Die Vizedirektorin des Internationalen Währungsfonds (IWF) Gita Gopinath hat vor Kurzem einige Aufmerksamkeit durch ein Interview mit dem Handelsblatt auf sich gezogen, in dem sie Finanzminister Christian Lindners Streben nach der Einhaltung der Schuldenbremse im kommenden Jahr unterstützte. Die spannendere Aussage ihres Interviews, dass der Winter 2022/23 schwierig werde, aber der Winter 2023/24 noch schlimmer werden könne, wurde dagegen in der breiten Öffentlichkeit wenig thematisiert. Dies ist ein Fehler, denn tatsächlich bewirken fast gefüllte Gasspeicher und das (etwas kindisch) „Doppelwumms“ genannte Entlastungspaket der Bundesregierung nur eine trügerische Ruhe. Es mag sein, dass Deutschland mit einem blauen Auge durch den nächsten Winter kommt, doch im Frühjahr werden die Gasspeicher voraussichtlich leer sein. Und was wird dann passieren?
Hinter Gopinaths Sorge steht eine einfache Rechnung bezüglich der Zu- und Abflüsse aus den deutschen und europäischen Gasspeichern. Weil im vergangenen Winter russisches Gas nach Deutschland geliefert wurde und somit ein Teil des Abflusses aus den Gasspeichern durch stete Zuflüsse kompensiert wurde, betrug ihre Befüllung zum Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine etwa 30 Prozent und zum Ende der Heizsaison ein paar Wochen später 25 Prozent. Von dieser Grundbefüllung ausgehend baute sich dann durch fortgesetzte, wenn auch stetig sinkende russische Lieferungen bis zum endgültigen Lieferstopp Anfang September die Basis für die hohen Füllstände auf, die den Bundesbürgerinnen und -bürger heute eine Perspektive geben, „gut“ durch den nächsten Winter zu kommen. Verstärkt wurde der Aufbau der Reserven in den vergangenen Monaten durch erhöhte Lieferungen aus anderen Ländern sowie Einsparungen der Haushalte und insbesondere der Industrie.
Doch sollte man sich keinen Illusionen hingeben. Im Gegensatz zu der Situation und Entwicklung in den letzten zwölf Monaten werden die Deutschen in der Wintersaison 2022/23 und im Jahr 2023 gänzlich ohne russische Gaslieferungen auskommen müssen. Dies bedeutet, dass die Gasspeicher am Ende des Winters (unter der Annahme ungefähr gleicher Temperaturen wie im vergangenen Jahr) höchst wahrscheinlich deutlich weniger gefüllt sein werden als zwölf Monate zuvor und dass die Befüllung der Gasspeicher im Laufe des nächsten Jahres nicht durch (noch so geringe) Zuflüsse aus Russland unterstützt werden wird.
Es verbleiben damit die heimischen Sparanstrengungen (einschließlich der Substitution von Gas durch andere fossile Brennstoffe) und das Erschließen neuer Quellen, um eine annähernd gleich schnelle Befüllung wie Anfang 2022 zu ermöglichen. Die leicht erzielbaren Einsparungen werden jedoch bereits heute umgesetzt, weil sie sich aufgrund der seit Monaten hohen Preise unmittelbar lohnten. Zusätzliche Einsparungen werden (technisch) deutlich schwieriger zu erreichen sein. Bei den neuen Quellen dürfte die Lage besser aussehen, u.a. durch die Möglichkeiten, die die neuen LNG-Terminals an Deutschlands Küsten eröffnen. Jedoch dürften die Preise für Flüssiggas hoch bleiben oder sogar weiter steigen, weil Deutschland und andere europäische Staaten verstärkt darum konkurrieren werden (Deutschlands hohe Zahlungsfähigkeit und -bereitschaft verärgern dabei bereits jetzt manche europäische Partner). Die Wahrscheinlichkeit, dass Deutschland mit prall gefüllten Gasspeichern in den Winter 2023/24 geht, ist daher gering – anders als die Kosten, die mit dem Aufbau der Gasreserve einhergehen.
Diese trüben Aussichten können nicht getrennt werden von anderen wirtschaftlichen Entwicklungen, die in mittel- oder unmittelbarem Zusammenhang mit der Lage bei der Energieversorgung stehen. Die hohen Energiekosten treiben die Preise in vielen Sektoren, was zu Realeinkommensverlusten bei den Bürgerinnen und Bürgern führt; zugleich gefährden sie die Wettbewerbsfähigkeit zahlreicher deutscher Unternehmen, vor allem gegenüber nordamerikanischen und asiatischen Konkurrenten. Auch führen die hohen Inflationsraten nach und nach zu einer Straffung der Geldpolitik, die zusammen mit den zunehmenden Sorgen um die Arbeitsplätze sowie den wirtschaftlichen Erfolg in den kommenden Monaten der Konjunktur zusetzen werden. Der Euro dürfte schwach bleiben (oder noch weiter abwerten), wobei der Import von weiterer Inflation stärker als die leichten Exportvorteile durch den günstigeren Euro ins Gewicht fallen dürfte. Für den Industriestandort Deutschland kommen erschwerend die nach wie vor großen globalen Lieferkettenprobleme hinzu, derweil das zu befürchtende Schwächeln der europäischen Volkswirtschaften sowie einiger Schwellenländer Deutschlands exportgetriebenes Wirtschaftsmodell unter Druck setzt.
