Die EZB und das aktuelle Inflationsumfeld
Die Konsumentenpreisinflation im Euroraum ist stark angestiegen. Die Erwartung der Deutschen Bundesbank (2022), dass die Inflationsraten in Deutschland bald zweistellig sein würden, ist eingetreten. Der Verbraucherpreisindex (VPI) für Deutschland ist im September 2022 gegenüber dem Vorjahresmonat um 10,0% gestiegen, der Harmonisierte Konsumentenpreisindex (HVPI) um 10,9% (siehe Abbildung 1).
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Trotz der jüngsten Zinserhöhung um 75 Basispunkte hinkt die Europäische Zentralbank (EZB) der US-amerikanischen Zentralbank Fed bei der geldpolitischen Straffung hinterher. Das hat den Euro unter Abwertungsdruck gebracht, was die Inflation via steigende Importpreise weiter erhöht. Rasant steigende Erzeugerpreise gewerblicher Produkte (+45,8% im August 2022) und der verzögerte Einfluss steigender Energiepreise auf die Konsumentenpreise (Sonnenberg 2022) deuten auf eine anhaltend hohe Konsumentenpreisinflation hin. Reuters spricht inzwischen von Deutschlands glühend-heißer Inflation!
Ursachen der Inflation
Zwar hat in den letzten Monaten der Ukraine-Krieg maßgeblich zu stark steigenden Energiepreisen und damit zu der hohen Konsumentenpreisinflation beigetragen, doch liegen die Wurzeln der Inflation tiefer. Die EZB hat sich von ihrem in den europäischen Verträgen verankerten Mandat der Preisstabilität entfernt, indem der geldpolitische Rahmen schrittweise verändert wurde (Stark, Mayer und Schnabl 2021). In der Kommunikation der EZB haben der Zusammenhalt des Euroraums (Draghi 2020), Klima- und Umweltziele (Lagarde 2022) sowie indirekt durch das Transmissionsschutzinstrument (EZB 2022) die fiskalische Stabilität einzelner Eurostaaten eine größere Bedeutung erhalten.
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Die Bilanz der EZB ist von knapp 700 Milliarden Euro im Januar 1999 auf fast 9000 Milliarden Euro angewachsen, was insbesondere durch den umfangreichen Ankauf von Staatsleihen (sowie Gezielte Längerfristige Refinanzierungsgeschäfte) getrieben ist. Die Geldmenge M1 ist über zwei Dekaden hinweg deutlich stärker gewachsen als die Menge aller produzierten Güter und Dienstleistungen, was nach Friedman (1963) ein deutliches Inflationspotenzial geschaffen hat. Der Anstieg der Inflation im Euroraum kommt deshalb nicht überraschend (Schnabl und Sepp 2021, Schnabl und Sepp 2022).
Formen der Inflation
Dass die offiziell gemessene Konsumentenpreisinflation im Euroraum erst seit Mitte 2021 deutlich angestiegen ist, könnte daran liegen, dass der HVPI, an dem die EZB ihre Geldpolitik ausrichtet, nur teilweise Inflationsdruck abbildet. Stark steigende Aktien- und Immobilienpreise sowie die Preise von öffentlichen Gütern werden nicht erfasst (Schnabl und Sepp 2021). Eine auf Industriegüter fokussierte Qualitätsanpassung sowie die Veränderungen der Gewichte im Preisindex zugunsten von Gütern mit geringen Preissteigerungen könnten die Preismessung nach unten verzerrt haben.
Im HVPI werden die Preise von selbstgenutztem Wohneigentum im Gegensatz zu anderen Ländern nicht berücksichtigt (Herborn und Schnabl 2022). Obwohl zwischen 2003 und 2007 die Immobilienpreise in einigen südeuropäischen Eurostaaten stark gestiegen sind, hat die EZB deshalb nicht auf die Übertreibungen reagiert, was die europäische Finanz- und Schuldenkrise begünstigt hat. Vom offiziellen Konsumentenpreisindex nicht erfasste Kaufkraftverluste könnten erklären, warum die von der Europäischen Kommission (2022) gemessene gefühlte Inflation im Euroraum deutlich höher als die offiziell gemessene Inflation liegt.
Regulierung, Energiepreise und Deglobalisierung
Ein wesentlicher Faktor für steigende Kosten sind wachsende Regulierungen, insbesondere für Industrie, Handwerk und Banken (Schnabl 2022). Zwar konnten lange Zeit diese Kostensteigerungen dadurch kompensiert werden, dass die EZB die Finanzierungskosten senkte und in Krisen Unternehmen mit umfangreichen Hilfskrediten und Hilfszahlungen gestützt wurden. Mit den von der EZB anvisierten Zinssteigerungen werden sich jedoch die Finanzierungskosten der Unternehmen erhöhen und das Potenzial für Staatshilfen wird eingeschränkt. Das schafft einen auf Regulierung zurückgehenden Inflationsdruck, der in Zukunft durch weitere Umweltregulierungen, Lieferkettengesetze sowie weiter ausgeweitete Arbeitnehmerrechte verstärkt werden dürfte.
