Ausgangslage
Das Oberlandesgericht Dresden beschloss jüngst die Zahlung einer Strafe in Höhe von 100.000 EUR gegen die Videoplattform YouTube (hierzu ausführlich Brause, 2021). Ein Nutzer hatte ein Video hochgeladen, in dem Demonstranten gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie Aussagen tätigten, die nach Ansicht des Unternehmens den „Richtlinien zu medizinischen Fehlinformationen über COVID-19“ der Plattform widersprachen. YouTube hatte das Video daraufhin gelöscht. Der Nutzer aus Sachsen beschritt den Rechtsweg und das Oberlandesgericht Dresden gab ihm Recht. Da YouTube das Video jedoch nicht zeitnah freigab, wird es nun die o.g. Strafe zahlen müssen.
Es ist zunehmend zu beobachten, dass Plattformen wie Twitter, Facebook oder YouTube gewisse Inhalte – oftmals nach Aufforderung durch andere Nutzer – sperren. In vielen Fällen werden diese zeitnah geprüft und wieder freigegeben. Aufgrund der Masse an Informationen ist es naheliegend, dass sich die Betreiber der Plattformen zunehmend künstlicher Intelligenz zur Massenprüfung der Inhalte bedienen (Cobbe 2020). Problematisch ist jedoch, dass die Algorithmen aufgrund ihrer unvollständigen Lernumgebung gewisse Inhalte falsch bewerten. Brause (2021, 5) zeigt einen versehentlich gelöschten Beitrag, der nach dem Eigentor des Nationalspielers, Mats Hummels, vor dessen Namen, den Emoji eines Affen setzte, der sich beide Hände vor die Augen hält – die Leser, die regelmäßig Kurznachrichtendienste nutzen, werden dies vielleicht kennen, was die künstliche Intelligenz oder ein Moderator der Plattform, der sich vornehmlich in der analogen Kommunikation bewegt, wohl als rassistisch bewertete.
Die Thematik, dass Social Media-Plattformen über die Inhalte, die von Nutzern verbreitet werden, entscheidet, ist freilich eine Problematik, die vergleichsweise neu ist. Allerdings helfen auch hier ethische, ökonomische und rechtliche Prinzipien, um zumindest etwas Klarheit über die Beurteilung dieses und ähnlicher Sachverhalte zu gewinnen.
Gesellschaft und Information
Es ist hinlänglich bekannt, dass Wissen in einer Gesellschaft dezentral verteilt ist (Hayek, 1945). Kein Politiker und kein Bürger verfügt über all das verfügbare Wissen. Informationsbeschaffung geht mit Kosten einher, z.B. dadurch, dass die Zeit, die in das Lesen eines Sachbuchs investiert wird, nicht für andere Aktivitäten verwendet werden kann. Der Wert einer Information ist wie jeder Wert subjektiv und ergibt sich aus dem Nutzen, den die Information einem Individuum stiftet. Das alles führt dazu, dass Information ungleich verteilt ist. Durch die Informationstechnologie und insbesondere das Internet wurde der Zugang zu Informationen immens erleichtert. Gerade in Bezug auf die Teilhabe der Bevölkerung am politischen Prozess in einer Demokratie ist dies ein Gewinn. Auf Social Media-Plattformen wie Twitter haben Bürger die Möglichkeit, Politikern oder anderen Personen des öffentlichen Interesses direkt zu antworten, wodurch eine völlig neue Kommunikation entstanden ist, die freilich nicht nur Vorteile aufweist. Information dient der Meinungsbildung, insbesondere um politische Entscheidungen zu beurteilen, oder eine Wahlentscheidung zu treffen. Seit einigen Jahren wird zunehmend über „bewusste Fehl- oder Desinformation“ berichtet und diskutiert. Królikowski und Loebel (2017, 368) unterscheiden sieben Arten, die von Satire/Parodie bis zu erfundenen oder überarbeiteten Inhalten reichen. Wenngleich der individuelle Humor ein breites Spektrum aufweisen kann, sollte es wohl auch künftig dem Informationssender überlassen bleiben, ob er die Ironie in seinem Text kennzeichnet. Aufgrund der viel beachteten Filterblasen innerhalb der Social Media-Gemeinschaft erscheinen bewusst erfundene Inhalte hingegen als potentielle Gefahr. Strafrechtlich ist auch dies grundsätzlich nicht verboten, solange nicht der Tatbestand der „Volksverhetzung“ gemäß § 130 StGB erfüllt wird.
Social Media-Plattformen haben in ihren privatrechtlichen Nutzungsbedingungen Richtlinien festgelegt, dem vorzubeugen. Grundsätzlich liegt die Verarbeitung einer Information im Verantwortungsbereich des Informationsempfängers. Allerdings könnte mit verhaltensökonomischen Erkenntnissen argumentiert werden, dass Informationsverarbeitung sehr selektiv erfolgt und es regelmäßig zu Verzerrungen kommt (etwa Tvesky und Kahneman, 1974; Slovic, 1987). Zumindest sollte jedoch auch diskutiert werden, ob Bürger nicht eher vor der Desinformation ihrer Regierungen (etwa Bagus et al., 2021) als vor falschen Informationen durch andere Bürger zu schützen seien.
Vertragsfreiheit und Eigentumsethik
Grundsätzlich ist die Nutzung einer Social Media-Plattform eine freie Entscheidung eines Individuums. Es besteht also kein Kontrahierungszwang. Die bekannten Anbieter sind privatrechtliche Unternehmen. Damit sind sie grundsätzlich nicht daran gebunden, dem Nutzer ein Recht auf freie Meinungsäußerung zu gewähren. Dieses im deutschen Grundgesetz geregelte Recht soll den Bürger gegenüber dem Staat schützen, unter Privaten entfaltet es zumindest keine unmittelbare Wirkung.
