Das Kind ist in den Brunnen gefallen: Griechenland darf sich auf einen Bailout freuen, der für den 10. Mai geplante formale Beschluß durch die Regierungschefs der Mitgliedstaaten dürfte nur noch Formsache sein. Voraussetzung ist zwar, daß die griechische Regierung vorher noch ein rigides Sparprogramm vorlegt. Aber auch dies sollte problemlos möglich sein – schließlich geht es einstweilen nur um die Vorlage eines Plans und nicht um dessen tatsächliche Durchsetzung.
Seitdem die Irrelevanz der No-Bailout-Klausel unter finanzpolitischen Praktikern allgemein akzeptiert ist, dürfte jedermann klar sein, daß das Papier auf dem europäische Vereinbarungen fixiert werden äußerst geduldig ist. Man wird europäische Beschlüsse in Zukunft nicht mehr allzu ernst nehmen müssen. Auch wenn sie als bindende Verträge daherkommen sind sie doch nicht mehr als unverbindliche Willenserklärungen, von denen jederzeit Abstand genommen werden kann, wenn das kurzfristig opportun erscheint. Was daraus für die griechischen Sparpläne folgt, die eine Voraussetzung für den Bailout sein sollen, ist offensichtlich. Derzeit wird vehement argumentiert, daß man Griechenland nicht in den Staatsbankrott stürzen lassen dürfe, weil man sich damit nur selbst schade. Schließlich halten auch deutsche Banken griechische Staatsanleihen.
Wenn aber nun die noch solventen Mitgliedstaaten Griechenland zusätzliches Geld leihen, oder für seine Schulden bürgen, dann wird dieses Argument in zwei, fünf oder zehn Jahren erst recht gelten. Etwaige Strafandrohungen für den Fall, daß Griechenland sein ehrgeiziges Sparprogramm in den nächsten Jahren dann doch nicht so wie geplant umsetzt, müssen bis auf weiteres als genauso leeres Gerede gelten wie auch schon die No-Bailout-Klausel. Wir werden früher oder später aus den Reihen der Europapolitiker in etwa die folgenden Sätze hören: „Ja, Griechenland hat gegen seine Auflagen verstoßen. Aber nein, wir können es nicht bestrafen, denn damit würden wir eine neue Welle des Mißtrauens und der Spekulation auslösen und damit doch vor allem unsere eigenen Forderungen gefährden. Und vergessen Sie bitte nicht, daß der Euro ja auch ein Friedensprojekt ist!“
Man sollte auch bedenken, daß in Europa manchmal ein einziger Präzedenzfall genügt, um ein Gewohnheitsrecht zu begründen. Falls sich die Refinanzierungskosten auch anderer hoch verschuldeter Mitgliedstaaten demnächst für diese ungünstig entwickeln und die Zinslasten in ihren Budgets bedrohlich ansteigen, dann wird man ihnen kaum die Medizin verwehren können, die man Griechenland gewährt hat. Die Gläubiger der europäischen Staaten antizipieren dies. In die Renditen auf die Staatsanleihen der noch völlig solventen Mitgliedstaaten wird also bald das Risiko eingepreist, daß diese irgendwann de facto auch für die Finanzierung der spanischen, portugiesischen und irischen Staatshaushalte gerade stehen müssen – selbst wenn all das de jure doch eigentlich ausgeschlossen ist. Europa wird von außen betrachtet bereits einem föderalen Staat mit einer gemeinsamen Haftung für öffentliche Schuldtitel ähneln, bevor überhaupt formale politische Schritte in diese Richtung unternommen werden. Die Zinslasten für die noch relativ gering verschuldeten Länder werden steigen, während sie für die Länder am Rande des Bankrotts eher sinken.