Die Energie- und Rohstoffpreise werden auch von der Geldpolitik beeinflusst. Das könnte erklären, warum die Energiepreise schon seit Mitte 2021 gestiegen sind. Eine expansive Geldpolitik erhöht die gesamtwirtschaftliche Nachfrage (Konsum, Investitionen, Staatsnachfrage), sodass auch die Nachfrage nach Energie und Rohstoffen steigt. Die anhaltend lockeren Geldpolitiken haben zudem eine Flucht in Sachwerte ausgelöst, was neben Aktien und Immobilien auch Rohstoffe einschließen kann.
Energie- und rohstoffproduzierende Länder haben hohe Dollar- und Euroreserven, die durch Inflation in den USA und dem Euroraum entwertet werden. Diese Länder können den Wertverlust durch höhere Energie- und Rohstoffpreise kompensieren. Sind die Preisanstiegserwartungen einmal verfestigt, kommt es zur Hortung, was die Nachfrage zusätzlich erhöht. Während die Öffnung von Nordstream 1 im November 2011 zu deutlich sinkenden Gaspreisen und damit einem deflationären Druck bei den Konsumentenpreisen beigetragen hat, wird die Rückkehr zu stärker regional differenzierten Energieimporten mit steigenden Preisen verbunden sein.
Seit der Jahrtausendwende haben die zunehmend lockeren Geldpolitiken der großen Zentralbanken zu großen Kapitalflüssen nach China geführt. Die so finanzierte starke Ausweitung der Produktionskapazitäten in China trug maßgeblich über billige Importgüter zu niedriger Konsumentenpreisinflation in den Industrieändern bei. Die Produktionsverlagerungen nach China haben zudem die Lohnforderungen der Gewerkschaften eingegrenzt. Dieser „Überglobalisierungsprozess“ hat jedoch in Verbindung mit den negativen Wachstums- und Verteilungseffekten der anhaltend lockeren Geldpolitiken in den Industrieländern globalisierungskritische Strömungen gestärkt. Die daraus entstandene Forderung nach Handelsschranken und mehr inländischer Produktion (Deglobalisierung) führt zu steigenden Produktionskosten und Konsumentenpreisen.
Corona-Maßnahmen und Lohn-Preis-Spiralen
Die Coronamaßnahmen haben die Konsumentenpreisinflation beschleunigt, weil das Pandemische Notfallkaufprogramm der EZB und große Hilfszahlungen der Eurostaaten noch einmal sehr viel mehr Geld in Umlauf gebracht haben, das nach Ende der Lockdowns die gesamtwirtschaftliche Nachfrage angeheizt hat. Da der Anstieg der Konsumentenpreisinflation von wichtigen EZB-Vertretern lange Zeit als unwahrscheinlich bzw. als vorübergehend kommuniziert wurde, wurden die Arbeitnehmer von der Inflation überrascht. Da die Lohnabschlüsse aufgrund niedriger Produktivitätszuwächse und der Lohnkonkurrenz aus China lange Zeit schwach waren, ist der finanzielle Spielraum für viele Arbeitnehmer gering. Ersparnisse in Form von Bankeinlagen und Bargeld werden durch die hohe Inflation real entwertet, was die Sorge um die Alterssicherung erhöht.
Die Gewerkschaften und Arbeitnehmer haben jedoch nun eine höhere Verhandlungsmacht, weil in der Corona-Krise die sehr umfangreichen staatlichen (von der Zentralbank indirekt finanzierten) Rettungspakete und Konjunkturprogramme einen deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit verhindert haben. Zudem ist die Beschäftigung im öffentlichen Sektor in den letzten Jahren maßgeblich gewachsen. Eine immer noch sehr gute soziale Sicherung dürfte dazu beitragen, dass viele potenzielle Arbeitnehmer nur zögerlich in den Arbeitsmarkt eintreten, lange Ausbildungszeiten haben bzw. früher in Rente gehen.
Der Mindestlohn wurde bereits stark angehoben, was auch einen Auftrieb in anderen niedrigen Lohnsegmenten nach sich ziehen dürfte. Aufgrund der gestiegenen Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass hohe Lohnabschlüsse auf breiter Front bevorstehen. Das wird die Arbeitgeber zu Preiserhöhungen zwingen, die zudem leichter durchzusetzen sind, da die Inflationserwartungen bereits deutlich angestiegen sind. Die Lohnabschlüsse dürften jedoch unter den Inflationsraten bleiben, da die anhaltend lockere Geldpolitik der EZB via billige Finanzierungsbedingungen dazu beigetragen hat, dass die Produktivitätsgewinne im Trend gefallen sind. Mit einer weiterwachsenden Regulierung, steigenden Energiepreisen, Deglobalisierung sowie immer mehr Preiskontrollen dürfte das Produktivitätsniveau weiter sinken.
