Gastbeitrag
EZB – der natürliche Zins ist ein Irrlicht

Die EZB begründet ihre lockere Geldpolitik weiterhin mit einem sehr niedrigen bzw. sogar negativen realen Gleichgewichtszins. Bereits 2016 hatten wir vor den großen Problemen bei der Schätzung dieses Zinses gewarnt. Unsere Skepsis sehen wir bestätigt, denn in den letzten Jahren wurden empirische Schätzungen kontinuierlich revidiert – und zwar nach oben. Wir befürchten, dass die EZB auch wegen zweifelhafter Annahmen für den Gleichgewichtszins zu zögerlich und zu spät aus der expansiven Geldpolitik aussteigt.

In der zweiten Märzhälfte hatte EZB-Ratsmitglied Holzmann in einem Interview betont, solange der Gleichgewichtszinssatz unter null liege, würde eine zu frühe Zinserhöhung die Wirtschaft im Euroraum schwächen.

Der Verweis auf diesen Zins, der auch als „neutraler“ bzw. „natürlicher“ Zins bezeichnet wird, ist keineswegs ungewöhnlich. Die EZB bezieht sich immer wieder auf ihn. Er ist definiert als der Realzins, der mit Preisstabilität konsistent ist und bei dem das Bruttoinlandsprodukt mit dem Produktionspotenzial übereinstimmt. Nur bei Realzinsen unterhalb des Gleichgewichtzinses wirkt die Geldpolitik diesem Konzept zufolge expansiv.

Holzmanns Aussage hat uns aus zwei Gründen aufhorchen lassen. Erstens gilt Holzmann als einer der wenigen Falken im EZB-Rat. Insofern erscheint sein Eintreten für eine sehr expansive Geldpolitik bemerkenswerter, als wenn diese Aussage von einer der zahlreichen Tauben im Rat gekommen wäre.

Natürlicher Zins doch nicht negativ?
Der zweite – wichtigere – Grund resultiert daraus, dass wir bereits 2016 in einem Economic Insight vor den großen Problemen bei der Schätzung dieses Zinses gewarnt hatten und unsere Skepsis in den letzten Quartalen noch einmal zugenommen hat.

Gerade wegen unseres Missrauens verfolgen wir die verfügbaren empirischen Schätzungen zum natürlichen Zins aufmerksam. Am besten dokumentiert sind die Schätzungen auf Basis eines Modells von Holston, Laubach und Williams (HLW). Die Schätzergebnisse für den natürlichen Zins werden für vier Länder – USA, Kanada, Euroraum, Großbritannien – veröffentlicht und kontinuierlich mehrmals im Jahr aktualisiert. Tatsächlich lagen die Schätzungen aus den Jahren 2015 bis 2018 für den natürlichen Zins im Euroraum ab etwa 2013 unter der Nulllinie. Aber sie wurden im Laufe der Zeit Stück für Stück nach oben revidiert. In der letzten Schätzung von August 2020 – letzter Datenpunkt Q2-2020 – lag der natürliche Zins niemals unter null (Abbildung 1; aufgrund der zunehmend unzuverlässigen Datenlage infolge der Corona-Pandemie hat die New York Fed seitdem auf Aktualisierungen verzichtet.).

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Zumindest die aktuellen Schätzungen dieses Modells stehen also im Widerspruch zu der Aussage Holzmanns, der natürliche Zins für den Euroraum falle fortwährend negativ aus. Folglich wächst auch die Gefahr, dass sich die EZB-Geldpolitik an einer falschen Messlatte orientiert.

Alles sehr unsicher
Über die genaue Ursache für die Aufwärtsrevision der Schätzung für den natürlichen Zins lässt sich nur spekulieren. Grafik 2 zeigt die Schätzung für den Zins für das erste Quartal 2015 zu verschiedenen Schätzzeitpunkten. Es zeigt sich, dass die Schätzungen mehrheitlich, aber nicht ausschließlich nach oben revidiert wurden, und das auch das Ausmaß der Revision von Quartal zu Quartal schwankte.

