Der erste Satz der ad-hoc Empfehlung des Deutschen Ethikrates „Besondere Regeln für Geimpfte?“ vom 04.02.2021 lautet:
„Spätestens seit Beginn des Impfprogramms wird auch in der breiteren Öffentlichkeit kontrovers diskutiert, ob eine Impfung gegen Covid-19 zu besonderen Regeln für geimpfte Personen führen dürfe oder sogar müsse.“
Nach ziemlich viel Zwischentext lesen wird dann als letzten Satz der ad-hoc Empfehlung:
„Nur soweit der Zugang zu Angeboten privater Anbieter für eine prinzipiell gleichberechtigte, basale gesellschaftliche Teilhabe unerlässlich ist, ist eine Beschränkung des Zugangs auf geimpfte Personen nicht zu rechtfertigen.“
Formuliert man den letzten Satz um, so wird die Sache transparenter:
- Eine privatvertragliche „Beschränkung des Zugangs auf geimpfte Personen“ ist grundsätzlich erlaubt;
- Die Vertragsfreiheit darf ausnahmsweise eingeschränkt werden, um zu verhindern, dass „der Zugang zu Angeboten privater Anbieter“, die „für eine prinzipiell gleichberechtigte, basale gesellschaftliche Teilhabe unerlässlich“ sind, nicht gewährleistet ist.
Die Vorsitzende des Ethikrates nutzte in einem längeren Fernsehinterview zur Erläuterung sinngemäß das Beispiel eines lokalen Transportmonopols: Nach Prinzip (a.) darf sich ein privater Busunternehmer zwar – im Gegensatz etwa zur Bundesbahn – grundsätzlich frei aussuchen, wen er befördern will; hat er jedoch in einer Region ein lokales Beförderungsmonopol, dann darf er nach Bedingung (b.) öffentlich-rechtlich dazu verpflichtet werden, Personen zu befördern, soweit dies für „gleichberechtigte, basale gesellschaftliche Teilhabe unerlässlich“ ist.
Denkt man an Restaurant- und Konzertbesuche oder auch Urlaubsreisen, dann ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass die Bedingung (b.) greift. Dass etwa private Restaurants oder Bars den Zugang an den Nachweis einer Impfung knüpfen und Konzert- und Reiseveranstalter Leistungen exklusiv nur für Geimpfte anbieten, sollte daher nach Bedingung (a.) erlaubt sein. Ebenso selbstverständlich scheint es, dass Nachfrager solcher privater Leistungen rechtlich ermächtigt und de facto in der Lage sind, sich Anbieter auszusuchen, deren Zugangsbedingungen ihren eigenen Ansprüchen entsprechen.
Da im freiheitlichen Rechtsstaat die private Vertragsfreiheit und damit auch die Bedingung (a.) Selbstverständlichkeiten sind, muss es irritieren, dass der Ethikrat den zuvor zitierten Satz „diplomatisch“ von den Einschränkungen der Vertragsfreiheit her formuliert. Verantwortliche Politiker wie die Justizministerin Frau Lamprecht mit Flankenschutz vom frühere Justizminister Heiko Maas waren klarer, als sie in der Tradition der „Partei des Rechtsstaates“ öffentlich und durchaus nicht zur Freude aller ihrer Parteifreunde an die Vertragsfreiheit im Sinne der Bedingung (a.) erinnerten.
Eingriffe in die Vertragsfreiheit müssen im freiheitlichen Rechtsstaat durch übergeordnete Schutzzwecke gerechtfertigt und im Rahmen der Verhältnismäßigkeit vollzogen werden. Zudem müssen sie aber auch geeignet und erforderlich sein, um die Schutzzwecke zu erfüllen. Dass in die für alle gleichen grundlegenden Rechte gleichermaßen eingegriffen werden muss, ist nur insoweit zwingend, wie die Gleichheit des Eingriffs erforderlich und geeignet ist, das Schutzziel zu erreichen — die Gleichheit der Einschränkung ist hier Mittel zu Zwecken und gerade nicht selbst überwiegender rechtlicher Zweck.
Konkret auf Covid-19 Regeln bezogen, soweit es nicht erforderlich ist, die gleichen Rechte aller gleichermaßen einzuschränken, um den Schutzzweck der Pandemie-Bekämpfung zu erreichen, sondern dieser Zweck ebenso realisiert werden kann, wenn man die Rechte bestimmter Personen unangetastet lässt, ist der ausnahmslose Eingriff grundsätzlich nicht gerechtfertigt. Mit anderen Worten, für Personenkreise, für die die Erforderlichkeit und/oder Eignung der Grundrechtseingriffe nicht gegeben ist, entbehren die Eingriffe in grundlegende Rechte der rechtlichen Rechtfertigung selbst dann, wenn die Eignung und Erforderlichkeit für andere Personenkreise (fort) besteht.
