Karl Marx – in der Schweiz nicht gesichtet

Karl Marx sei wieder da und lasse niemanden kalt. So und ähnlich hört es sich in den Gängen vieler Universitäten an. Der populäre französische Ökonom Thomas Piketty nimmt seit Jahren Anleihe an den epochalen Schriften Marx’. Dessen Thesen zur gesellschaftlichen Entwicklung als dauernde Geschichte von Klassenkämpfen – vor rund 200 Jahren in der rauen Zeit der Industrialisierung postuliert – haben nichts an Faszination eingebüsst. Die gesellschaftskritische Kapitalismusanalyse zu Globalisierung und „Ausbeutung“, zum Widerspruch von Kapital und Arbeit, zur ungleichen Einkommensverteilung, zur Krisenhaftigkeit des Kapitalismus oder zur fallenden Profitrate befeuern noch heute die akademische und politische Debatte.

Ein wichtiger Indikator der sozialen Ungleichheit ist die Verteilung der Einkommen in einer Gesellschaft. Eine ungleiche Einkommensverteilung ist dabei aus grundsätzlichen Gründen mit Vor- und Nachteilen verbunden. Auf der einen Seite stehen jene Argumente, welche die Einkommensspreizung als grundsätzlich positiv bewerten: In einer durchlässigen Gesellschaft werden die Erfolgreichen und Tüchtigen mit höheren Einkommen entlöhnt und bilden damit einen Ansporn für andere, es ihnen gleichzutun. Diese Anreizfunktion ist wichtig für das Funktionieren einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Anderseits sehen Kritiker den Zusammenhalt einer Gesellschaft gefährdet: Die segmentierte Gesellschaft erschwert das Schmieden von politischen Kompromissen und löst gesellschaftliche Spannungen aus. Kaum jemand würde daher bestreiten, dass es eine Frage des Masses ist, wie viel Ungleichheit oder Gleichheit eine Gesellschaft erträgt.

Ohne Blick in die Daten lässt sich die Frage, ob Mass und Mitte in der sozialen Ungleichheit gewahrt sind, nicht vernünftig diskutieren. Es ist das grosse Verdienst Thomas Pikettys, diese Datenarbeit geleistet zu haben. Zusammen mit einem Netzwerk aus Forschern bietet die World Inequality Database heute einen faszinierenden Querschnitt zur Einkommensverteilung in über 70 Ländern und über einen langen Zeitraum – manchmal mehr als 100 Jahre.

Die Schweiz ist in diesen Vergleichen ein Sonderfall. Die Einkommensungleichheit ist seit fast 100 Jahren bemerkenswert stabil. Dies ist durchaus erstaunlich, bedenkt man die markanten sozialen und gesellschaftlichen Umbrüche, von denen auch die Schweiz nicht verschont blieb. Ein illustratives Beispiel ist der Fall des «eisernen Vorhangs». Mit diesem Globalisierungsschock war eine massive Ausweitung der verfügbaren Arbeitskräfte verbunden. Firmen begannen die arbeitsintensiven Vorleistungen in ihrer Lieferkette über den Globus zu verteilen. Mit der Folge, dass nicht nur Lagerhaltung und Kapitalbindung massiv abnahmen, sondern ein enormer Druck auf den Tieflohnsektor entstand. Wer hätte vor diesem Hintergrund tatsächlich erwartet, dass sich die Einkommenssituation in der Schweiz weiterhin sehr ausgeglichen präsentiert?

Bisher weitgehend unbekannt ist die Entwicklung innerhalb der Schweiz. Die Schweiz ist trotz ihrer Kleinheit ein höchst vielfältiges und föderalistisch organisiertes Land. Daher ist der Blick auf die kantonalen Unterschiede spannend. Die ab Mitte diesen Monats zugängliche Swiss Inequality Database gibt neu Auskunft über die kantonale Entwicklung der Einkommensverteilung, der Umverteilung und der Verteilung der Steuerlast seit 1917.

claschabb1

– zum Vergrößern bitte auf die Grafik klicken –

Der Blick auf die Grafik zeigt die Entwicklung der Spitzeneinkommen – das oberste Prozent der Einkommen in den Schweizer Kantonen. Die Bandbreite um den Durchschnitt ist Abbild der föderalistischen Schweiz mit kleinen und grossen, reichen und ärmeren, ungleicher und gleicheren Kantonen. Für das Jahr 2018 weist beispielsweise der Kanton Schwyz in dieser Grafik die höchste Einkommensspreizung auf: das oberste Perzentil vereinigt über 21% allen steuerbaren Einkommens in diesem Kanton. Ganz anders im Kanton Jura: nur gerade knapp 7% der Einkommen entfallen auf das oberste Prozent. Das bleibt nicht ohne Folge für die Finanzkraft. Im Durchschnitt werden im Kanton Schwyz fast 100’000 CHF Jahreseinkommen versteuert, während es im Kanton Jura mit etwa 55’000 CHF nur etwas mehr als die Hälfte ist. Das ist nicht unwesentlich für die Möglichkeiten des Staats zur Finanzierung der öffentlichen Leistungen – inklusive des Finanzausgleichs, der auch die Jurassier von den Schwyzer Einkommen profitieren lässt. Konkret steuert im Kanton Schwyz das oberste Perzentil mehr als 22% zu den Staatseinnahmen aus dem Einkommen der natürlichen Personen bei. Im Kanton Jura sind es nur etwas mehr als 5% – im gesamtschweizerischen Durchschnitt knapp 9%.

Was bedeutet ein hoher Anteil Spitzeneinkommen für den Mittelstand? Das Medianeinkommen – also jenes Einkommen, das der Mittelstand in etwa versteuert – liegt im Kanton Schwyz mit knapp 60’000 CHF um einen Viertel höher als im Kanton Jura mit einem Wert von 45’000 CHF.

Ob man nun am Fusse der Mythen oder in den Freibergen glücklicher ist, liegt wohl im Auge des Betrachters und hat nur bedingt mit der Einkommensverteilung zu tun. Sicher ist aber, dass die Schweiz von der lange währenden und friedlichen Vielfalt in der Einheit profitiert und sie zu einem spannenden Labor unterschiedlicher Politik- und Gestaltungsentwürfe macht – mit intakten Arbeits- und Sparanreizen. Der von Karl Marx postulierte Klassenkonflikt als zwangsläufiges Ergebnis sozialer Ungleichheiten wurde bisher in der Schweiz nicht gesichtet.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert