Gastbeitrag
Angst ist kein guter Ratgeber – Wut auch nicht
Ordonomische Reflexionen zum Ukraine-Krieg

(1) In den 1970er und 1980er Jahren wurde Helmut Schmidt nicht müde, sein Credo rationaler Politik zu kommunizieren: „Angst ist kein guter Ratgeber.“ Gerade zu Zeiten des Kalten Krieges war das relevant. Denn damals herrschte in Deutschland die Befürchtung vor, zum Opfer eines nuklearen Vernichtungsschlags werden zu können. Viele Deutsche sahen ihr (Über-)Leben bedroht.

Heute ist die Lage anders. Wir Deutschen beobachten derzeit nicht als direkt beteiligte, sondern als nur indirekt betroffene Zeitzeugen, wie die Menschen in der Ukraine Opfer eines russischen Angriffskrieges werden. Hier geht es um andere Emotionen: nicht um Angst, sondern um Mitleid mit den Opfern und um Zorn auf die Täter. Viele sind bestürzt und wütend über das, was sie da jeden Tag mit ansehen. Insofern muss man das Credo rationaler Politik heutzutage entsprechend anpassen: „Wut ist kein guter Ratgeber.“

(2) Wut hat zwei ungünstige Auswirkungen, die gerne in Kombination auftreten und sich dann wechselseitig be- und verstärken. Erstens vernebelt Wut das Denken, und zweitens löst sie einen starken Handlungsimpuls aus, die sprichwörtliche Wutreaktion. Das ist für uns relevant, weil die aktuellen Diskussionen über angemessene Antworten auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine mit einem erkennbar hohen Adrenalin-Pegel geführt werden – und genau jene wütenden Wechselwirkungen zu Tage fördern, vor denen hier gewarnt werden soll.

Verschärft wird die Situation dadurch, dass sich Gerechtigkeitsgefühle, Racheinstinkte und ein stark empfundenes Bestrafen-Wollen den Wutemotionen beimischen, so dass wir es gegenwärtig mit einem gefährlichen Moral-Cocktail zu tun haben, mit einem wirklich explosiven Gemisch: Da kann es schon mal leicht zu unbedachten Äußerungen und zu Überreaktionen kommen – etwa wenn deutsche Ärzte lauthals verkünden, ab sofort keine Russen mehr behandeln zu wollen, und dann nach einer gewissen Bedenkzeit mitteilen, dass sie es sich, mit guten Gründen, doch lieber wieder anders überlegt haben. Auch die dringenden Aufrufe, sofort alle Wissenschaftskontakte nach Russland zu kappen, lassen eher auf kurzatmigen Aktionismus schließen als auf eine belastbare Kosten-Nutzen-Kalkulation.

(3) An solchen Einzelbeispielen wird deutlich, dass wir in Deutschland aufpassen müssen und besser auf uns (auf unsere Gefühle sowie unser Verhalten ) Acht geben sollten. Sonst laufen wir Gefahr, dass Russophobie zur neuen Modeerscheinung und zum Gegenstand eines “virtue signalling“ wird, das wir dann auch noch mit typisch deutscher Gründlichkeit als intensiven Überbietungswettbewerb veranstalten.

Als Wirtschaftsethiker sehe ich in einer solchen Situation meine Aufgabe nicht darin, mich beliebt zu machen und der „moral majority“ nach dem Mund zu reden, ganz im Gegenteil. In Zeiten wie diesen ist es die vornehmste Aufgabe des Ethikers, vor Moral(isierung) zu warnen, d.h. sich unbeliebt zu machen. Die gesellschaftliche Funktion der (Wirtschafts-)Ethik besteht darin, nicht mit dem Strom, sondern geradewegs umgekehrt gegen den Strom zu schwimmen, d.h. aktiv dazu beizutragen, dass in der Öffentlichkeit gute Argumente Gehör finden und schlechte Argumente eine überzeugende Kritik erfahren.

