Gastbeitrag
EZB – Die Krux mit der Strategie

Etwa ein halbes Jahr nach Bekanntgabe der neuen EZB-Strategie hat der deutliche Anstieg der Inflation Schwachstellen der Strategie offengelegt. Problematisch ist, dass sie auf einer unterstellten Treffsicherheit der Inflationsprognose basiert, die im längeren Durchschnitt wohl nicht zu erreichen ist. Dies legt unsere empirische Analyse vergangener Prognosefehler nahe. Es besteht die Gefahr, dass die Effizienz der Geldpolitik längerfristig aufgrund eines Vertrauensverlusts leidet.

Durch die hohen Inflationsraten im Euroraum ist für die neue EZB-Strategie schon eines halbes Jahr nach deren Bekanntgabe eine ernste Bewährungsprobe entstanden. Schließlich hat die EZB bei Kritik, sie reagiere nicht angemessen auf bestehende Inflationsrisiken, stets darauf verwiesen, die neue Strategie und die daraus folgende Forward Guidance für die Leitzinsen enthalte sehr klare Kriterien für eine Erhöhung der Leitzinsen. Und diese Kriterien, argumentierte die Notenbank bis vor kurzem, seien eben noch nicht erfüllt, weil die Inflationsrate laut den Projektionen der Bank mittelfristig wieder etwas unter dem 2%-Zielwert liegen werde.

Zwar hat sich die EZB inzwischen offen für eine Kurswende gezeigt: Sie will auf ihrer kommenden Sitzung im März auf Basis aktualisierter Inflations- und Wachstumsprojektionen ihre Einschätzung überprüfen. Aber EZB-Präsidentin Lagarde hat auf der letzten Pressekonferenz trotz dieser Bereitschaft klar betont, dass der Rat sich weiter sehr strikt an den in der Forward Guidance festgelegten Kriterien orientieren werde.1

Von Kritikern der EZB wurde diese strikte Vorgehensweise zunehmend als engstirnig und damit wenig zielführend empfunden. Kritische Stimmen kamen dabei nicht nur von außerhalb der Notenbank, sondern durchaus auch von innen. So erklärte der belgische Notenbankpräsident Wunsch kurz nach den Ratsentscheidungen im Dezember:

“There’s a lot of uncertainty about 2023 and 2024, but my take is that [regarding inflation] we’re essentially at target. Whether you’re at target or just a little bit below or a little bit above doesn’t matter so much. What I’m a bit concerned about is the fact that we’d insist so much on still being below target…. The big issue for me is the narrative that doesn’t recognize enough that there seems to be an inflation issue in the world and we seem to see it very differently.”

Nun ist die strikte Vorgehensweise der EZB historisch gesehen durchaus erklärbar. Zum einen hat die Notenbank jahrelang ihr Inflationsziel trotz zahlreicher sehr expansiver Maßnahmen nach unten verfehlt. Gerade an der Zinsuntergrenze erwiesen sich die Lockerungsmaßnahmen als wenig effektiv. Zum anderen hat die EZB 2011 die Leitzinsen unter dem Eindruck wachsender Inflationsrisiken erhöht, die Anhebungen dann allerdings nur wenige Monate später wieder zurückgenommen. Die Zinserhöhungen bezeichnen im Rückblick nicht wenige EZB-Vertreter als den größten geldpolitischen Fehler seit Beginn der Währungsunion.

Im Einklang mit diesen Erfahrungen zieht die EZB basierend auf ihrer neuen Strategie Leitzinserhöhungen erst dann in Betracht, wenn sie ihr 2%-Ziel für die Inflationsrate deutlich vor Ende des Projektionszeitraumes erreicht sieht und die Rate dort aus Sicht der EZB auch dauerhaft verharrt. Die EZB handelt also erst dann, wenn sie sich sehr sicher ist, dass sich die Inflationsdynamik auf dem richtigen Weg befindet.

So weit, so nachvollziehbar! Aber richtig sicher kann sich die EZB natürlich nur unter der Voraussetzung sein, dass sie in der Lage ist, die Inflationsrate auf längere Sicht einigermaßen korrekt zu prognostizieren.

