Gastbeitrag
Wie unsozial sind die Vorstellungen des Wissenschaftlichen Beirats des BMWi zur Rente?

Das Thema Rente und ihre Sicherheit sind zurück auf der Tagesordnung. Der Wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums (BMWi) hat sich in seinem aktuellen Gutachten klar positioniert und darauf hingewiesen, dass die zu erwartende demographische Entwicklung der kommenden Jahrzehnte zu erheblichen Verwerfungen führen wird.

Dies ist keine Überraschung, denn es muss jedem klar sein, dass in einer alternden Gesellschaft mit steigender Lebenserwartung und einem Umlageverfahren, d.h. die Rentenzahlungen erfolgen aus den Einkommen der arbeitenden Bevölkerung, drei wesentliche Größen nicht unangetastet bleiben können: Beitrag zur Rentenversicherung, Rentenhöhe und Renteneinstiegsalter. Entweder der Beitrag muss steigen, die Rentenhöhe muss sinken, oder das Renteneinstiegsalter muss steigen. Möglich ist natürlich eine Kombination aus diesen Veränderungen.

Alternativ (oder zusätzlich) kann die Regierung mit Zuschüssen aus dem allgemeinen Budget das System (scheinbar) stabilisieren. Bei einer alternden Gesellschaft müssten diese Zuschüsse ständig steigen. Genau das passiert in der Bundesrepublik bereits seit über 60 Jahren. Die Rentenversicherung wird aus dem Bundeshaushalt bezuschusst. Dieser Zuschuss steigt seit Jahrzehnten kontinuierlich an. Im Jahre 2020 waren es wohl knapp 100 Milliarden Euro, das sind etwas mehr als 25 Prozent des Bundeshaushalts. Dadurch werden schmerzhafte Anpassungen der drei oben genannten Variablen vermieden. Und es wird der Eindruck vermittelt, die Rentenversicherung sei stabil.

Allerdings gibt es natürlich doch Verteilungswirkungen, wenn Rentenzahlungen aus dem allgemeinen Steueraufkommen bezahlt werden. Sie sind dann gerade nicht mehr äquivalent zum Lebenseinkommen bzw. zu den eingezahlten Beiträgen. Wer hohe Steuern zahlt, bekommt grundsätzlich eine relativ verminderte Rente, wer niedrige oder keine Steuern zahlt, bekommt grundsätzlich eine etwas überhöhte Rente. Man sollte diese Wirkungen nicht überhöhen, denn sie entsprechen vermutlich einer gesellschaftlichen Präferenz der Umverteilung von hohen zu niedrigen Einkommen. Wichtiger für die Beurteilung ist die Inkonsistenz beziehungsweise die fehlende Nachhaltigkeit des Rentensystems, wenn es mit erheblichen Subventionen am Leben erhalten wird.

Die Bundesregierung sieht dies etwas anders. Sie hat bis zum Jahr 2025 eine sogenannte doppelte Haltelinie festgezurrt. Konkret heißt dies, dass es eine Höchstgrenze für den Rentenbeitrag (20 Prozent) und einer Mindestgrenze der Altersrente (48 Prozent des durchschnittlichen Lohnes) gibt. Das klingt nur scheinbar überzeugend, können die Haltelinien nur durch bisher gestiegene Zuschüsse sichergestellt werden.

Hier kommt das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats des BMWi ins Spiel. Es zeigt sehr deutlich auf, dass die Zahlungen auch weiterhin steigen werden, wenn die doppelte Haltelinie nicht geändert wird. Dem Gutachten zufolge steht dann zu erwarten, dass die Zuschüsse zur Rentenkasse aus dem Bundeshaushalt in der langen Frist über die Hälfte des Bundeshaushalts ausmachen würden, wenn die Höhe des Bundeshaushalts konstant bleibt beziehungsweise nach gängigem Muster wächst. Von bis zu 60 Prozent schreibt der Beirat.

Die Lösung dieses Problems, die der Beirat vorschlägt, ist recht einfach und knüpft an bisherige Regeln an. Es wird angeregt, die Lebensarbeitszeit an die Lebenserwartung zu knüpfen. Wenn diese um ein Jahr steigt, verschiebt sich der generelle Renteneinstieg um acht Monate. Gearbeitet werden soll bis zum Ende des 68. Lebensjahres, sofern es gesundheitlich möglich ist. Fällt die Lebenserwartung wieder, reduziert sich die Lebensarbeitszeit ebenfalls. Zudem wird eine Flexibilisierung des Renteneintrittsalters vorgeschlagen. Arbeitnehmer bestimmen ihren Renteneintritt innerhalb eines Zeitraums selber, natürlich mit Abschlägen bei relativ frühem Renteneintritt.

Damit schließt der Beirat an die letzte sachgerechte Rentenreform unter dem damaligen Minister Müntefering an: die schrittweise Einführung der Rente mit 67. Allerdings hat es bereits Studien gegeben, die ein noch höheres Renteneinstiegsalter, zum Beispiel 69 oder 70 Jahre, fordern. Vor diesem Hintergrund hätte man erwartet, dass dieses recht nüchterne und offenkundig sehr sauber ausgearbeitete Gutachten, das der Beirat übrigens einstimmig verabschiedet hat, in der politischen Landschaft mit entsprechender Sachlichkeit aufgenommen werden würde.

Das Gegenteil ist der Fall. Gerade die Idee der Rente mit 68 hat für viel Wirbel gesorgt. Von „asozialem Hammer“ war die Rede; der Bundesfinanzminister will lieber mit echten Experten (meint er Frau Esken oder Herrn Kühnert?) sprechen. Andere Kommentatoren verlangten, der Bundeswirtschaftsminister sollte das Gutachten „einkassieren“. Letzteres ist in einer Demokratie eher undenkbar, die beiden ersten Kommentare wirken etwas albern.

Denn es kann keineswegs als unsozial bezeichnet werden, wenn Menschen, die gesund älter werden, nicht auch länger arbeiten sollen. Was ist sozial daran, dass immer weniger jüngere Menschen für immer mehr ältere Menschen arbeiten sollen, ohne dass die Älteren ihren Teil zur Problemlösung beitragen? Das erinnert an den Cartoon, in dem einige Rentner ein paar junge Leute vorwurfsvoll fragen, warum sie denn so wenige seien. Ja, warum wohl?

Es ist unbedingt zu begrüßen, dass die Diskussion um die Zukunft des Alterssicherungssystems jetzt Fahrt aufnimmt. Es wird Zeit, der Realität sachlich zu begegnen und die Konsequenzen aus der Alterung der Gesellschaft zu bedenken. Noch gibt es Gestaltungsspielraum; in etwa fünf Jahren treten die ersten Babyboomer-Jahrgänge geballt in den Ruhestand ein. Bis dahin sollte die Politik einen Plan haben. Auf jeden Fall genügt es nicht, die Überbringer der schlechten Nachrichten zu beschimpfen.

Hinweis: Der Beitrag erschien am 18. Juni 2021 in der Online-Ausgabe der Wirtschaftswoche.

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