Politik(er)beratung (5)
Wissenschaftliche Politikberatung als Herausforderung

Was ist die zentrale Herausforderung der wissenschaftlichen Politikberatung und welche Folgen ergeben sich für sie nach der „Zeitenwende“ aus dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine? Grundsätzlich ist wissenschaftliche Politikberatung langfristig, strukturell und konsistent angelegt. Politische Entscheidungen folgen aber in aller Regel politisch geprägten, kurzfristigen, selten gut vorhergesehenen Notwendigkeiten. Dann kommen wissenschaftliche Berater im „stand by“ nur zum Zuge, wenn ihre Kompetenz zu den Umsetzungswünschen und Umsetzungserfordernissen der Politiker passt. Das ist selten der Fall und so ist die meiste Politikberatung bestenfalls „angemaßt“ wissenschaftlich. Diese Beratung muss nicht schlecht sein, sie ist nur nicht wissenschaftlich. Sie schmückt die Beraterin und ermöglicht dem Entscheider eine leichtere Durchsetzung der eigenen Anliegen. Putins Ukrainefeldzug ist ein weiterer Rückschlag für eine rationale Weltpolitik, die sich an den Wohlfahrtsinteressen der Menschen orientiert.

Was ist wissenschaftliche Politikberatung?

Wissenschaftliche Politikberatung ist evidenzbasiert und erfolgt durch Personen, die an der wissenschaftlichen Evidenzgewinnung mitwirken.[i] Diese zeigt sich in aller Regel durch Publikationen in referierten Fachzeitschriften, die durch ein Begutachtungssystem die Qualität der vorgelegten Arbeiten kontrollieren. Sie genügen somit den wissenschaftlichen Standards der jeweiligen Profession. Beispielsweise legt der Politiker und Wissenschaftler Karl Lauterbach bei Aussagen zu Coronastudien Wert darauf festzustellen, ob zur politischen Nutzung bestimmte wissenschaftliche Studien bereits das Akzeptanzurteil einer Fachzeitschrift haben oder eben nicht. Die meisten Beratungen durch Wissenschaftler im ökonomischen Raum durchlaufen jedoch solche externen anonymen Prüfungsanforderungen nicht. Beispiele sind die Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und die Gemeinschaftsgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute. Eine Publikationspflicht sichert zwar eine öffentliche (Nach-) Diskussion. Aber warum gibt es keine externen Gutachter und Gutachterinnen für diese Gutachten?

Eine Lösung für die Anforderungen könnte eine regelmäßige wissenschaftliche Aufarbeitung aller relevanten Studien zu wichtigen Politikfragen sein, wie sie bsw. von Akademien der Wissenschaften, Denkfabriken der Europäischen Union oder durch Literatursurveys in Fachzeitschriften (das letztgenannte sogar mit Begutachtung) vorgelegt werden. Diese Evaluationsstudien werden aber zu wenig zu politiknahen Themen vorgenommen. Das strukturelle Problem ist auch, dass der wissenschaftliche Begutachtungsprozess Jahre dauern kann und nicht mit den praktischen, raschen Entscheidungsnotwendigkeiten der Politik Schritt hält. Benötigt werden also „Vorratsstudien“, die schon vorliegen, bevor das Problem virulent wird. Aber auch ex post – Analysen der Beratungspraxis sind sehr nützlich.[ii]

Auch muss in großen Krisensituationen wie der gerade ablaufenden Covid-19 Pandemie substanzieller reagiert werden: Zwar soll Ende Juni eine Expertenkommission der Bundesregierung eine Evaluation der Carona-Maßnahmen vorlegen, aber bereits jetzt gibt es Zweifel, ob die dafür benötigte Personalausstattung und der Zeitbedarf ausreichen, und ob überhaupt hinreichend detaillierte deutsche Infektions- und Verhaltensdaten vorliegen. Der erfolgreiche wissenschaftliche Evaluationsprozess sollte ja bereits eingeleitet werden, bevor die Maßnahmen beginnen. Davon war in Deutschland nicht viel zu sehen. Ein Gutteil des Wissens wird man sich durch Literaturstudium aus den Erfahrungen anderer Länder erwerben müssen.

Politik in der Beratung

Der wissenschaftliche Politikberater, die Politikberaterin brauchen Zeit, die die Politik meistens nicht hat, und Unabhängigkeit, was politisch lästig ist. Das Einzelinteresse als Wissenschaftler ist, originell zu sein und sich vom Mainstream abzusetzen. Das sichert Publikationserfolg in Wissenschaft und Medien. Politikberatung erfordert aber eine sichere, breite Basis, wie sie der Mainstream liefert. Es ist also für die Politik gefährlich, Einzelstimmen zu folgen. Wird die Beraterin zum Medienakteur, dann wird sie zum Rivalen der Politik.