So hatte EZB-Präsidentin Lagarde im Dezember eine Zinserhöhung 2022 als „sehr unwahrscheinlich“ bezeichnet, weil die Inflationsrate zwar aktuell sehr hoch ausfalle, die EZB aber auf längere Sicht Inflationsraten von 1,8% erwartet hatte, sodass die EZB-Zielmarke von 2% verfehlt würde. „1,8% ist nicht 2%“, betonte Lagarde. Eine solche Vorgehensweise ist aber nur dann nachvollziehbar und glaubwürdig, falls der durchschnittliche Prognosefehler für die Inflation auf längere Sicht nicht deutlich größer ausfällt als die Differenz zwischen 1,8% und 2%.

Genau das ist aber der Fall, wie unsere Analyse vergangener Prognosefehler nahelegt. Bei einem zu strikten Festhalten an der Strategie besteht somit ein hohes Risiko, dass die Effizienz der Geldpolitik mittelfristig aufgrund eines Vertrauensverlusts leidet.

Wie gut prognostizieren „Professional Forecaster“?

Genauer haben wir den durchschnittlichen Fehler für längerfristige Inflationsprognosen anhand des Survey of Professional Forecasters (SPF) der EZB untersucht. Es mag auf den ersten Blick verwundern, warum wir nicht auf die Projektionen der EZB zurückgreifen, da wir hier doch die Qualität der Notenbankprognosen untersuchen wollen. Dafür gibt es zwei Gründe:

Erstens liefern die Experten der Notenbank nicht „bestmögliche“ Inflationsprognosen ab, weil die EZB die Projektionen verwenden, um ihre geldpolitischen Maßnahmen zu bestimmen und diese wiederum die Inflation auf längere Sicht beeinflussen (sollten). Wenn die Projektion beispielsweise auf längere Sicht Inflationsraten deutlich über dem Zielwert von 2% signalisiert, dürfte die EZB restriktive Maßnahmen beschließen, um den Inflationsdruck zu dämpfen. Die vorher prognostizierte Inflationsrate könnte sich also als falsch herausstellen, nicht weil die Prognose an sich schlecht war, sondern weil die EZB mit ihren Maßnahmen bewusst gegengesteuert hat, um die Inflationsrate näher an den Zielwert zu bringen.

Zweitens liegen uns in Bezug auf die EZB-Projektionen über einen langen Zeitraum nur jahresdurchschnittliche Prognosen vor, die zur Überprüfung der Prognosequalität weniger geeignet sind, da der Prognosehorizont schwankt: Beispielsweise dürfte die Treffergenauigkeit für die Inflationsprognose des Folgejahres im Dezember des Vorjahres in der Regel höher sein als zu Beginn des Vorjahres – einfach, weil man im Dezember „näher dran“ ist. Um die Qualität von Prognosen zu untersuchen, ist es besser, wenn der Prognosehorizont konstant ist (z.B. Prognose auf Sicht von einem Jahr).

Beim SPF werden die Umfrageteilnehmer (hauptsächlich Finanz- und Researchinstitute) seit Beginn der Umfrage um Inflationsprognosen auf Sicht von einem Jahr und zwei Jahren gebeten, also nicht nur um Prognosen für den Jahresdurchschnitt. Den Teilnehmern (u.a. auch die Commerzbank) dürfte ferner daran gelegen sein, für alle Variablen jeweils den bestmöglichen Prognosewert abzugeben. Schließlich hat die Verwendung der Konsensprognose den Vorteil, dass es laut einer Untersuchung der EZB für jeden einzelnen Teilnehmer am SPF schwierig ist, besser als der Durchschnitt der Antworten aller Teilnehmer abzuschneiden. Der Prognosefehler eines einzelnen Instituts dürfte also auf lange Sicht eher noch größer ausfallen.

Prognosefehler meist unerfreulich hoch

Sehr ernüchternd ist jedoch, wie groß die Fehler selbst des Konsens bei der Inflationsprognose auf Sicht von einem und zwei Jahren ausfallen (Abbildung 1 und 2). Prognosefehler von nur wenigen Zehntel Prozentpunkten sind klar die Ausnahme und nicht die Regel. Absolut betrachtet, d.h. ohne Beachtung des Vorzeichens des Fehlers, liegt der Konsens bei der Einjahresprognose ¾ Prozentpunkte daneben, bei der Prognose auf Sicht von zwei Jahren ist der Fehler erwartungsgemäß noch etwas größer.2 Die Größe des Prognosefehlers ist dabei breit gestreut, der durchschnittliche Fehler von ¾ Prozentpunkten ist also keinesfalls als „typisch“ bzw. „repräsentativ“ zu bezeichnen. Zudem wechselt der Prognosefehler in etwa 30% der untersuchten Prognosetermine das Vorzeichen, d.h. wenn die Inflationsrate auf Sicht von einem Jahr höher als prognostiziert war, fiel sie auf Sicht von zwei Jahren niedriger als gedacht aus (und umgekehrt). Einen „Volltreffer“ gab es nur ein einziges Mal zu feiern: Bei den im ersten Quartal 2017 abgegebenen Prognosen lag die tatsächliche Inflationsrate ein bzw. zwei Jahre später praktisch genau auf der Prognose von Anfang 2017. Unter dem Strich bleibt also die Erkenntnis: Hohe Fehler bei der Inflationsprognose auf längere Sicht scheinen unvermeidlich.