(4) Um sogleich damit zu beginnen, mich unbeliebt zu machen: Die großen Verbrechen der Menschheitsgeschichte – man denke nur an Hexenverbrennungen, Judenpogrome und Völkermord – sind von den Täter(gemeinschafte)n stets unter Einsatz moralischer Rechtfertigungsversuche begangen worden, und angesichts imaginierter Bedrohungsszenarien sogar mit subjektiv gutem Gewissen. Erinnert sei nur daran, dass Heinrich Himmler in seiner Posener Rede am 4. Oktober 1943 die SS-Männer dafür lobte, im Angesicht der sich bei der Ausrottung der Juden auftürmenden Leichenberge „anständig geblieben zu sein“[1]. Deshalb sollten wir gerade in Deutschland niemals in Vergessenheit geraten lassen, dass der Weg in den Abgrund mit hehren Absichten und durchaus auch mit moralischen Lippenbekenntnissen gepflastert sein kann. Oder um es mit Immanuel Kant zu sagen: „[M]an täuscht sich nirgends leichter, als in dem, was die gute Meinung von sich selbst begünstigt.“[2] Würde allein nur dieser einzige Satz die Aufmerksamkeit erfahren, die ihm gebührt, dann wäre das gegenwärtig zu beobachtende Diskursversagen von vornherein nur halb so schlimm, wie es tatsächlich ist. Denn dann wäre immerhin der Gefahr vorgebeugt, dass wir das an sich wertvolle Gerechtigkeitsstreben im konkreten Fall moralistisch überhöht vornehmlich als Selbstgerechtigkeit ausleben.

(5) Zur weiteren Einstimmung aufs Thema möchte ich auf David Hume verweisen, der ja bekanntlich für Immanuel Kant eine wichtige Inspirationsquelle war. Mitten im Siebenjährigen Krieg – wahrscheinlich um die Jahreswende 1759/1760 – nahm Hume Stellung zum damaligen Erzfeind und aktuellen Kriegsgegner Frankreich. Ihm wäre es ein Leichtes gewesen, seinen Zeitgenossen und insbesondere seiner Regierung in Großbritannien beizupflichten und in den Chor derer einzustimmen, die lautstark und hasserfüllt ihrer Frankophobie Ausdruck verliehen. Doch Hume entschied sich anders. Er wählte den schweren Weg – nämlich den eines Denkanstoßes, der von seinen Landsleuten damals zweifellos als anstößig, und zwar als moralisch anstößig, empfunden wurde. Aber genau das ist der Grund, warum sich Hume heute noch mit Gewinn als Klassiker lesen lässt – und warum wir immer noch von ihm lernen können, zumal bei ihm Ethik und Ökonomik auf ganz vorbildliche Weise Hand in Hand gingen. Worin bestand nun sein Denkanstoß? Er bestand darin, gegen die populären – auf Schwächung der Gegner zielenden und hier insbesondere Frankreich ins Visier nehmenden – Kriegsmaßnahmen Großbritanniens Stellung zu beziehen. Hierzu liest man bei Hume:

„Sollte unsere engstirnige und bösartige Politik Erfolg haben, würden wir alle unsere Nachbarländer auf den gleichen Zustand wirtschaftlichen Stillstands und mangelhafter Kenntnisse reduzieren, der in MAROKKO und an der Küste der BARBARESKENSTAATEN herrscht. Aber was wäre die Konsequenz? Sie könnten uns keine Waren mehr schicken. Sie könnten von uns keine Waren mehr abnehmen: Unser eigener Binnenhandel würde mangels Vorbild, Anleitung und Nachahmung dahinsiechen: Und wir selbst würden bald in den gleichen erbärmlichen Zustand fallen, auf den wir die Nachbarn reduziert haben. Ich wage daher öffentlich zu bekennen, dass ich nicht nur als Mensch, sondern auch als britischer Staatsbürger für den florierenden Handel DEUTSCHLANDS, SPANIENS, ITALIENS und sogar FRANKREICHS selbst bete. Ich bin mir zumindest sicher, dass GROSSBRITANNIEN und all diese Nationen mehr gedeihen würden, wenn ihre Könige und Minister sich solchermaßen mit erweitertem Denkhorizont und entsprechendem Wohlwollen begegnen würden.“[3]

Hume nahm es also in Kauf, seine Landsleute buchstäblich vor den Kopf zu stoßen, um sie darauf hinzuweisen, dass man mit vernünftiger Klugheit anstreben sollte, aus gegenwärtigen Kriegsgegnern wieder friedliche Nachbarn zu machen, die sich nicht wechselseitig schädigen (Lose-Lose), sondern stattdessen als Handelspartner mit gemeinsamen Interessen darum bemüht sind, einen Prozess mutualistischer Vorteilsgewährung (Win-Win) in Gang zu setzen und in Gang zu halten.