An dieser Stelle schließt sich ein Kreis in Gopinaths Interview, denn es stellt sich die Frage nach der Reaktion der Politik auf diese äußerst schwierige and angespannte Gemengelage. Gopinath bezieht sich vor allem auf das – schon vor dem Ukraine-Krieg absehbare – Problem der sehr expansiven Fiskalpolitik. Einerseits haben viele Staaten im zweiten Jahr der Corona-Pandemie fiskalische Unterstützungsprogramme aufgelegt, die teilweise prozyklisch wirkten und die anziehende Nach-Corona-Konjunktur anheizten; andererseits sorgten allerlei Entlastungsprogramme zur Abfederung der Folgen des Kriegs insbesondere bei den Energiekosten für einen letztlich zu geringen Rückgang der Nachfrage nach Energie. Eine ausgabenseitige Zurückhaltung des Staates kann zumindest einen kleinen Beitrag leisten, um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und das gesamtwirtschaftliche Angebot wieder näher zusammenzubringen. Den Rest wird nach und nach die konjunkturelle Abschwächung in Kombination mit einer langsamen Ausweitung des Energieangebots erledigen.
Die Lage im Winter 2023/24 wird all dies nur unter nahezu idealen Bedingungen entschärfen. Realistischer dürfte ein Szenario sein, indem weiterhin hohe Energiepreise auf eine schwache Konjunktur mit möglicherweise steigender Arbeitslosigkeit treffen. Gerade für ärmere Haushalte könnten dann hohe private Ausgaben auf verringerte Einkommen treffen, sodass substanzielle staatliche Unterstützungsmaßnahmen für recht breite Bevölkerungsschichten notwendig bleiben werden. Eine vorausschauende Politik würde in einer solchen Situation „das Pulver trocken halten“, um bei einem ungünstigen Verlauf, etwa einem ungewöhnlich kalten Winter oder einer scharfen konjunkturellen Abkühlung, finanzielle Spielraum für Hilfen zu behalten. Nicht anders zu verstehen, ist die Aufforderung Gopinaths, das Ziel der Schuldenbremse nicht leichtfertig aufzugeben, um sich fiskalischen Spielraum für derartige Maßnahmen zu erhalten. Eventuell wollte sie zusätzlich auch den Verzicht auf deutsche Alleingänge à la „Doppelwumms“, die innerhalb Europas für Ungleichgewichte sorgen können, anmahnen. Man muss kein Fan der Schuldenbremse sein, um den Wert fiskalischer Zurückhaltung des Staates in der momentan noch relativ gut beherrschbaren Situation zu erkennen.
Betrachtet man allerdings die politischen Reaktionen auf die Herausforderungen in den vergangenen Monaten, dann ist für Optimismus wenig Platz, dass die Bundesregierung sich von derartigen Überlegungen leiten lässt. Es gab ökonomisch unsinnige Treibstoffsubventionen, das zielungenaue 9-Euro-Ticket (das zudem einen problematisch niedrigen Preisanker gesetzt hat) und als Krönung eine Debatte über die Laufzeit von Kernkraftwerken, die nur unter Einsatz der Richtlinienkompetenz des Kanzlers beendet werden konnte. Auch die Ankündigung des 200-Millarden-„Doppelwumms“-Programms zur Abfederung hoher Energiepreise, ohne zunächst eine wirkliche Idee (außer der Einsetzung einer Kommission) zu haben, wie dieses Programm anreizkompatibel umgesetzt werden könnte, passt in diese Richtung.
Macht die Bundesregierung so weiter wie in den vergangenen Monaten, dann lässt sich der Verlauf des Jahres 2023 schon jetzt erahnen. In bester Corona-Pandemie-Manier wird sich Deutschland nach einem schwierigen Winter über die nach dem Ende der Heizperiode im Frühjahr sinkenden Energiepreise freuen und „Business as usual“ betreiben. Irgendwann im Spätsommer oder Herbst wird die Zahl der mahnenden Stimmen anschwellen und darauf hinweisen, dass im Sommer nichts passiert sei, um sich für den Winter zu rüsten. Im Spätherbst 2023 wird die Bundesregierung nach längerem internen Streit realisieren, dass nun – noch vor oder erst nach den Landtagswahlen in Bayern und Hessen? – wirklich der Zeitpunkt zum Handeln gekommen ist. Kanzler, Vizekanzler und Finanzminister werden dann gemeinsam vor die Presse treten und einen ordnungspolitisch noch wilderen „Quadruplewumms“ verkünden.
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