Erfolgreiche Politik muss Kompromisse organisieren und Fehler vermeiden. Es ist für sie wichtiger zu tun, was die eigenen Anhänger glauben, was richtig ist, als das, was das wissenschaftlich fundierte tatsächlich ist. Politische Prioritäten dominieren fachliche. Trotz des beträchtlichen Anstiegs an Wissen ist auch die Dominanz der Politik im Beratungsprozess angestiegen. Dies zeigt nicht zuletzt der Ukraine-Krieg, der die Politik-Ansätze ganzer Generationen auf den Kopf stellt. Aber die „Zeitenwende“, die Hinwendung zur Dominanz des Politischen bei der Gestaltung gesellschaftlicher Realität, findet seit langem längst global statt.

Natürlich will Politik das Richtige tun; man hat Mandat und Verpflichtung, und will die nächste Wahl gewinnen. Wie sollen da selbst ambitionierte Durchrechnungen einzelner „Jungs und Mädels“ (Olaf Scholz) weiterhelfen? Insbesondere wenn sie wie beim Ukrainekrieg aus dem Stand heraus die Konsequenzen dramatischer struktureller Veränderungen simulieren wollen, wie sie bisher noch nicht annährend beobachtet wurden. Und im Brustton der Alleinvertretung vorgetragen werden. Schon beim Klimawandel setzt sich Politik erst nach jahrelangem mühseligem Beratungsprozess, im Wesentlichen über die Medien, langsam in Bewegung.

Der wissenschaftliche Berater ist also für die Politik meistens ein Störenfried[iii] und zumindest ein Konkurrent, wenn er nicht für die eigenen Zwecke instrumentalisiert werden kann. Er wird zwar respektiert, aber (besser) auch diszipliniert. Quasi-unabhängige Beratungsinstitutionen der Wirtschaftspolitik wie bsw. der Sachverständigenrat und die Gemeinschaftsdiagnose werden selektiv besetzt. So werden zwei Positionen des fünfköpfigen Sachverständigenrates aufgrund gesellschaftspolitischer Nominierungen ausgewählt. Die Turbulenzen in der letzten Zeit bei der Restbesetzung und die letzte Praxis der Arbeit zeigen eine zunehmende politische Neutralisierung des Gremiums.

Evidenzbasierte wissenschaftliche Politikberatung beruht auf in Publikationen geronnene Forschung, transportiert in Gutachten, persönlichen Beratungen von Entscheidern oder Reflektionen in den Medien.[iv] Medienarbeit ermöglicht der Wissenschaftlerin einen indirekten Zugang zur Politik, in dem demokratisch-offen für die eigene Forschung und ihre Konsequenzen geworben werden kann (Agenda-Setting). Sie erleichtert auch den Zugang zu Gutachten und persönlichen Beratungen, in denen das Primat der politischen Interessen des zu Beratenden im Vordergrund steht. Ein wichtiger Akzent ist hier, Handlungsalternativen für Entscheidungen sichtbar zu machen.

Politikberatung nach der „Zeitenwende“

Evidenzbasierte wissenschaftliche Politikberatung diente im Zeitalter der Globalisierung und des Neoliberalismus der unbefangenen Orientierung des gesellschaftlichen Fortschritts und der globalen Wohlfahrtssteigerung an der Identifikation der bestmöglichen Strategien und Handlungen. Das bedeutete Wandel durch Handel, Austausch und Kooperation, möglichst global im Vertrauen auf die Zuverlässigkeit und die wohl verstandenen wirtschaftlichen Interessen der Anderen. Die neue Dominanz des Politischen bedroht die Vorzüge des Internationalen, der Diversität und der Kooperation, sie schränkt flexiblere wirtschaftliche und gesellschaftliche Lösungen ein. Das muss zu (zumindest wirtschaftlichen) Wohlfahrtsverlusten führen.