(6) Gegenwärtig hat eine solche Position keine gute Presse. Vielmehr liest und hört man allenthalben, dass es ganz grundsätzlich von vornherein ein strategischer Fehler gewesen sei, sich überhaupt so sehr – z.B. bei Gaslieferungen – in russische Abhängigkeit begeben zu haben. Das soll nun schnellstens korrigiert werden – ein für allemal. Russland soll ein Paria-Staat werden und zumindest so lange unter wirtschaftlicher Isolation leiden, bis ein Regimewechsel erfolgt ist. Viele hängen der Rachephantasie an, Russland wirtschaftlich in die Knie zu zwingen, und sie verbinden dies mit der Hoffnung (und guten Absicht), Russland auf diesem Wege zu einem möglichst schnellen und möglichst generösen Frieden mit der Ukraine nötigen zu können.

(7) Gegen diese Mainstream-Auffassung möchte ich Folgendes zu bedenken geben: Schaut man auf die letzten 30 Jahre, die seit der Auflösung der Sowjetunion vergangen sind, so kann man eine ganze Reihe von Missverständnissen und Fehlern identifizieren, die Ost und West gleichermaßen – nicht im Sinne moralischer Schuld, sondern im Sinne kausaler Verursachung – zu „verantworten“ haben. Russland hat die Ausdehnung der NATO nach Polen und ins Baltikum (sowie nach Tschechien, Ungarn usw.) als wortbrüchig und bedrohlich empfunden. Der Westen hingegen hat sie ganz anders wahrgenommen: als eine geradezu selbstverständliche Öffnung für Staaten, die auf eigenen Wunsch beitreten wollen, um das westliche Zivilisationsmodell einer demokratisch und rechtsstaatlich verfassten Marktwirtschaft auszuprobieren – und unter militärischem Schutz vor externer Intervention auch tatsächlich auf eigene Verantwortung ausprobieren zu dürfen.

Die nächste Runde von Missverständnissen setzte ein, als 2008 eine mögliche Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine auf die NATO-Agenda gesetzt wurde. Man lese hierzu die im unmittelbaren Vorfeld gehaltene Rede Putins bei der Münchener Sicherheitskonferenz 2007.[4] Im Rückblick hat man den Eindruck, dass Putin damals eine klare Botschaft senden wollte, wo er im Hinblick auf existenzielle Sicherheitsinteressen Russlands (s)eine rote Grenze zu ziehen gewillt ist – eine Botschaft, die der Westen damals nicht gehört hat und vielleicht auch nicht hören wollte. Die Folge: Die von der Ukraine aus betriebene Öffnung für eine (baldige) Mitgliedschaft in NATO und EU wurde von westlicher Seite wie selbstverständlich begrüßt, weil es nach eigenen Maßstäben gegen sie keine grundsätzlichen Einwände gab – ohne die nach russischen Maßstäben sehr wohl grundsätzlichen Einwände zu berücksichtigen, die uns im Westen seit langem bekannt waren.

Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim 2014 war aus russischer Sicht eine notgedrungene Minimallösung, um existenzielle Sicherheitsinteressen durchzusetzen, von denen man den Eindruck hatte, dass der Westen sie nicht nur ignoriert, sondern aktiv gefährdet. Heute ist klar, dass dies weder der (objektiven) Fähigkeit noch der (subjektiven) Bereitschaft förderlich war, wechselseitig Verständnis füreinander aufzubringen. Im Gegenteil. Die Fronten verhärteten sich zusehends. Ost wie West waren von der jeweiligen Gegenseite zunehmend frustiert.

Der Schlusspunkt dieser langen Reihe wechselseitiger Irritationen – sowie verärgerter Reaktionen und Enttäuschungen – dürfte in der „Charter on Strategic Partnership“ bestanden haben, die zwischen den USA und der Ukraine am 10. November 2021 vereinbart wurde. Über das Selbstverständnis dieser Charter gibt das Dokument wie folgt Auskunft. Aus Sicht beider Staaten handelt es sich um „a commitment to Ukraine’s implementation of the deep and comprehensive reforms necessary for full integration into European and Euro-Atlantic institutions in order to ensure economic prosperity for its people“[5]. Aus westlicher Sicht ist die Berechtigung zu diesem Abkommen einwandfrei – aus russischer Sicht ist sie es nicht. Vielmehr wurde sie dort wohl als Provokation wahrgenommen und gewissermaßen als der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.

(8) Vor diesem Hintergrund stehen wir im Westen heute vor der Frage, ob wir dazu beitragen wollen – und was wir dazu beitragen können –, um gemeinsam mit Russland aus dieser Eskalationsspirale wechselseitiger Missverständnisse und Fehlinterpretationen herauszufinden und auszusteigen.