Diese Entwicklung mag diejenigen Enthusiasten freuen, die ohnehin stets eine ever closer union anstreben und dabei die Kosten eines solchen Projektes vernachlässigen. Dennoch bleibt das Problem, daß der Versuch, die Mitgliedstaaten der Währungsunion auf eine nachhaltige Finanzpolitik zu verpflichten, in diesen Tagen spektakulär gescheitert ist. Schlimmer noch: Es ist überhaupt nicht abzusehen, ob und wie die Europäische Union ihre Glaubwürdigkeit in dieser Hinsicht je wieder aufbauen kann. Es tritt also ein, was die Verfasser des Vertrages von Maastricht unbedingt verhindern wollten, nämlich daß die direkte Verknüpfung zwischen den Defiziten eines Mitgliedstaates und der Höhe seiner Schuldzinsen aufgelöst wird. Der wesentliche Anreiz zu einer soliden Finanzpolitik auf der Ebene der einzelnen Staaten verschwindet.
Wie wird die Politik auf der europäischen Ebene darauf reagieren? Üblicherweise sind Politiker eher risikoavers, wie wir in diesen Tagen wieder sehen. Für den Fall eines griechischen Staatsbankrottes fürchten sie eine unübersichtliche Situation, einen Kontrollverlust. Auch wenn diese Angst, wie Harald Uhlig im Handelsblatt schreibt, eigentlich unbegründet ist, möchten sie alles tun, um auch weiterhin das Heft in der Hand zu halten. In der aktuellen Situation bedeutet dies, daß sie den gerade ausgehebelten Marktanreiz (den Zins) früher oder später durch neue hierarchische und bürokratische Mechanismen ersetzen müssen. Denn auch dem größten Befürworter von fiskalischer Solidarität in Europa kann nicht daran gelegen sein, daß immer wieder Mitgliedstaaten in Haushaltsnotlagen Bailouts für sich beanspruchen und daß über diese Ansprüche in ähnlich ungeordneten, panischen Verfahren wie im aktuellen Fall entschieden wird. Der nächste Schritt ist also die formale Institutionalisierung eines bündischen Prinzips in der Haushaltspolitik in Europa, etwa durch einen ausgebauten supranationalen Finanzausgleich. In diesem könnten dann auch europäische Bailouts so unspektakulär und von der breiten Öffentlichentlichkeit fast unbemerkt abgewickelt werden, wie die Zahlung von Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen an deutsche Bundesländer.
Es ist ein altes Motto politischer Großreformer, daß man niemals eine gute Krise verschwenden sollte, denn große Reformen lassen sich in Krisenzeiten nun einmal am ehesten durchsetzen. Paradoxerweise könnte diese Staatsschuldenkrise, in der sich zentrale europäische Institutionen als hohl und sklerotisch erweisen, der Anlaß zum nächsten großen Integrationsschub sein. Ganz abgesehen von der damit verbundenen ökonomischen Ineffizienz ist damit auch politisch ein ungutes Gefühl verbunden. Will man die weitere europäische Integration wirklich auf dem Fundament eines Vertragsbruchs aufbauen? Denn wie sonst soll man es bezeichnen, wenn eine Vertragsnorm außer Kraft gesetzt und willkürlich der Ausnahmezustand erklärt wird? Es bleibt das Eingeständnis, daß die Euroskeptiker der ersten Stunde mit ihrem Mißtrauen gegenüber der Verläßlichkeit europäischer Institutionen leider Recht behielten. Dieses Eingeständnis ist umso bitterer, wenn man bisher eher zu denen gehörte, die den Vertrag von Maastricht in diesem Punkt gegen die Skeptiker verteidigten.
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Die NZZ auf einem Irrweg zu höherer Staatsverschuldung - 21. Oktober 2024 - Wie steht es um den Bundeshaushalt 2025 – und darüber hinaus? - 19. September 2024
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Für meinen Geschmack wird hier zu unpolitisch (!) argumentiert. Der Weg vom Präzedenzfall zum Gewohnheitsrecht ist genauso wenig eine Einbahnstraße, trotz berechtigter Bedenken (die ich teile), wie ein vernünftig ausgestalteter Sozialstaat ein „Weg in die Knechtschaft“ sein muss.
Geschicktes politisches Agieren und Verhandeln könnte die Kreditsicherung und Kreditgewährung durchaus an die Erfüllung von Auflagen und Kreditbedingungen knüpfen. Wenn es Griechenland beispielsweise gelänge, von einer Steuerbetrugskultur der Wirtschaftsmächtigen zu einer guten Steuervollzugskkultur zu gelangen, dann wäre damit (allein schon damit!) die Griechenland-Schuldenkrise gemeistert.