Nun kann gerade die Disziplin der Ökonomen mit „Restriktionen“ gut umgehen, am Geschäftsmodell ökonomischer Politikberatung sollte sich also nichts ändern müssen. Nachhaltige evidenzbasierte wissenschaftliche ökonomische Politikberatung wird sich aber weiter um eher langfristige strukturelle Zusammenhänge kümmern müssen. Dem kommt entgegen, dass sich die Ampel-Koalition eigentlich langfristigen Aufgaben wie Gleichheit, Klimaschutz, Digitalisierung und Budgetstabilität verschrieben hat. Zwar verändert der Ukrainekrieg die Politikparameter langfristig gewaltig, entlässt die Politik aber nicht aus ihren Versprechungen. Militarisierung und wirtschaftliche Abgrenzung sind starke neue Stichworte langfristiger Politikstrategien. Dabei fehlen noch lange übersehene Bedrohungen wie Inflation, neue Euro-Krisen, Demographie, Flüchtlinge, Fachkräftemangel und Pandemien.

Also werden die nötigen Antworten komplexer und erfordernd noch mehr langfristiges und konzeptionelles Herangehen. Dies verlangt nach mehr, nicht weniger, evidenzbasierter wissenschaftlicher Politikberatung. Dies könnte die inhärenten Spannungen zwischen Beratung und Politik mildern und eine Weiterentwicklung der Instrumentarien evidenzbasierter Politik fördern: Die routinisierte Begutachtung der Beratung sowie politischer Reformen selbst und die ständige Auswertung wissenschaftlicher Literatur zur Simulation und Bewertung von Schlüsselfragen künftiger Entwicklung.

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[i] K. F. Zimmermann: Lobbyisten der Wahrheit, Deutsche Universitätszeitung (DUZ), 3 (2015), 14-15, sowie K. F. Zimmermann: Evidenzbasierte wissenschaftliche Politikberatung, Schmollers Jahrbuch, 134:3 (2014), 259-270.

[ii] Ein gutes Beispiel ist: Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose: Ex-post-Bewertung der gesamtwirtschaftlichen Projektion der Bundesregierung und der Haushaltsprognose des Bundesministeriums der Finanzen für die Jahre 2017 bis 2020. Halle (Saale), 2021.

[iii] K. F. Zimmermann: Der Berater als Störenfried: wirtschaftswissenschaftliche Politikberatung, Wirtschaftsdienst, 88 (2008), 101-107.

[iv] K. F. Zimmermann: Advising Policymakers through the Media, Journal of Economic Education; Fall 2004; 35, 4; 395-405.

Blog-Beiträge der Serie “Politik(er)beratung”

Achim Wambach: Notizen zur wirtschaftspolitischen Beratung durch die Wissenschaft

Friedrich Schneider: Politikberatung in Österreich im Unterschied zu Deutschland. Einige persönliche Anmerkungen

Gert G. Wagner: Mehr Forschungsbasierung der (Bundes)Politik (?)

Roland Vaubel: Realistische Politikberatung

Klaus F. Zimmermann

3 Antworten auf „Politik(er)beratung (5)
Wissenschaftliche Politikberatung als Herausforderung“

  1. Wie stellt sich der Kollege vor, Politikberatung wissenschaftlich zu evaluieren? Da kann man eigentlich wissenschaftlich nur den Prognose-(Miss-)Erfolg feststellen, wie das Tetlock vorexerziert hat. Man hat das Gefühl, dass dem Kollegen aber noch andere Maßstäbe als der technologisch nomologische Gehalt (i.s. von H und M Albert) als Qualitätskriterium vorschweben. Etwa der endemische Unfug der Wohlfahrtstheorie. Wenn das so ist, dann denkt er implizit an eine Politikberatung, die auch etwas dazu sagt, was getan werden soll. Das ist aber mit der Wertneutralität der Wissenschaft nicht vereinbar.

    Daneben kann es natürlich auch ein Bedürfnis geben, Wissenschaftlermeinungen dazu einzuholen, was man nach dem Urteil des betreffenden Wissenschaftlers tun sollte. Das bleiben aber Wissenschaftlermeinungen. Was diese anbelangt, ist es nicht mehr klar, ob nicht auch weltanschauliche Hintergründe für die Zusammensetzung eines Beratungsgremiums legitim eine Rolle spielen könnten. Es hat u.U. einen eigenen Informationswert, dass ein linker oder rechter Wissenschaftler, der aber ein informierter Wissenschaftler ist — was man von den Mitgliedern etwa des deutschen Ethikrat(los)es nicht Immer behaupten darf — zu einem bestimmten Vorgehen rät. Ansonsten wäre es gewiss besser, wenn Wissenschaftler als Wissenschaftler nicht sagen würden, was man tun sollte, sondern was die voraussichtlichen Folgen alternativer Interventionen sein werden.

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