Zur Beantwortung dieser Frage sind aus meiner Perspektive ordonomischer Wirtschaftsethik[6] zwei Hinweise möglich.

  • Erstens sollte man alles tun, um gemeinsame Interessen zwischen Ost und West wieder sichtbar in den Vordergrund zu rücken. Hierzu sollten wir öffentlich bekunden, ein Best-Case-Szenario anstreben zu wollen. Das besteht darin, gemeinsam mit Russland an einer für beide Seiten akzeptablen Sicherheitsarchitektur zu arbeiten und eine für beide Seiten attraktive Freihandelszone wirtschaftlicher Partnerschaft zu errichten.
  • Zweitens sollte man alles vermeiden, was auf russischer Seite den Eindruck erwecken könnte, dass der Westen eine wirtschaftliche Vernichtung Russlands bzw. einen innerrussischen Regimewechsel anstrebt. Angesichts des Nuklearpotentials, über das die russische Regierung verfügt und das sie im Notfall einzusetzen bereit ist, ist es nicht klug, die russischen Machthaber in eine Notsituation – und sei es auch nur in eine von ihnen imaginierte Notsituation – zu versetzen, aus der sie sich nicht mehr anders zu befreien wissen als durch einen letzten Versuch militärischer Eskalation.

Für die bisherige Strategie des Westens haben diese beiden Hinweise zur Konsequenz, dass der Westen (a) auch weiterhin nicht militärisch in die Ukraine eingreift, (b) dass der Westen auch weiterhin Wirtschaftssanktionen ergreift, aber – und das wäre nun neu – (c) dass diese Wirtschaftssanktionen nicht einfach nur immer weiter aufgetürmt werden in der Hoffnung, möglichst bald eine additive und schließlich multiplikative Wirkung zu entfalten, die Russland in die Knie zwingt, sondern dass die Wirtschaftssanktionen mit einer klaren Konditionierung – und folglich mit expliziten Ausstiegsklauseln – versehen werden, die Russlands Regierung für graduelles Wohlverhalten (genauer: für den graduellen Abbau militärischen und politischen Fehlverhaltens) belohnt.

(9) Aus wirtschaftsethischer Sicht ist die Logik glasklar: Militärische Abschreckung zwischen Nuklearmächten funktioniert aufgrund einer stufenweisen Eskalation, bei der Hemmschwellen eingebaut sind, von denen man glaubhaft macht, dass man sie nur dann überschreitet, wenn es gilt, ein vermeidbares Fehlverhalten der Gegenseite zu bestrafen. Analog – aber gewissermaßen mit umgekehrten Vorzeichen – funktioniert wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen (nicht zuletzt durch Sanktionen) isolierten Wirtschaftsräumen, indem man glaubhaft macht, auf dem Weg zum Best-Case-Szenario pragmatisch zu den nächsten Schritten bereit zu sein, so dass man gewillt ist – und gewissermaßen nur auf die Gelegenheit wartet –, ein Wohlverhalten der Gegenseite durch Vorteilsgewährung und Kooperationsgewinne zu belohnen.

Bei der militärischen Bestrafungslogik kommt alles darauf an, eine wechselseitige Verständigung herbeizuführen, um die Eskalationsleiter möglichst nicht bis auf die höchsten Stufen hinaufzusteigen. Bei der wirtschaftlichen Belohnungslogik verhält es sich genau andersherum. Hier kommt alles darauf an, eine wechselseitige Verständigung herbeizuführen, um eine bereits erklommene Eskalationsleiter stufenweise wieder hinabzusteigen. Kurz: In beiden Fällen handelt es sich um eine antagonistische Kooperation, die strategisches Denken und gut durchkalkuliertes Handeln erfordert.

Und gerade deshalb ist es so bedenklich, wenn Wut und Empörung – also angesichts des Angriffskrieges auf die Ukraine an sich durchaus verständliche und nachvollziehbare Emotionen – den Eindruck erwecken, als müsse man alle Hoffnung auf Kooperation mit Russland für immer fahren lassen und als ginge es jetzt nur noch darum, einen offenen Antagonismus, den man auf militärischem Gebiet mit guten Gründen scheut, nun um so radikaler auf das Feld wirtschaftlicher Sanktionen zu verlagern. Wer so denkt und handelt, missbraucht und vergeudet das friedensstiftende Potential wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Hier müssen wir uns letztlich entscheiden, ob wir das Prinzip wechselseitiger Vorteilsgewährung als Belohnungsinstrument zur konditioniert-kooperativen Pazifizierung prekärer Konflikte einsetzen wollen, oder ob wir uns hier lieber verweigern und uns damit zufrieden geben, unsere Bestrafungsinstinkte zu bedienen.