Zusammenfassend scheint rein rechtlich betrachtet klar, dass Covid-19 bedingte Eingriffe in an sich fortbestehende gleiche Rechte zwar ausnahmsweise gerechtfertigt sein können; aber zugleich ist es grundrechtlich nicht geboten, dass ausnahmslos eingegriffen werden muss. Das Gegenteil ist der Fall: weil die Rechtseinschränkung auf das erforderliche Maß beschränkt werden muss, folgt, dass in Fällen, in denen die Einschränkung für bestimmte Gruppen zur Erzielung des Schutzzweckes nicht erforderlich ist, es auch nicht gerechtfertigt werden kann, überhaupt eine Ausnahme vom generellen Schutz der ursprünglichen Rechte für die betreffende Personengruppe vorzunehmen.
Alle Covid-19 bedingten, sind besondere Regeln, indem sie sämtlich ausnahmsweise vom freiheitlich-rechtsstaatlichen Status quo unter besonderen Bedingungen abweichen. Sie bilden sämtlich „Ausnahme-Regelungen“ die die grundgesetzlich fortbestehenden Bürgerrechte des freiheitlichen Rechtsstaates wie insbesondere Vertragsfreiheit, Versammlungsfreiheit etc. temporär suspendieren. Wenn die Gründe für die Ausnahmen für bestimmte Gruppen nicht (oder nicht mehr) bestehen, dann handelt es sich im Gegensatz zu dem, was der oben zitierte verquaste letzte Satz der ad-hoc Empfehlung des Ethikrates suggeriert, nicht um „Ausnahmen von der Ausnahme“, sondern darum, dass die selbst „besondere“ Ausnahme-Regel nicht (oder nicht mehr) berechtigt ist.
Wenn der Ethikrat in seinem letzten Satz die Aufhebung der Ausnahme als begründungsbedürftige Ausnahme von der Ausnahme darstellen will, dann nährt das den Verdacht, dass es jedenfalls einigen Mitgliedern entweder an rechtlichem/rechtsstaatlichem Verständnis fehlt oder dass sie aus ihrer ethischen Sicht das freiheitlich-rechtliche Prinzip der Vertragsfreiheit ablehnen. Das letztere steht ihnen natürlich persönlich frei, aber es sollte klar sein, dass diese Ablehnung weder wissenschaftlich noch positiv rechtlich begründet werden kann.
Wissenschaftlich ist an den Empfehlungen des Ethikrates nur die Auskunft über Tatsachen sowie gesetzesartige Zusammenhänge, wie sie in Natur- und Sozialwissenschaften evidenz-basiert untersucht werden. In Kenntnis dieser Zusammenhänge kann man wissenschaftlich beschreiben, welche Folgen es mit welcher Wahrscheinlichkeit haben wird, wenn man die Ausgangsbedingungen bestimmter gesetzesartiger Bedingungen durch Interventionen erfüllt. Dazu sagt die ad hoc Empfehlung zwar einiges, doch mit einem unangemessen parteiischen Fokus auf die je eigenen persönlichen Wertüberzeugungen von Mitgliedern des Gremiums.
Soweit es über technologische Beratung hinaus zielt, ist das übliche Gerede von der wissenschaftlichen Politikberatung ohnehin systematisch irreführend. Eine Beratung, die sich nicht auf Technologien beschränkt, tendiert dazu übergriffig zu werden und das gilt auch für die an sich argumentativ durchaus niveauvollen Betrachtungen des Ethikrates. Besser wäre es für seine wissenschaftliche Glaubwürdigkeit, wenn der Ethikrat beim technologischen Leisten bliebe. Wenn die Mitglieder mehr von Hans Albert, der am 8. Februar 2021 seinen einhundersten Geburtstag feierte, läsen, könnte eher ein wissenschaftlich seriöser Schuh aus ihren Verlautbarungen werden. Der Ethikrat könnte ein paar methodologisch polierte Schuhe jedenfalls ganz gut gebrauchen, wenn er wissenschaftlich glaubwürdig herumlaufen will. Aber dies würde vielen seiner Mitglieder nicht passen. Schade!
Referenzen
Albert, Hans. Traktat über Kritische Vernunft. Tübingen 1968.
Hartmut Kliemt, Onkel Doktor spricht über Covid-19
- Zum 13. August
„Nie wieder Krieg, es sei denn, es geht gegen Sachsen!“ - 13. August 2024 - Widerspruchslösung in der Organentnahme
„Für und Wider“ - 16. Juni 2024 - Das Grundgesetz
Keuschheitsgürtel der Demokratie - 23. Mai 2024
Ganz ähnlich aber etwas weniger dröge, wie ich leider erst jetzt sehe, ist:
https://verfassungsblog.de/gleiche-unfreiheit/
Ist „Wissenschaft“ und „Ethikrat“ kein Widerspruch in sich?
Cool! Joe Cool you got the message! Normative Ethik als Wissenschaft ist, eine contradictio in adiecto … insoweit in guter, schlechter Gesellschaft — jedenfalls wenn man Nietzsches Bemerkung folgt, mit der er das nämliche über den Deutschen Geist sagte.