Stimme aus Amerika (1)
Fiskalische Dominanz gefährdet die Unabhängigkeit des Fed
Chefvolkswirt Dr. Mickey Levy im Interview

Wirtschaftliche Freiheit: US-Präsident Joe Biden fährt einen neuen wirtschaftspolitischen Kurs. Korrigiert er mit der schärferen Umwelt- und Arbeitsmarktregulierung, höheren Sozialausgaben und höheren Steuern lediglich offensichtliche Fehlentwicklungen oder versucht er, einen Sozialstaat nach europäischen Vorbild einzuführen?

Mickey Levy: Präsident Biden schlägt eine erhebliche Ausweitung des Staatsanteils in der Wirtschaft vor. Der Haushaltsentwurf der Regierung für das Fiskaljahr 2022 sieht massive dauerhafte Ausgabenerhöhungen vor, die die Bundesausgaben von etwa 20 % des BIP auf 25 % anheben würden, zusammen mit erheblichen Steuererhöhungen und dauerhaft höheren Defiziten und Schulden. Die primären Ziele sind die Umverteilung von Reichtum und die Unterstützung von Personen mit niedrigem und mittlerem Einkommen sowie von Menschen, die die Regierung als benachteiligt ansieht. Die Regierung hat bereits damit begonnen, eine breite Palette von Regulierungen mit besonderem Fokus auf Arbeit und Klimawandel umzusetzen.  Die Biden-Administration bezeichnet diese politischen Veränderungen nicht als einen Wandel hin zu einer Sozialdemokratie nach europäischem Vorbild, aber in Wirklichkeit würden diese Programme, wenn sie vollständig umgesetzt würden, genau darauf hinauslaufen.

Wirtschaftliche Freiheit: Der Budgetentwurf der Biden-Regierung wird zu einer Niveauverschiebung bei Staatsausgaben und bei der Steuerquote führen. Was bedeutet das für das Wachstumspotential der USA?

Mickey Levy: Die Programme werden das Wachstum kurzfristig erhöhen, da die Regierung mittels „deficit spending“ die staatlichen Ausgaben erhöht. Längerfristig würde der neue wirtschaftspolitische Ansatz das Potenzialwachstum der USA jedoch verringern. Kurzfristig wird die stärkere Gesamtnachfrage, die durch die beispiellosen fiskalischen und monetären Impulse erzeugt wird, die negativen Auswirkungen der höheren Steuern und regulatorischen Belastungen wahrscheinlich überkompensieren. Im Laufe der Zeit, wenn der Nachfrageimpuls der aktuellen Defizitausgaben und der lockeren Geldpolitik nachlässt, würden die dämpfenden Effekte der höheren Kapitalsteuern und der verschärften Regulierung überwiegen. Bemerkenswert ist, dass alle vorgeschlagenen höheren Steuern auf das Kapital erhoben würden – also auf Unternehmen und Personen mit hohem Einkommen, die in der Regel private Unternehmen besitzen. Dies würde die erwarteten Kapitalrenditen nach Steuern senken und die Investitionen dämpfen.

Wirtschaftliche Freiheit: Die Stabilisierungsmaßnahmen während der Corona-Krise haben das Haushaltsdefizit im vergangenen Jahr auf über 16 % des BIP hochschnellen lassen. Auch in diesem Jahr dürfte das Defizit auf fast 15 % hinauslaufen. Die Staatsschulden steigen dadurch Richtung 140 % des BIP. Selbst wenn die Pandemie überwunden ist, sind jährliche Haushaltsdefizite von 5 % des BIP wahrscheinlich. Wie groß ist die Sorge der Amerikaner, dass sich die Regierung finanziell übernimmt?

Mickey Levy: Ich war überrascht, dass die amerikanische Öffentlichkeit und die Finanzmärkte die prognostizierten Anstiege der Staatsverschuldung so gelassen aufgenommen haben. Zu wenige Wirtschaftsmedien scheinen die passenden Fragen zu stellen. Die anhaltend hohen Defizite und die wachsende Verschuldung sind einfach zu groß, um aus ihnen herauszuwachsen. Auf die eine oder andere Weise müssen die steigenden Schulden bezahlt werden – und die jetzigen und zukünftigen Bürger und Steuerzahler werden die Lasten tragen.