Unabhängig von einer gesetzlichen Regelung stehen sich hier aus eigentumsethischer Sicht zwei natürliche Rechte gegenüber: Das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Eigentumsrecht.
Das Recht auf die freie Äußerung der Meinung ergibt sich bereits aus dem Eigentum am eigenen Körper – in Abgrenzung zur Sklaverei (etwa Rothbard, 2009, 182 ff.). Dadurch kann die Stimme frei eingesetzt werden, um Gedanken zu artikulieren. Dies kann freilich auch in schriftlicher Form durch Nutzung eines Stifts oder einer Tastatur erfolgen. Dieses Recht ist jedoch begrenzt durch die Eigentumsrechte anderer Parteien. Dies ist unmittelbar ersichtlich, wenn man sich einen einfachen Sachverhalt vor Augen führt:
Person A lädt Person B zum Abendessen zu sich nachhause ein. Nach einiger Zeit entwickelt sich eine Diskussion über ein politisch brisantes Thema. A ist der Appetit vergangen und er bittet B, sein Haus zu verlassen. B ist erbost und brüllt, er dürfe ja noch seine Meinung sagen. A stimmt ihm zu: „Natürlich, aber nicht in meinem Haus.“
Ähnlich verhält es sich auf Social Media-Plattformen. Die bereitgestellte Infrastruktur zur Kommunikation und zur Verbreitung von Informationen oder Meinungen ist ein freiwilliges Angebot des privaten Unternehmens, das die entsprechenden Verfügungsrechte besitzt. Niemand muss dieses Angebot nutzen. Auch eine Tageszeitung ist selbstverständlich nicht verpflichtet, eine Lesermeinung abzudrucken. Anders kann dies jedoch beurteilt werden, wenn etwa Parteien an einem Verlag, der ein Medium herausgibt, beteiligt sind. In den allermeisten Fällen wird dem Leser jedoch nur die Möglichkeit bleiben, sich im Wege seiner Konsumentensouveränität einem anderen Blatt zuzuwenden.
Allerdings ist bei der Beurteilung der „Cancel Culture“ auf Social Media-Kanälen aus rechtsökonomischer Perspektive zu berücksichtigen, dass auf dem Markt für Social Media-Plattformen eine hohe Konzentration herrscht. Der Kurznachrichtendienst Twitter dürfte beispielsweise das soziale Medium der ersten Wahl in der Kommunikation von Politikern, Journalisten oder Wissenschaftlern sein. Brause (2021, 5) zitiert Tobias Gostomzyk, Professor für Medienrecht an der Technischen Universität Dortmund: „Je bedeutender eine Plattform für die Allgemeinheit ist, desto größer dürfte auch die Grundrechtsbindung sein.“ Insofern könnte argumentiert werden, dass dem Recht auf freie Meinungsäußerung auf prominenten Plattformen wie YouTube oder Twitter ein höheres Gewicht beikommen müsse als dem Eigentumsrecht des Anbieters. Gegen eine Regulierung derartiger marktbeherrschender Medien spricht jedoch, dass sich die Nachfrager – sobald der Eindruck entsteht, dass die Informationsquelle bzw. das Medium die Informationen manipuliert – anderen Medien und Quellen zu wenden. Auf diese Weise ist etwa der Aufstieg des Mediums Telegram in bestimmten Kreisen zu erklären (Hohlfeld, 2021).
Wenngleich die gängigen Plattformen als globale Spieler agieren, bleibt zumindest für Deutschland abzuwarten, ob das Verfassungsgericht in naher Zukunft eine Richtung vorgibt, die das Verhältnis der Rechte zueinander klärt.
Literatur
Bagus, Philipp, Peña-Ramos, José A., Sánchez-Bayón, Antonio (2021). COVID-19 and the Political Economy of Mass Hysteria. International Journal of Environmental Research and Public Health 18(4), 1376.
Brause, Christina (2021). Nicht verboten, trotzdem. Welt am Sonntag vom 11. Juli 2021, S. 5.
Cobbe, Jennifer (2020). Algorithmic Censorship by Social Platforms: Power and Resistance. Philos. Technol.. https://doi.org/10.1007/s13347-020-00429-0
von Hayek, Friedrich A. (1945). The Use of Knowledge in Society. American Economic Review 35(4), S. 519-530.
Hohlefeld, Ralph et al. (2021). Communicating COVID-19 against the backdrop of conspiracy ideologies: How Public Figures Discuss the Matter on Facebook and Telegram. Disinformation Research Lab, University of Passau, Working Paper 1/2021. https://www.researchgate.net/profile/Ralf-Hohlfeld/publication/351698784_Communicating_COVID-19_against_the_backdrop_of_conspiracy_ideologies_HOW_PUBLIC_FIGURES_DISCUSS_THE_MATTER_ON_FACEBOOK_AND_TELEGRAM/links/60a517a845851505a03f2531/Communicating-COVID-19-against-the-backdrop-of-conspiracy-ideologies-HOW-PUBLIC-FIGURES-DISCUSS-THE-MATTER-ON-FACEBOOK-AND-TELEGRAM.pdf.
Królikowski, Ageta, Loebel, Jens-Martin (2017). Fake-News – Können Alogrithmen Menschen manipulieren? Informatik_Spektrum 40(4), S. 367-370.
Rothbard, Murray N. (2009), Man, Economy, and State: A Treatise on Economic Principles. 2nd Scholar’s Edition, Auburn, Ala: Ludwig von Mises Institute.
Slovic, Paul (1987). Perception of risk. Science 236(4799), S. 280-285.
Tversky, Amos, Kahneman, Daniel (1974. Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases. Science 185(4157), S. 1124-1131.
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