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Vertrauen leidet bei falschen Versprechen

Aufgrund der hartnäckig hohen Inflationsraten wird die Reaktion der EZB als zu zögerlich kritisiert. Jetzt, nach der Ratssitzung Anfang Februar, bewegt sie sich und zeigt sich aufgeschlossener für eine Kurswende als bisher. Während die Notenbank im Dezember ihr Festhalten an der expansiven Ausrichtung noch mit der Einschätzung begründet hat, dass die Inflationsrate mittelfristig wieder leicht unter 2% fallen dürfte, bewegt sie sich jetzt offenbar, weil sie größere Chancen sieht, dass sich die Inflation mittelfristig beim 2%-Zielwert einpendelt. In beiden Fällen ignoriert die EZB die historisch gesehen hohe Prognoseunsicherheit. Das kann im Einzelfall gut gehen, im längeren Durchschnitt ist dies eine Strategie, die kaum zum Erfolg führen dürfte. Darunter dürfte das Vertrauen in die EZB leiden und damit auch die Effizienz der Geldpolitik beeinträchtigt werden.

Gibt es einen Ausweg?

Einerseits muss die EZB längerfristige Inflationsprognosen erstellen, denn wegen der langen Wirkungsverzögerungen in der Geldpolitik kann sie die Preisentwicklung nur auf längere Sicht beeinflussen. Wenn die Notenbank also über Maßnahmen entscheidet, müssen diese Entscheidungen zwangsläufig auf einer Einschätzung der Preisentwicklung auf längere Sicht basieren. Andererseits dürfte die EZB bei ihrer Inflationsprognose immer wieder merklich danebenliegen, Fehlentscheidungen erscheinen damit vorprogrammiert.

Ist dieses Dilemma für die EZB überhaupt prinzipiell zu lösen? Vollständig zu lösen vielleicht nicht, aber wohl immerhin zu mindern.

Toleranzband einführen …

Eine Möglichkeit besteht für die EZB darin, mit offenen Karten zu spielen und die unvermeidliche Prognoseunsicherheit explizit in ihre Strategie einzubinden. So hatten wir bereits im Sommer 2019 vorgeschlagen, dass die EZB ein explizites Toleranzband um den Inflationszielwert ankündigen sollte.

Solch ein Toleranzband ist nicht zu verwechseln mit einem Zielband für die Inflation, bei dem eine Notenbank es als Erreichen von Preisstabilität wertet, wenn die Inflationsrate in diesem Zielband liegt. Beim Toleranzband sieht eine Notenbank das bisherige Punktziel weiter als optimal an, toleriert aber aus einer Reihe von Gründen moderate Abweichungen vom Zielwert.

Die Bekanntgabe eines expliziten Toleranzbandes ist eine einfache Methode, die Öffentlichkeit an eine nicht zu vermeidende mangelnde Präzision in der Geldpolitik zu erinnern. Diese ergibt sich zum Beispiel daraus, dass Notenbanken bei ihren Prognosen und der daraus folgenden Wahl ihrer Mittel stets auf Modelle zurückgreifen, aber kein Modell in der Lage ist, die wirtschaftliche Realität exakt widerzuspiegeln, sondern stets vereinfachende Annahmen getroffen werden – wie auch in letzter Zeit leidvoll festzustellen war.

Mit der Einführung eines Toleranzbandes hätte die EZB ihre Kommunikationsstrategie so ändern können, dass nicht wie bisher häufig Abweichungen vom Punktziel als Politikversagen interpretiert werden. Das würde mehr Vertrauen in die Geldpolitik schaffen, und dies wiederum würde die Effizienz der Geldpolitik erhöhen – letzteres betont auch die EZB selbst immer wieder.

