Der Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine hält die Welt seit Februar in Atem. Politiker sämtlicher Couleur geben zu, sich hinsichtlich der imperialistischen Ambitionen des russischen Machthabers getäuscht zu haben – persönliche Konsequenzen trägt kurioserweise niemand. Während die gegenwärtige Regierung eine 180-Grad-Wendung in der deutschen Verteidigungspolitik vornimmt, sollen Sanktionen eine Kostenerhöhung für den Aggressor bewirken. Als positiv ist zu werten, dass seit langer Zeit anscheinend große Einigkeit über die Rollenverteilung in diesem Konflikt herrscht, in Europa und der westlichen Welt, in der deutschen Gesellschaft, im Parlament. Auffällig ist jedoch, dass hieraus eine moralische Erwartungshaltung resultiert, die sich nicht bloß auf den Staat und seine Akteure in Vertretung der deutschen Bevölkerung bezieht, sondern sich stetig auch auf den privaten Sektor ausdehnt. Zahlreiche Unternehmen haben entschieden, ihre Russlandaktivitäten einzustellen. Das ist ihr gutes Recht und es kann sicherlich argumentiert werden, dass eine Einstellung der Handelsbeziehungen den Druck auf die russische Regierung erhöht, insbesondere, wenn die Knappheit an bestimmten Gütern die russische Bevölkerung erreicht – wenngleich es auch gewichtige Gegenargumente gibt, da einem freiwilligen Austausch grundsätzlich eine friedensstiftende Wirkung beigemessen wird.
So wie es zur Souveränität eines privaten Unternehmens zählt, sich dazu zu entschließen, ein Geschäft nicht zu tätigen, ist es aber auch ihr Recht, sich anders zu entscheiden. Wenn es keinen Kontrahierungszwang gibt, sollte es auf einem freien Markt auch kein Kontrahierungsverbot geben. Seit einiger Zeit kursieren Graphiken, die anzeigen, welche Unternehmen die Geschäftsbeziehungen zu ihren russischen Kunden beendet haben, und welche diese fortführen. Damit ist freilich eine moralische Botschaft verbunden, die zeigen soll, welche Unternehmen sich „solidarisch“ verhalten und welche nur „profitorientiert“ handeln. Als besonders bedenklich erscheint, dass sich das private Gesundheitsunternehmen Fresenius offenbar rechtfertigen muss, weil es Patienten in Russland weiterhin medizinisch versorgt: „Zu unserer Verantwortung als Gesundheitsunternehmen gehört es eben auch, unsere Patientinnen und Patienten in Russland nicht allein zu lassen, sondern weiter medizinisch zu versorgen“ (zitiert nach Schulz 2022, https://www.rnd.de/wirtschaft/ritter-sport-henkel-fresenius-warum-deutsche-firmen-in-russland-weiter-geschaefte-machen-E47Z2XM3MJF77FLRCCT7OQTO3I.html). Auch das Handelsunternehmen Globus verweist auf seinen Beitrag zur Grundversorgung mit Lebensmitteln.
Besonders aggressiv wird im Internet gegenüber der Alfred Ritter GmbH – die zwischenzeitlich bekannt gab, den Gewinn aus dem Russland-Geschäft zu spenden (https://www.welt.de/wirtschaft/article237894101/Boykott-Aufrufe-gegen-Ritter-Sport-Firma-will-Einnahmen-aus-Russland-spenden.html) – mit ihrer Marke Ritter Sport agiert. So wurde von Nutzern etwa eine sogenannte „Kriegsedition“ „kreiert“.
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Welches unternehmerische Bild herrscht in Teilen der Bevölkerung vor? Hier wird ein mittelständisches, quasi-Einproduktunternehmen für das Vergießen „ukrainische[n] Blut[s]“ (siehe Abbildung 1) (mit)verantwortlich gemacht, weil es seine Schokolade(!) an russische Endverbraucher verkauft. Gleichzeitig hat noch kein deutscher Politiker persönliche Konsequenzen für grobe Fehleinschätzungen der geo- und energiepolitischen Lage gezogen.
Private Unternehmen sind grundsätzlich keine Erfüllungsgehilfen staatlicher Politik, sondern ökonomisch betrachtet das Eigentum ihrer Kapitalgeber. Gleichzeitig schaffen sie Arbeitsplätze, unterstützen soziale Projekte und zahlen Steuern. Darüber hinaus eine ad-hoc-Verpflichtung zu einem Handeln zu sehen, das möglicherweise den Bestand des Unternehmens und den Eigentümern schadet, ist betriebswirtschaftlich nur schwer verständlich. Im Fall von Aktiengesellschaften wie Fresenius oder Henkel dürfte zudem die Frage im Raum stehen, wie sich durch den Vorstand beschlossener Boykott zur aktienrechtlichen Sorgfaltspflicht (§ 93 AktG) verhält.
Neben der unternehmerischen Souveränität gibt es zudem auch eine Konsumentensouveränität. Auch potentielle deutsche Konsumenten, die mit der gegenwärtigen Geschäftspolitik nicht einverstanden sind, haben die Möglichkeit, auf andere Produkte auszuweichen und so die Umsätze des Unternehmens zu mindern. Gegeben das Ziel der finanziellen Gewinnmaximierung, könnte dies zu einer veränderten Beurteilung der Lage durch die Geschäftsleitung der Alfred Ritter GmbH führen.
Gleichsam ist zu betonen, dass private Unternehmen, die Handel betreiben, Bedürfnisse von Menschen erfüllen, die dieser Befriedigung in der Regel einen höheren Wert beimessen als dem Preis, den sie dafür entrichten. Dabei sollte es im Allgemeinen keine Rolle spielen, aus welchem Land die Konsumenten kommen – dies gilt im Besonderen, wenn es um Schokolade geht. Es sind staatliche Gebilde, die Kriege beginnen, keine privaten Unternehmen. Ein Signaling sei daher dem ständig wachsenden Kreis an Moralunternehmern und nicht privaten Unternehmen wie der Alfred Ritter GmbH vorbehalten.