Mir ist bewusst, dass gegenwärtig die Zeichen nicht gut dafür stehen, den hier beschriebenen Weg friedlicher Koexistenz und sogar produktiver Zusammenarbeit zwischen Ost und West einzuschlagen. Aber genau deshalb ist Ethik in Krisenzeiten wichtig. Sie kann – unter Berufung auf David Hume – auch mitten im Krieg das Bewusstsein dafür wachhalten, dass es ein gemeinsames Interesse an Friedenspartnerschaft gibt. Und sie kann – unter Berufung auf Immanuel Kant – dazu beitragen, der (un)moralischen Selbstgerechtigkeit Einhalt zu gebieten.

(10) Im konkreten Fall wäre schon viel gewonnen,

  • wenn wir uns im Modus einer kollektiven Selbstkritik und Selbstkorrektur, auch Selbstmäßigung, Einhalt gebieten würden, um die in den Medien – zumal den ‚sozialen‘ Medien – beobachtbare Eskalationsspirale kriegerischer Stimmung(smache) und eines scharfmacherischen Überbietungswettbewerbs nicht immer weiter wütend voranzutreiben;
  • wenn wir uns darauf besinnen könnten, den Begriff „Putin-Versteher“ nicht länger als Schimpfwort zu verwenden, eingedenk der eigentlich leicht einsichtigen Tatsache, dass kognitive Empathie nicht dasselbe ist wie emotionale Sympathie;
  • und wenn wir uns dazu durchringen könnten, öffentliche Stellungnahmen, die Putin als Inkarnation des Bösen oder als übergeschnappten Irren darstellen, als das zurückzuweisen, was sie tatsächlich sind: Offenbarungseide moralischer Selbstüberhebung und strategischer Inkompetenz. So etwas verdient keinen Beifall, sondern sachlich fundierte Kritik.

Insofern müssen wir das Seriositätsniveau unserer Diskurse dringend anheben. Sonst laufen wir Gefahr, mit emotional vernebeltem Verstand, aber natürlich reinsten Gewissens, Missverständnisse und Fehler zu prolongieren, die wir bei klarem Verstand und einem funktionsfähigen Moralkompass lieber vermeiden würden. Auch auf die Gefahr hin, mich nun vollends unbeliebt zu machen: Aus ethischer Sicht ist diese Dichotom(an)ie, die Gegenseite für böse und sich selbst für gut zu halten, keineswegs die Lösung, als die sie uns gegenwärtig angepriesen wird, sondern ganz im Gegenteil integraler Bestandteil des zu lösenden Problems. Denn wie schon gesagt, der Weg in den Abgrund kann mit hehren Absichten gepflastert sein.

Warum wäre es wichtig, den demokratischen Diskurs (wieder) in vernünftige Bahnen zu lenken? Auch hier hilft nochmals David Hume – und seine bereits im 18. Jahrhundert präzise formulierte Erkenntnis, die auch heute noch Gültigkeit hat: „It is … on opinion only that government is founded.“[7] Man kann es auch umgekehrt formulieren: Hysterisierte Diskurse machen demokratische Politiker zu Getriebenen emotional getriggerter Stimmungen und Stimmungsumschwünge – und reduzieren damit jene Strategiefähigkeit des Westens gegenüber Russland, die für ein kompetentes Management antagonistischer Kooperation dringend benötigt wird: Diskursversagen zieht Politikversagen unweigerlich nach sich. Und genau das sollten wir unbedingt vermeiden, um unser aller (gemeinsamen) Zukunft willen.

Literatur

Himmler, Heinrich (1943): Rede des Reichsführers SS bei der SS-Gruppenführertagung in Posen am 4. Oktober 1943, im Internet unter: https://www.1000dokumente.de/pdf/dok_0008_pos_de.pdf (letzter Zugriff 22.3.2022).

Hume, David (1742, 1987): Essays – Moral, Political, and Literary, Indianapolis: Liberty Fund.

Kant, Immanuel (1793, 1968): Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Berlin: Walter de Gruyter & Co, S. 1-202.

Pies, Ingo (2022a): Kapitalismus und das Moralparadoxon der Moderne, Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin (wvb).

