Steinmeiers soziale Schnapsidee

Die Idee eines sozialen Jahres für alle Jungbürger der Bundesrepublik ist nicht deshalb als Steinmeiers Schnapsidee zu bezeichnen, weil er sie erfunden hätte. Er hat nur, was in der Sache eine Schnapsidee ist, zu seiner Sache gemacht.

Trebbin und Berlin
Walter Steinmeiers Auftreten wäre nicht weiter aufregend, wenn er als Trebbiner Bürgermeister spräche (https://www.stadt-trebbin.de/index.php/leben-in-trebbin/stadtentwicklung/112-frage-nicht-was-dein-land-fuer-dich-tun-kann-sondern-was-du-fuer-dein-land-tun-kannst). Doch Steinmeier spricht als Bundespräsident. Dabei könnte er sich vom Trebbiner Bürgermeister durchaus etwas abschauen. Denn anders als dem Bürgermeister geht es dem Bundespräsidenten nicht um den Appell, dass die Bürger, die von der Fahrordnung für den Verkehr unter Menschen profitieren, sich selbst an die rechtsstaatliche Fahrordnung halten sollen. Der Bürgermeister meint es gut und ist ehrlich, der Bundespräsident meint es vielleicht auch gut, aber kann eigentlich nicht ehrlich sein.

Das soziale Jahr wird vom Bundespräsidenten so ‚beworben‘, als ginge es darum, der spontanen Hilfsbereitschaft der Jungbürger eine Bühne zu bieten. Die Trebbiner wird das an die Lügenwelt erinnern, in der der real verblichene Sozialismus die Mitgliedschaft in der FDJ als wahren Ausdruck sozialer Berufung propagierte. Damit liegen sie nicht ganz falsch. Die heutigen Wessis vom Schlage Steinmeiers sind ebenso unehrlich wie die alten Ossis. Wenn sie das soziale Jahr als Ausdruck der Selbstlosigkeit preisen, verschleiern sie den Unterschied von freiwilliger und erzwungener Selbstlosigkeit.

Der Trebbiner Bürgermeister ist Kennedys „frage-nicht-was-dein-land-fuer-dich-tun-kann-sondern-was-du-fuer-dein-land-tun-kannst“ auf den Leim gegangen. Aber er will wenigstens politisch das Richtige. Steinmeier will nicht das richtige. Um das zu sehen reicht für gelernte Wessis eigentlich die Erinnerung daran aus, dass Wehrpflichtige in der BRD jeweils Jahre vergammeln mussten, obwohl eine Berufsarmee die Aufgabe besser erledigt hätte. Und die Gammelei der Jungbürger war keineswegs eine erfüllende Erfahrung, die die Identifikation mit dem Gemeinwesen gefördert hätte. Eher war das Gegenteil der Fall.

Gemeinsinn und Gemeiner Zwang
Die Stärke pluraler westlicher demokratischer Rechtsstaaten liegt gerade darin, dass sie über die Akzeptanz der Fahrordnung für den Verkehr unter freien Bürgern hinaus (was der Trebbiner Bürgermeister richtigerweise, wenn auch vielleicht nicht mit den richtigen Worten einfordert) kein Engagement für das Gemeinwohl erzwingen. Zur Wahrnehmung der staatlichen Sicherungsaufgaben kann es notwendig sein, Zwangssteuern zu erheben und manchmal auch Zwangsverpflichtungen – etwa im Katastrophenfall – vorzunehmen. Doch die Befürworter solchen Zwangs haben die Beweislast, dass er erforderlich und seine Anwendung zielführend ist.

Was das anbelangt, ist es sehr fragwürdig, ob dem Allgemeinwohl tatsächlich am besten gedient wird, wenn alle ihm in einem sozialen Zwangsjahr dienen müssen. Wie in allen Lebensbereichen spielen Arbeitsteilung, Spezialisierung und kontinuierliche berufliche Rollenerfahrung auch in der Erbringung von Gemeinschaftsaufgaben und der Bereitstellung kollektiver Güter eine zentrale Rolle. Nichts spricht dafür, dass solche Aufgaben effektiv erledigt und solche Güter effektiv bereitgestellt werden können, wenn man sich auf Amateure verlässt. Wer würde die Pflege durch einen zwangsverpflichteten, schlecht ausgebildeten und möglicherweise zur Sabotage an seinen Pfleglingen motivierten Hilfspfleger der Pflege durch eine ausgebildete und um Weiterbeschäftigung besorgten Fachkraft generell vorziehen? Was spricht eigentlich dafür, angesichts der Entwicklung moderner Militärtechnologie, die Bundeswehr mit Amateuren zu besetzen?

