Die Lohnforderungen der Gewerkschaften deuten darauf hin, dass mit einer stabilitätskonformen Lohnpolitik derzeit nicht gerechnet werden kann. Daraus ergeben sich erhebliche Gefahren für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Noch können moderate Lohnabschlüsse eine Stabilisierungskrise verhindern, die letztlich vor allem den Arbeitnehmern schaden würde.
Der Inflationsschub durch höhere Energiepreise belastet Unternehmen und Haushalte. Die Kosten der Unternehmen steigen unmittelbar, während ihre Erlöse infolge der Reallohnverluste der Haushalte gleichzeitig sinken. Per Saldo verschlechtert sich die Kosten-Erlös-Relation, was Produktion und Beschäftigung hemmen dürfte. Expansive Geld- und Finanzpolitik können dagegen wenig ausrichten, denn sie würden die kosteninduzierte Inflation nur durch Nachfrageimpulse verschärfen.
Die Anpassung der Wirtschaft an steigende Energiepreise erfordert den Einsatz zusätzlicher Ressourcen. Unternehmen und Staat müssen höhere Investitionen zum Umbau der Energieversorgung vornehmen. Dies lässt sich nicht ohne ein relatives Zurückbleiben des privaten Konsums bewerkstelligen. Wenn ein größerer Teil des Produktionspotentials durch Mehrinvestitionen absorbiert wird, steht eben nur ein kleinerer Teil für reale Lohnsteigerungen zur Verfügung.
Zweistellige Lohnforderungen der Gewerkschaften sind vor diesem Hintergrund ökonomisch unvertretbar. Sie führen bestenfalls zu einem weiteren Inflationsschub, weil die Unternehmen den Nachfrageeffekt der Löhne nutzen werden, um kostenträchtige Lohnabschlüsse in den Preisen weiterzugeben. Sofern eine restriktivere Geldpolitik der drohenden Lohn-Preis-Spirale entgegentritt, bremst der daraus resultierende Zinsanstieg die Investitionen. Das schwächt zwar die Inflation, erzeugt aber auch wachsende Arbeitslosigkeit und somit eine Stabilisierungskrise.
Das alles sollte seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts im ökonomischen Gedächtnis eingebrannt sein. Auch damals wurde auf den Angebotsschock der Ölkrise mit zweistelligen Lohnforderungen zum vermeintlichen Inflationsausgleich reagiert, und auch damals führten die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes die Lohnrunde an. Die Folgen waren ein konjunktureller Einbruch, ein starker Anstieg der Arbeitslosigkeit und eine jahrelang anhaltende wirtschaftliche Stagnation.
Es ist vielleicht verständlich, dass die Gewerkschaften energiepreisbedingte Belastungen der Arbeitnehmer abwehren wollen. Ihnen fehlen hierfür jedoch die tauglichen Mittel. Die Nominallohnpolitik wirkt weitgehend parallel auf Kosten und Nachfrage. Sie kann keinen Angebotsschock aus der Welt schaffen, sondern nur die Rahmenbedingungen für die geldpolitische Bekämpfung der Inflation und eine angebotsorientierte Strategie zur Bewältigung der Energiekrise verbessern.
Die Begrenzung der Nominallohnerhöhungen auf den Produktivitätsfortschritt würde hierzu einen wichtigen Beitrag leisten. Wenn die Gewerkschaften ihre Möglichkeiten dagegen überschätzen, sind die Konsequenzen gerade für die Arbeitnehmer fatal. Überzogene Nominallohnerhöhungen führen nicht zu Reallohnsteigerungen, sondern über ihre negativen Beschäftigungswirkungen zu Reallohnverlusten.
Geschichte wiederholt sich nicht? Die realitätsfernen Lohnforderungen der Gewerkschaften sagen etwas anderes. Das gilt aber auch für die Finanzpolitik, die mit Entlastungspaketen für alle den Eindruck erweckt hat, man könne angebotsseitigen Herausforderungen mit nachfragestärkenden Maßnahmen begegnen. Nicht zuletzt wird das Problem der Lohn-Preis-Spirale immer noch von Ökonomen klein geredet, die schon die expansive Geldpolitik der EZB als unproblematisch eingestuft haben. Es wird Zeit, sich von derartigen Illusionen zu verabschieden.
Literatur
Gerald Braunberger (2023), Warum die hohe Inflation in Deutschland so hartnäckig ist, Frankfurter Allgemeine [faz.net].
Malte Fischer, Tina Zeinlinger (2021), Kommt jetzt die Große Inflation wie in den Siebzigerjahren?, Wirtschaftswoche [wiwo.de].
Wolfgang Scherf (1995), Stabilitätspolitische Anforderungen an die Lohnpolitik, Wirtschaftsdienst 05-1995, 278-284.
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