Pies, Ingo (2022b): 30 Jahre Wirtschafts- und Unternehmensethik. Ordonomik im Dialog, Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin (wvb).

Pies, Ingo (2022c): Disruptive Belohnung – Ein (wirtschafts-)ethischer Denkanstoß zur Befriedung des Ukraine-Kriegs, seit dem 9.3.2022 im Internet unter: https://www.forum-wirtschaftsethik.de/disruptive-belohnung-ein-wirtschafts-ethischer-denkanstoss-zur-befriedung-des-ukraine-kriegs/ (letzter Zugriff am 23.3.2022).

Pies, Ingo (2022d): Wirtschaftskrieg als moralische Pflicht? – Drei ordonomische Einwände, seit dem 23.3.2022 im Internet unter: http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=30709 (letzter Zugriff am 23.3.2022).

Putin, Wladimir (2007): Speech and the Following Discussion at the Munich Conference on Security Policy, Rede vom 10. Februar 2007, im Internet unter: https://en.wikisource.org/wiki/Speech_and_the_Following_Discussion_at_the_Munich_Conference_on_Security_Policy (letzter Zugriff am 23.3.2022).

USA und Ukraine (2021): U.S.-Ukraine Charter on Strategic Partnership, seit dem 10. November 2021 im Internet unter: https://www.state.gov/u-s-ukraine-charter-on-strategic-partnership/ (letzter Zugriff am 23.3.2022).

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[1] Himmler (1943; S. 3).

[2] Kant (1793, 1968; AA VI, S. 68).

[3] Hume (1742, 1987; Part II, Essay VI, S. 331, H.i.O.), Übersetzung IP.

[4] Vgl. Putin (2007).

[5] USA und Ukraine (2021; Punkt 2, S. 1).

[6] Vgl. hierzu grundlegend Pies (2022a), (2022b) sowie illustrativ auch (2022c) und (2022d).

[7] Hume (1742, 1987; Part I, Essay IV, S. 32).

3 Antworten auf „Gastbeitrag
Angst ist kein guter Ratgeber – Wut auch nicht
Ordonomische Reflexionen zum Ukraine-Krieg

  1. Das Problem beim „gemeinsamen Interesse“ war, dass damit das Interesse Deutschlands und Russlands gemeint war, und damit das Interesse zB der Ukraine ausgeklammert wurde. Nach dem Maidan hätte das so nicht mehr gemacht werden dürfen. Es gibt viele weitere „stakeholder“. Ich nenne hier mal Belarus, dass sich erstaunlicherweise nicht aktiv in den Krieg hat ziehen lassen und wo es einen erfolgreichen Widerstand gibt (Schinenpriraten). Vielleicht wäre es sinnvoll sich nach dem Ende des Angriffs auf Kiew noch mal die Sanktionen gegen Belarus anzusehen und schauen ob die nicht weg können. Zwar habe ich gerade heute gelesen, dass die Russen aus Belarus heraus weiter Angriffe führen, aber vielleicht wäre es sinnvoll hier ein ermutigendes Signal auszusenden, damit Belarus einen Weg aus der allzu großen Nähe zu Russland findet. Kasachstan scheint sich ebenfalls von Russland zu lösen und vielleicht kann jetzt auch Bewegung in die nicht anerkannten Staaten Transnistrien, Abchasien, etc. kommen.

  2. Ich bin nicht zufrieden mit meiner Forderung bezüglich der Sanktionen zu Belarus. Die Richtung stimmt, aber wie sollte man konkret vorgehen? In den Merkel-Jahren verhandelte man mit Putin und ging dann zum Pressetermin zur Opposition. Diese Termine waren das Feigenblatt, dass man glaubte zu brauchen um weiter mit den Machthabern verhandeln zu können. Hier im Artikel wird betont, dass die Suche nach den Gemeinsamkeiten weiterhin richtig wäre. Wie wäre es wenn man diese Gemeinsamkeiten nicht mit Lukaschenko, sondern mit der belarussischen Opposition suchen würde? Wir könnten die fragen, wie das mit den Sanktionen weiter gehen soll. So etwas kann öffentlich und geheim gemacht werden, beides hätte Vor- und Nachteile. Ein solches Vorgehen würde die Opposition in Lebensgefahr bringen, weshalb man da erst fragen sollte, ob sie dazu bereit wären. Die größte Wirkung aber auch die größte Gefahr hätte eine öffentliche Diskussion – etwa über Twitter – über die weiteren Sanktionen gegen Belarus.

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