Was nichts kostet, ist auch nichts
Das klassische Argument, dass eine auf der Wehrpflicht beruhende Volksarmee weniger Putschgefahr beinhalten könnte als eine Berufsarmee hat lange Zeit womöglich etwas für sich gehabt. Die Ziele der Prävention militärischer Umstürze sind heute jedoch gewiss besser zu erreichen, indem man bürgernahe Milizen und Selbstverteidigungseinheiten parallel zur Armee einrichtet, sowie eine föderale Militärstruktur, die in der EU ohnehin angelegt ist, unterstützt. Darüber hinaus scheint es jedoch so, dass in modernen Armeen die Anzahl der von minder qualifizierten Hilfskräften durchführbaren Tätigkeiten begrenzt ist. Es spricht alles dagegen, die zur heutigen Kriegsführung notwendige Hochtechnologie von Zwangsrekruten bedienen zu lassen. Im Bereich der sozialen Dienste und der Gesundheitsversorgung ist das nicht anders.

Generell ist es eine fatale Einladung zum Missbrauch von Bürgern, wenn wir bzw. unsere Gemeinwohlagenten Leistungen erzwingen und sie damit erhalten können, ohne für sie zahlen zu müssen. Von Russland kann man sich aktuell vor Augen führen lassen, wie Staaten mit ihren eigenen und anderen Menschen umgehen, wenn sie auf Zwangsverpflichtungen zurückgreifen können. Sie veranschlagen Lebenszeit und Lebensglück der Bürger zu dem Preis, den sie zu zahlen haben, nämlich keinen. (Zu unserem Glück scheinen Organisation und Kampfeswille der russischen Militäreinheiten ungeachtet riesigen Aufwands und rücksichtsloser Kriegsführung nicht besonders hoch entwickelt.)

Wer Dienstleistungen in Anspruch nehmen will, der sollte einen Grund haben, sich genau zu überlegen, wofür und auf welche Weise er diese in Anspruch nehmen will. Wenn er nichts dafür zu zahlen hat, dann wird er sich diese Dinge jedoch nicht genau überlegen. Es ist absolut fatal, dass in Fällen wie dem eines sozialen Zwangsjahres die Kosten für die Allgemeinheit und deren staatliche Agenten nicht sichtbar werden. Diese Kosten existieren nicht nur für die Gezwungenen, die ein Jahr ihres Lebens nicht frei über ihre Arbeits- und Freizeit entscheiden können, sondern auch für diejenigen die von höher qualifizierten, freiwillig erbrachten Leistungen mehr haben würden als von den Produkten minder qualifizierter Zwangsarbeit.

Unser Interesse an hochqualifizierten, gut ausgebildeten Kräften, die ihre Leistungen am Arbeitsmarkt zu Konkurrenzlöhnen bereitstellen, überwiegt fundamental unser Interesse an den Leistungen gezwungener Arbeitskräfte. Es wird das Geheimnis der Steinmeiers dieser Welt bleiben, warum man jungen Menschen ausgerechnet die Jahre bzw. ein Jahr rauben soll, in dem sie besonders lernfähig sind und der Grenzbeitrag von Ausbildung zu einer Produktivität, die Ihnen und anderen nützt, gerade am höchsten ist.

Jene, die das soziale Jahr nur vorschieben, denen es aber primär um die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht geht, sollten ehrlich sein und das Kind beim Namen nennen. Um Effizienz sicherzustellen, ist es nicht nur von Bedeutung, die Effektivität (Schlagkraft) der Armee organisatorisch sicherzustellen, sondern auch eine klare Vorstellung des Verhältnisses von Ergebnis und dafür nötigen Aufwand zu haben. Das gleiche gilt für soziale Dienste etwa in Pflege und Gesundheitswesen. Ohne Arbeitsmärkte gibt es die relevanten Informationen einfach nicht. Die Opportunitätskosten fallen an, bleiben aber als implizite Steuern verschleiert.