Insgesamt würden durch die Einführung eines Toleranzbandes um den Inflationszielwert extreme geldpolitische Ausrichtungen seltener. Nervöse Marktreaktionen auf Abweichungen der Inflationsrate vom Zielwert würden unwahrscheinlicher und damit auch hektische Reaktionen der Geldpolitik darauf. Die EZB würde längerfristig Flexibilität zurückgewinnen, und die Geldpolitik würde erkennbarer im Einklang mit der mittelfristigen Ausrichtung stehen, die die EZB in Bezug auf die Geldpolitik immer propagiert.

… oder zumindest Toleranz im Einzelfall

So einleuchtend uns unser Vorschlag von 2019 erscheint, so unwahrscheinlich ist es doch, dass die EZB auf ihn zurückgreift, nachdem sie erst vor rund einem halben Jahr ihre neue Strategie bekannt gegeben hat.

Möglich wäre es dagegen, dass die EZB ihre Strategie eben nicht strikt anwendet, sondern pragmatisch verfährt, insbesondere wenn die Unsicherheit über die künftige Entwicklung groß ist. Bis vor kurzem hatte die EZB Zinsanhebungen 2022 wie oben beschrieben als sehr unwahrscheinlich bezeichnet und dies mit ihrem Basisszenario begründet, dass die Inflation längerfristig auf 1,8% fallen dürfte. Jetzt hat die Notenbank ihre Bereitschaft zu einer Kurswende bekundet, aber nur unter der Voraussetzung, dass im Basisszenario die Inflation längerfristig bei 2% liegt. Aber ist es sinnvoll, dass geldpolitische Entscheidungen weit auseinanderliegen, wenn sich gleichzeitig die Basisszenarien nur wenig unterscheiden (Inflation bei 1,8% bzw. bei 2%), die Prognoseunsicherheit aber hoch ist?

EZB-Direktoriumsmitglied Schnabel hält eine Orientierung allein am Basisszenario in der gegenwärtigen Situation offenbar nicht für sinnvoll:

„At times of very high uncertainty, it’s extremely important to retain some optionality in the monetary policy decision-making process. I called it, borrowing from Alan Greenspan, the risk management approach, which implies that when uncertainty is very high, one shouldn’t enter into too long commitments, but one has to make sure that one can react to all types of contingencies. Our strong forward guidance protects us against premature rate hikes. But we also need to be able to react to surprises on the upside, should they materialise. We need to allow the data to come in so that we can get more clarity about what is going to happen after the unusual movements in inflation that we’ve seen this year and that we’re also going to see next year. It would be risky to base our decisions entirely on the baseline if we know that the risks are skewed to the upside.“

Und auch der belgische Notenbankpräsident Wunsch hatte Ende Januar gewarnt, die Entscheidung nur vom aktuellen Basisszenario abhängig zu machen, denn auch dieses könnte sich wieder ändern:

“…we … convey the impression that it matters a lot whether inflation is slightly below or just above 2%. Either way, I would exit from an extremely accommodative monetary policy. If inflation projections start to fluctuate around the target, it can’t be the case that at 1.8% our response is negative rates and QE [quantitative easing], and when inflation reaches 2.1% we halt QE and take rates into positive territory. Then what happens if inflation falls back to 1.8%? We cannot have that kind of discontinuity when inflation is volatile. … I would not want our monetary policy to be excessively reliant on a projection over a two- or three-year horizon, the quality of which we know is relatively poor. This would be way too mechanistic.”

Wir prognostizieren, dass die EZB auf ihrer kommenden Sitzung im März einen Kurswechsel einleitet, indem sie zunächst die Nettoanleihekäufe früher beendet als bisher avisiert und dann ab Spätsommer den Einlagezins erhöht. Es wäre aber besser, wenn diese Entscheidung nicht nur auf einem geänderten Basisszenario basierte, sondern auf einem generellen Sinneswandel im EZB-Rat, dass eine nicht zu vermeidende Prognoseunsicherheit bei den Entscheidungen der Notenbank mit berücksichtigt werden muss.

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1 Lagarde erklärte: „…both for our March meeting and then later on our June meeting, [it] will be critically important to determine whether the three criteria of our forward guidance are fully satisfied.“

2 Offenbar enthält die Konsens-Prognose auf lange Sicht zumindest keinen systematischen Fehler, da unter Berücksichtung des Vorzeichens des Fehlers der Durchschnitt der Abweichungen bei null liegt und die Zahl der Unter- und Überschätzungen in etwa gleich häufig ist.

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