Griechenland wäre dann allerdings immer noch ein beinahe bettelarmes Land – jedenfalls aus Sicht der griechischen Durchschnittsbevölkerung. Tja, und ob es den Griechen gelingt, den völlig unnütz aufgeblähten öffentlichen Dienst zu entschlacken – auch das könnte eine Auflage werden.
Gute Politik bedeutet: mehrere Optionen haben und dann einen Interessenausgleich finden. Mein Punkt ist der: Die Möglichkeit dazu besteht.
Mag das in der Krise als „zu optimistisch“ erscheinen – unrealistisch ist es jedenfalls nicht, jedenfalls dann, wenn man den politischen Willen hierzu voraussetzen kann.
Abschließend angemerkt: Mir macht, auch wenn das nicht den Euroraum unmittelbar betrifft, das Defizit in Großbritannien größere Sorgen. Die Handlungsoptionen (und: Notwendigkeiten) im Fall Griechenlands sind ungleich größer – meine ich.
Einen schönen Tag noch – und bitte etwas weniger Schwarzseherei!
Die sogenannte no-bailout-Klausel („Ein Mitgliedstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaats“) ist ein Haftungsausschluss und sonst nichts. Wenn ein Unternehmen bei seinen Produkten angibt „Keine Haftung bei unsachgemäßen Gebrauch“ o.ä. ist damit ja auch nicht etwa eine Kulanz des Unternehmens in diesen Fällen verboten. Der Vertrag wird daher durch den Griechenland-Bailout nicht verletzt.
Problematisch in puncto Verträge ist eher, dass die EZB griechische Staatsanleihen trotz Junk-Rating akzeptiert. Hierin könnte man eine Veruntreuung des Geldes der Anteilseigner der EZB (das sind die Mitgliedsstaaten) sehen.
Ansonsten 100% Zustimmung zu diesem Artikel.
Zur Schwarzseherei:
Wenn ich die Nachrichten von heute zu den jüngsten Entwicklungen in der EU höre, dann scheint die Schwarzseherei bezüglich der institutionellen Entwicklung der EU durchaus berechtigt gewesen zu sein.
http://www.faz.net/s/Rub99C3EECA60D84C08AD6B3E60C4EA807F/Doc~E27DD3EE610DB4D0183B6CF21FDFAB936~ATpl~Ecommon~Scontent.html
Wir wissen zwar noch nicht, wie das Rettungssystem aussehen wird, aber die Andeutung, nach der „ein wahrscheinliches Szenario ist, dass die Kommission Kredite an den Finanzmärkten aufnimmt und diese weiter verleiht“ macht nicht unbedingt Mut.
Daß Griechenland nach dieser Krise ein funktionierenderes Staatswesen sein wird als vorher — gut, davon können wir ausgehen. Ob die durchsetzbaren Konsolidierungsmaßnahmen allerdings ausreichen, um einen zukünftigen Schuldenschnitt oder die Notwendigkeit zu einem weiteren Bailout zu verhindern, da habe ich meine Zweifel.
Zum Haftungsausschluß:
Wenn man den Artikel als Nicht-Jurist liest, klingt er tatsächlich nur wie ein Haftungsausschluß. Die juristischen Fachleute sagen allerdings, daß er tatsächlich als explizites Verbot eines Bailouts zu verstehen sei.
Der 1992 im Maastricht-Vertrag festgelegte Text zur Euro-Zone nimmt keine Rücksicht auf die Tatsache, dass die Teilnehmerländer keinen optimalen Währungsraum (optimum currancy area nach Mundell, McKinn) bilden. Die nicht erfüllten Kriterien – offene und kleine Länder, engverzahnt, mit ähnlichen Inflationsmentalitäten (propensity to inflate) – hätten zu drakonischen Regeln bei nicht koordinierter Fiskalpolitik führen müssen.
Eine Währungsunion kann, wie in einer Familie eine Geldbörse, nur teilen, wer ähnliche Wertvorstellungen, Priorität Geldwertstabilität (non inflation) oder Wirtschaftswachstum (mit inflation) teilt.
Prof. Dr. Braun-Moser