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Es ist also wenig wahrscheinlich, dass die Revisionen auf eine grundlegende Überarbeitung des Modells zurückzuführen ist. Diese ist uns auch nicht bekannt. Die wichtigste Änderung einer Schätzung von Quartal zu Quartal ist, dass neue Daten am aktuellen Rand hinzukommen, und zurückliegende Daten möglicherweise revidiert werden. Offenbar führen also schon geringe Änderungen im Datensatz zu erkennbaren Änderungen beim geschätzten natürlichen Zins.

Zu einem ähnlichen Ergebnis waren 2016 Robert Beyer und Volker Wieland in einer empirischen Untersuchung gekommen. Sie zeigen anhand einer Sensitivitätsanalyse, dass die Schätzungen mit der Laubach-Williams-Methode wenig robust sind. Relativ kleine Änderungen bei den Annahmen für die ökonometrische Spezifikation oder bei den verwendeten Datenreihen führen zu ökonomisch relevanten Änderungen der Schätzwerte in der Größenordnung von 1 Prozentpunkt oder darüber.

Wie unzuverlässig die Schätzung für den natürlichen Zins ist, zeigt sich auch daran, dass die Schätzunsicherheit gerade im Fall des Euroraums sehr hoch ausfällt. Der sogenannte Standardfehler liegt über 3 und fällt damit etwa dreimal so hoch aus wie bei den HLW-Schätzungen des natürlichen Zinses für die USA und Kanada. Der „wahre“ natürliche Zins im Euroraum liegt also mit einer Wahrscheinlichkeit von 95% im Intervall von +/- 6 Prozentpunkten um den in Grafik 1 wiedergegebenen Schätzwert. Am aktuellen Rand ist die Schätzunsicherheit sogar noch größer: Der natürliche Zins dürfte in einem Intervall zwischen -8½% und +9½% liegen. Die Spanne ist groß genug, „um eine Wagenladung mit Ökonomen hindurchzufahren“, wie das Wall Street Journal im September 2016 in einem Kommentar zu Modellen zum natürlichen Zins erklärte.

Vorsicht, dünnes Eis!
Uns erscheint eine Orientierung am natürlichen Zins aus mehreren Gründen gefährlich.

Unterschätzt die EZB das tatsächliche Niveau des natürlichen Zinses, so steigt natürlich die Wahrscheinlichkeit, dass sie zu zögerlich und zu spät aus der expansiven Geldpolitik aussteigt.

Darüber hinaus ist der natürliche Zins derzeit wohl noch wichtiger als sonst, weil die EZB in diesem Jahr die Überprüfung ihrer geldpolitischen Strategie abschließen wird und der Gleichgewichtszins dabei eine wichtige Rolle spielt. Die Notenbank argumentiert, aufgrund des negativen Gleichgewichtszinses gebe es in der konventionellen Geldpolitik weniger Spielraum, die Wirtschaft zu stabilisieren. Deswegen seien unkonventionelle Instrumente wie die wegen ihrer Nähe zur monetären Staatsfinanzierung umstrittenen Staatsanleihenkäufe unverzichtbar.

Uns erscheint es dagegen unverzichtbar, dass die EZB zur hohen Unzuverlässigkeit der Schätzungen für den natürlichen Zins Stellung bezieht. Im Augenblick ist leider noch nicht einmal klar, ob die Notenbank die oben beschriebene Aufwärtsrevision der Schätzungen für den natürlichen Zins überhaupt zur Kenntnis genommen hat.

Eine Antwort auf „Gastbeitrag
EZB – der natürliche Zins ist ein Irrlicht“

  1. Eigentlich reicht für die Demaskierung der EZB-Haltung eine einfache Frage:
    Wenn der natürliche Zins (noch dazu für alle Laufzeiten) schon von Hause aus so niedrig ist, warum muss dann so massiv zinssenkend eingegriffen werden?

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