Ein kritischer, aber oft übersehener Aspekt der zunehmend angespannten Staatsfinanzen ist die Frage, wofür die defizitfinanzierten Ausgaben verwendet werden und wie die Allokation der Ressourcen die Wirtschaftsleistung beeinflusst. In den letzten Jahrzehnten waren die anhaltenden Defizite auf erhöhte Ausgaben für Programme zurückzuführen, die im Wesentlichen eine Einkommenssicherung für den laufenden Konsum darstellen, während nur ein kleiner Teil der Staatsausgaben für Investitionen und andere Aktivitäten verwendet wurden, die die Produktionskapazität erhöhen. Das pandemiebedingte „deficit spending“, das sich auf 27% des BIP summierte, diente fast ausschließlich der Einkommensunterstützung von Einzelpersonen und kleinen Unternehmen. In ähnlicher Weise würde die überwiegende Mehrheit der neuen Defizitausgaben von Bidens „American Jobs Act“ und „American Families Plan Act“ für Einkommensunterstützung und Umverteilung verwendet werden. Die zusätzliche Staatsverschuldung und die Reallokation der Ressourcen werden der längerfristigen Wirtschaftsleistung und dem Lebensstandard schaden.

Wirtschaftliche Freiheit: Ist die amerikanische Finanzpolitik noch mit der herkömmlichen Theorie zu erklären oder praktizieren Regierung und Notenbank längst die Ideen der „Modern Monetary Theory“?

Mickey Levy: Haushaltsdefizite gibt es in den USA schon seit Jahrzehnten. Die Ankäufe von Vermögenswerten und die Ausweitung der Bilanz durch die Federal Reserve sind ein Phänomen nach der Großen Finanzkrise. Die Fed hat ihre Geldpolitik unabhängig von den fiskalischen Maßnahmen des Kongresses und der Regierung betrieben. Sie macht keine Politik im Sinne der „Modern Monetary Theory“ (MMT). Allerdings sind die Ausmaße der Defizite und der lockeren Geldpolitik der Fed – Nullzinsen und massive Käufe von Staatsanleihen und MBS – beispiellos.  Zweifelsohne hält die Politik der Fed die Schuldendienstkosten der Regierung niedrig und ermöglicht mehr und mehr defizitfinanzierte Ausgaben. US-Finanzministerin Janet Yellen hat dies bereits gesagt.

Obwohl die Fed keine MMT praktiziert, ist die fiskalische Dominanz der Geldpolitik eindeutig ein Problem, das die Unabhängigkeit der Fed gefährdet. Eine Normalisierung der Geldpolitik würde die staatlichen Schuldendienstkosten in die Höhe treiben und die Fiskalpolitik beeinträchtigen. Die Fed weiß das und die hohe Verschuldung könnte die politischen Überlegungen der Fed behindern. Der US-Kongress hat die Fed gegründet. Wie würde der Kongress reagieren, wenn die Fed die Zinsen wieder auf ein normales Niveau anheben würde?  Das bleibt genau zu beobachten.

Wirtschaftliche Freiheit: Vertreter der „Modern Monetary Theory“ wie Stephanie Kelton meinen, ein Land mit eigener Zentralbank könne die Insolvenz vermeiden, wenn es sich in eigener Währung verschuldet. Haben sie Recht? Oder muss nicht auch ein Land wie die USA mit chronischen Leistungsbilanzdefiziten, das also auf Warenimporte angewiesen ist, ein wenig darauf achten, dass das Vertrauen in den US-Dollar nicht verloren geht?

Mickey Levy: Die Argumente der Befürworter der MMT sind zutiefst fehlerhaft. Sie klingen hohl und sollten richtigerweise als eine Pseudo-Begründung für mehr „deficit spending“ betrachtet werden, die nichts kosten. Die internationalen Finanzmärkte arbeiten effizient und rational. Wenn MMT tatsächlich Sinn machen würde, warum hat es dann nicht jedes Land und jede Zentralbank in der Geschichte praktiziert? Einfach ausgedrückt: Finanzielles Chaos und wirtschaftliche Schäden wären die Folge. Zum Glück versteht die Fed ihre Rolle als die führende Zentralbank der Welt.

