch über solche realen Opportunitätskosten sollten Verfechter der „Kriegswirtschaft“ ehrlicherweise reden.
Man kann also über begrenzte finanzielle Unterstützung eines Kapazitätsaufbaus aus den oben genannten Gründen sicher sprechen. Der sinnvollste Weg, dies zu tun, wären aber vermutlich Preisanreize: Die unterstellte hohe gesellschaftliche Zahlungsbereitschaft für schnellere Lieferungen müsste sich in höheren Stückpreisen pro Impfdosis widerspiegeln, die vor einem vertraglich vereinbarten Termin geliefert wird. Das wäre problemlos zwischen den bestellenden Staaten und den Unternehmen festzuhalten und von allen Lösungen wohl mit den geringsten Verzerrungen verbunden.
Die Metapher der „Kriegswirtschaft“ und der Glaube, es sei effizient, planwirtschaftlich nun beliebige Ressourcen in eine Richtung zu lenken, sind dagegen hoch problematisch. Hier wird nicht nur die Fähigkeit des Staates überschätzt, Investitionen effizient zu lenken, sondern es fallen vor allem die realen Opportunitätskosten und schweren Nachwirkungen unter den Tisch, die mit echten kriegswirtschaftlichen Phasen in der Wirtschaftsgeschichte immer verbunden waren.
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