Lösungsansätze
Preisdeckel und Subventionen für Unternehmen lösen das Inflationsproblem nur auf die kurze Frist. Denn durch die damit verbundenen zusätzlichen Haushaltsdefizite der Staaten wird der Druck auf die EZB aufrechterhalten, weiter Staatsanleihen zu kaufen, was in Widerspruch zu den von der EZB anvisierten Zinserhöhungen steht. Das Kernproblem, dass über einen langen Zeitraum hinweg die zunehmend expansiven Geld-, Finanz- und Regulierungspolitiken marktwirtschaftliche Prinzipien wie Währungsstabilität, Haftung, Wettbewerb, Vertragsfreiheit, flexible Preise und Konstanz der Wirtschaftspolitik[1] unterhöhlt haben, bleibt bestehen.
Die wichtigsten Schritte für die Reduzierung der Inflation sind deshalb die graduelle Erhöhung der Leitzinsen und ein Ende der Staatsanleihekäufe der EZB. Eine solche geldpolitische Straffung würde über die gesamtwirtschaftliche Nachfrage den Inflationsdruck dämpfen und auch den Anstieg der Immobilienpreise eindämmen. Da sich dadurch die Finanzierungsbedingungen für die Eurostaaten verteuern werden, müssten die Eurostaaten ihre Ausgaben auf der Grundlage von Strukturreformen konsolidieren. Die staatlichen Hilfsleistungen müssten auf die bedürftigen Bevölkerungsgruppen beschränkt bleiben und könnten bei sinkender Inflation auslaufen.
Die entsprechenden Leitlinien geben die in Deutschland in der Verfassung verankerte Schuldenbremse sowie auf europäischer Ebene die Maastricht-Kriterien im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts vor. Da langfristig und aus historischer Sicht Inflation meist mit überbordenden Ausgabenverpflichtungen des Staates verbunden war (Buchanan und Wagner 1977, Selgin und White 1999), sind nachhaltige Haushaltspolitiken und das Einhalten der verfassungsrechtlichen Schuldengrenzen wichtige Voraussetzungen für eine vorausschauende Bekämpfung der Inflation.
Die europäischen Unternehmen würden bei steigenden Zinsen zu Effizienzgewinnen angeleitet, die – unterstützt durch Deregulierung – auf die mittlere Frist sinkende Produktionskosten und gesamtwirtschaftliche Produktivitätsgewinne mit sich bringen würden. Die Rückkehr zu Preisstabilität, Haushaltsdisziplin und marktwirtschaftlichen Prinzipien würde wieder steigende Reallöhne ermöglichen, so dass die aktuellen realen Einkommensverluste nicht von Dauer wären. Die wirtschaftliche Basis der Sozialsysteme der Eurostaaten würde gesichert. Die politische Zufriedenheit würde wieder zunehmen. Die Menschen in Europa könnten wieder besseren Perspektiven entgegensehen.
Literatur:
Deutsche Bundesbank (2022): Monatsbericht, September 2022.
Buchanan, J. und Wagner, R. (1977): Democracy in Deficit: The Legacy of Lord Keynes. Indianapolis, Liberty Fund.
Draghi, M.(2012): Verbatim of the Remarks Made by Mario Draghi. Speech by Mario Draghi at the Global Investment Conference in London 26 July 2012, online.
Eucken, W. (1952): Grundsätze der Wirtschaftspolitik. Tübingen, Mohr Siebeck.
Europäische Kommission (2022): Qualitative and Quantitative Inflation Perceptions, online
EZB (2022): The Transmission Protection Instrument. Press Release 21 July 2022, online.
Friedman, M. 1963: Inflation, Causes and Consequences, New York, Asian Publishing House.
Herborn, A. und Schnabl, G. (2022): Wohnimmobilienpreise, Inflationsmessung und Geldpolitik im Euroraum. Wirtschaftsdienst, 102(5), 402-407.
Lagarde, Christine (2022): Interview with Madame Figaro. Interview with Christine Lagarde conducted by Morgane Miel on 13 July 2022 and published on 25 August 2022, online.
Schnabl, G. (2022): Regulierung schafft Inflation – wir brauchen den Rückzug des Staates. Die Welt Online 06.06.2022.
Schnabl, G. und Sepp, T. (2021): Inflationsziel und Inflationsmessung in der Eurozone im Wandel. Wirtschaftsdienst, 101(8), 615-620.
Selgin, G. und White, L. (1999): A Fiscal Theory of Government’s Role in Money. Economic Inquiry, 37(1), 154-165.
Sonnenberg, N. (2022): Zum Einfluss der jüngsten Gas- und Strompreisanstiege auf die Verbraucherpreise. Kiel Insight, 2022.07.
Stark, J., Mayer, T. und Schnabl, G. (2020): Geldpolitik ist eine Kunst. Die Welt Online, 20.06.2020.
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[1] Zu den acht konstituierenden Prinzipien einer marktwirtschaftlichen Ordnung siehe Eucken (1952).
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