Wirtschaftliche Freiheit: Führt die aktuelle Geld- und Finanzpolitik nicht zwangsläufig zu Inflation? Was ist Ihre Erwartung für diese Dekade?

Mickey Levy: Sehr gute Frage. Die optimistischen Inflationsaussichten der amerikanischen Notenbank Fed stützen sich stark auf die Zeit nach der globalen Finanzkrise, als die Inflation trotz anhaltender Nullzinsen und quantitativer Lockerung, die die Bilanz der Fed aufblähte, niedrig blieb. Der Grund für die damals niedrige Inflation war, dass die Politik der Fed, die auf das Ankurbeln der Wirtschaft abzielte, keine nachhaltige Beschleunigung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage bewirkte. Das nominale BIP lag von 2010 bis 2019 im Durchschnitt bei 4 %, und infolgedessen lag die Inflation im Durchschnitt bei 1,75 %, während das reale BIP im Durchschnitt bei 2,25 % lag. Hätte die Politik der Fed die Wirtschaft tatsächlich so stimuliert, wie es die Fed (und ihre Modelle) vorhergesagt hatten, hätte eine Beschleunigung der wirtschaftlichen Aktivität einen Nachfrageüberhang relativ zur Produktionskapazität und eine höhere Inflation erzeugt. Die Strategieüberprüfung der Fed in den Jahren 2018 und 2019 hat nie gründlich untersucht, wie einige der Änderungen ihres Vorgehens – die Zahlung von Zinsen auf überschüssige Reserven, Änderungen der Kapitalanforderungen und ähnliches – zu Engpässen in den monetären Transmissionskanälen beigetragen haben könnten, die die stimulierenden Effekte der Fed-Politik gedämpft haben.

Die aktuelle Politik und die Bedingungen unterscheiden sich sehr deutlich von der Zeit nach der Finanzkrise. Ich glaube, dass einige Aspekte des jüngsten Inflationsanstiegs zwar vorübergehend sind, der zugrunde liegende Inflationsdruck aber dennoch zunimmt. Die Budgetdefizite sind weitaus größer. Die Geldmenge M2, ein breites Maß für Geld (Bankeinlagen), ist im Gegensatz zu der Zeit nach der Finanzkrise stark angestiegen. Das Bankensystem ist gesund, während es nach der Finanzkrise angeschlagen war. Dasselbe gilt für den Wohnungsbau. Die Verbraucher sind ebenfalls in finanziell guter Verfassung.

Der bisherige Inflationsanstieg im Jahr 2021 hat die Fed überrascht. Im Dezember 2020 prognostizierte die Fed eine PCE-Inflation von 1,8 % im Jahr 2021 (Q4/Q4). Im Juni revidierte sie ihre Prognose auf 3,4 % nach oben, und meine Vermutung ist, dass weitere Aufwärtsrevisionen erforderlich sein werden. Ich erwarte, dass die Inflation deutlich über die Erwartungen der Fed steigen wird – nicht wie in den 1970er Jahren, aber hoch genug, um die Fed vor eine große Herausforderung zu stellen. Die Fed wird die Geldpolitik normalisieren müssen. Diese Episode wird ein wichtiges Licht auf die Zusammenhänge der Geldpolitik (und des Geldes) werfen, wichtige Lehren für die Durchführung der Geldpolitik vermitteln und mit falschen Vorstellungen aufräumen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Hinweis: Das Gespräch führte Dr. Jörn Quitzau. Er besorgte auch die Übersetzung.

Zur Person:

Dr. Mickey Levy ist Berenberg Chefvolkswirt für die USA und Asien. Daneben berät er mehrere US-amerikanische Federal Reserve Banken, unterhält enge Beziehungen zur EU-Kommission und der Bank of Japan und ist mitunter Teilnehmer des US-amerikanischen „Congressional Budget Offices Panel of Economic Advisors“. Seit 1983 ist Dr. Levy Mitglied des „Shadow Open Market Committee“, einer renommierten unabhängigen Forschungseinrichtung, die die Geld- und Bankpolitik der Federal Reserve und der Zentralbank kritisch begleitet. Dr. Levy spricht regelmäßig vor Ausschüssen des US-amerikanischen Kongresses zu Themen der Wirtschaft, Politik und Finanzen. Er war 15 Jahre lang Chefvolkswirt der Bank of America.

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