Legitimer Zwang
Natürlich kann es Bedingungen und Gründe geben, unter denen eine Zwangsverpflichtung von Bürgern gerechtfertigt ist. Gemeinschaftserfahrung kann Gemeinschaftssinn fördern. Primitive Gesellschaften bedienen sich schließlich auch vielfältiger Initiationsriten, in denen sie typischerweise junge Männer aber manchmal auch junge Frauen zusammenbringen und externem Druck aussetzen.

Es spricht jedoch wenig dafür, dass ein gesellschaftsweites verpflichtendes soziales Jahr für junge Menschen zu einer Aktivierung von deren primitiven Sozialinstinkten und Identifikation mit dem Gruppenleben beitragen wird. Gemeinschaftserfahrung, das gemeinsame Singen vaterländischer Lieder, Massenaufmärsche, gemeinsame harte körperliche Arbeit usw. usw., das wären womöglich primitiv-kollektivistische Mittel um den Gemeinschaftssinn zu stärken. Wenn es nicht nur darum geht, jungen Menschen eine fatal ineffiziente Sondersteuer aufzuerlegen, sondern darum, den Gemeinschaftssinn zu stärken, dann muss die Zwangsarbeit des sozialen Jahres auch entsprechend organisiert werden. Auch hier müssen Nutzen und Ertrag einander gegenübergestellt werden.

Polierten Populismus mit ondulierter Silberzunge zu produzieren, ist nicht Aufgabe des Staatsoberhauptes. Etwas mehr Nachdenken, bevor er redet, würde weder dem Bundespräsidenten, als Amtsinhaber, noch dem Ansehen seines Amtes schaden. Ohnehin geht es nicht um komplexe Ordnungspolitik, sondern Ehrlichkeit. Es geht darum, in der Öffentlichkeit Zwang, Zwang zu nennen und die Kosten transparent zu benennen. Allgemeinwohlwahrer, die in ihren öffentlichen Äußerungen große Gruppen von Bürgern öffentlich als bloße Manövriermasse behandeln, werden der Verantwortung gegenüber den Prinzipien des freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaates nicht gerecht – vor allem nicht als Bundespräsident.

Blog-Beiträge zum Thema

Wolf Schäfer (2007): Wehrpflicht oder Freiwilligenarmee? Die Wehrstruktur aus ökonomischer Sicht

Wolf Schäfer (2010): Allgemeine Dienstpflicht: Die Inkarnation der Verschwendung

Michael Wohlgemuth (2011): Zur Ordnungsökonomik des Wehrdienstes: Zapfenstreich?

Jan Schnellenbach (2018): Mit der Dienstpflicht zur Gemeinschaft. Eine kleine Polemik

3 Antworten auf „Steinmeiers soziale Schnapsidee“

  1. Frank-Walter Steinmeiers Vorschlag zur Einführung einer Allgemeinen Dienstpflicht in Deutschland verstößt zudem massiv gegen Artikel 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Verbot der Zwangsarbeit bzw. Verbot der Sklaverei).

    (https://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ische_Menschenrechtskonvention)

    Es stellen sich zwei zentrale Fragen:

    1. Hätte Frank-Walter Steinmeier als ausgebildeter und promovierter Jurist nicht wissen müssen, dass sein Vorschlag fundamental gegen Europarecht verstößt?
    (Und Europarecht bricht ja bekanntlich nationales bzw. deutsches Recht.)

    2. Ist Frank-Walter Steinmeier als Bundespräsident (eher) eine Idealbesetzung oder (eher) eine Fehlbesetzung?

  2. Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages (2016), S. 7, kommen zu folgendem Ergebnis:

    „Die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht in Deutschland – sei es durch einfaches (Bundes-)Gesetz oder durch eine Verfassungsänderung (z.B. Schaffung eines Art. 12b GG) – würde gleichermaßen gegen das Verbot der Zwangsarbeit nach Art. 4 Abs. 2 EMRK verstoßen.“

    (https://www.bundestag.de/resource/blob/435758/a480927ce006d1454b4e076f65d881d6/WD-2-083-16-pdf-data.pdf)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert