Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz hat ein Gutachten zum Thema „Transformation zu einer klimaneutralen Industrie: Grüne Leitmärkte und Klimaschutzverträge“ (hier) vorgelegt, in dem er sich mit zwei möglichen Strategien für die staatlich geförderte Dekarbonisierung der deutschen Grundstoffindustrie auseinandersetzt. Bemerkenswert ist an diesem Gutachten, dass es die Frage, ob eine staatlich betriebene klimaneutrale Transformation der Grundstoffindustrie eine sinnvolle klimapolitische Maßnahme ist oder nicht, gar nicht erst stellt, sondern zu einer Voraussetzung macht: „Für dieses Gutachten betrachtet der Beirat es aber als gegeben, dass der Staat die Transformation zu klimaneutraler Produktion in der Grundstoffindustrie beschleunigen will.“ Diskutiert wird nicht mehr das Ziel, sondern nur noch der Weg dorthin und die Frage, ob dabei „Grüne Leitmärkte“ und „Klimaverträge“ zu empfehlende Instrumente sind. Während im Ergebnis des Gutachtens diese Frage für die Grünen Leitmärkte durchaus positiv entschieden wird, empfiehlt der Beirat Klimaverträge nur im Ausnahmefall einzusetzen.
Das Gutachten macht es dem Leser nicht leicht, denn es fällt natürlich schwer, Instrumente zu beurteilen, ohne dabei den Zweck, zu dem sie eingesetzt werden sollen, mit in den Blick zu nehmen. Da der Beirat darauf verzichten möchte, gehen die Bewertungen von Ziel und Mittel permanent durcheinander. Erschwerend kommt hinzu, dass der Beirat so ganz dann doch nicht auf eine Qualifizierung des Ziels verzichtet. So weist er mehrmals darauf hin, dass die Grundstoffindustrie in Europa Teil des ETS-Sektors ist und deshalb „Die Transformation zu einer klimaneutralen Produktion in der Grundstoffindustrie ( ) die CO2-Emissionen in Europa nicht verringern (kann),…“ (S. 10). So entsteht der Eindruck, dass der Beirat versucht, die Dekarbonisierung der Grundstoffindustrie ausschließlich durch eine Diskussion der möglichen Förderinstrumente zu bewerten. Wenn diese sinnvoll sind, dann muss es auch die Dekarbonisierung sein. Das ist methodisch originell, schafft aber zugleich Probleme. So muss der Beirat begründen, warum der massive Einsatz sehr teurer Interventionen des deutschen Staates (nur um solche geht es), gerechtfertigt ist, obwohl mittels des EU-ETS bereits eine kosteneffiziente Regulierung der Grundstoffindustrie erfolgt und ein entsprechender CO2-Preis existiert – und das ohne die Sinnhaftigkeit des Ziels der Dekarbonisierung der Grundstoffindustrie selbst zu diskutieren, denn die ist ja als gegeben angenommen. Der Beirat versucht sich genau daran – und scheitert.
Der Kerngedanke der Strategie des Gutachtens besteht darin, dass „… der CO2-Preis allein, selbst wenn er global einheitlich und in Höhe der sozialen Kosten der CO2-Verschmutzung erhoben würde, nicht ausreichen würde, um alle Ursachen des Marktversagens beim Klimaschutz zu korrigieren.“(S.7) Der Beirat identifiziert drei Gründe für ein Marktversagen, von denen er annimmt, dass sie durch einen optimal gewählten CO2-Preis nicht adressiert werden können und die deshalb zusätzliche staatliche Eingriffe erforderlich machen: Fehlende Anreize für eine Kostendegression, eine Verzerrung des technischen Fortschritts und Carbon Leakage. Weiter führt der Beirat aus: „Hinzu kommt, dass es in verschiedenen Ländern und verschiedenen Sektoren eines Landes sehr unterschiedliche CO2-Preise gibt, die in aller Regel niedriger sind als die sozialen Kosten der CO2-Verschmutzung. Da zu erwarten ist, dass sich das in absehbarer Zeit nicht ändern wird, sind zusätzliche Klimaschutzanstrengungen notwendig.“ Dieses Argument hört man gelegentlich in der klimapolitischen Diskussion. Es ist im vorliegenden Falle allerdings vollkommen unangebracht, denn das ETS sorgt ja gerade dafür, dass ein einheitlicher sektor- und länderübergreifender CO2-Preis entsteht, der auch in der Grundstoffindustrie gezahlt werden muss.
Bleiben die drei genannten Punkte. Es lohnt sich, sie näher zu betrachten, denn sie werden im Ergebnis dazu verwendet, die Einführung Grüner Leitmärkte und den partiellen Einsatz von Klimaverträgen zu rechtfertigen, um dadurch einen bereits kosteneffizient regulierten Sektor erneut zu regulieren. Das ist keine Kleinigkeit, denn eine solche zweite Regulierung wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in Form von zweistelligen Milliardenbeträgen im Staatshaushalt niederschlagen.
Fehlender Anreiz zur Kostendegression
Kostendegression entsteht im Normalfall durch die Ausnutzung von Skalenerträgen, die Investition in technischen Fortschritt und dadurch, dass Lernkurven „abgeritten“ werden und Unternehmen die Fähigkeit erlangen, durch die Optimierung von Prozessen Kosten zu sparen. Alle diese Vorgänge setzen Investitionsentscheidungen der Unternehmen voraus, die Forschung und Entwicklung oder den Ausbau von Kapazitäten betreffen. Solche Entscheidungen fallen nur dann, wenn die Erwartung besteht, dass die steigenden Produktionskapazitäten bei sinkenden Kosten auf entsprechende Nachfrage treffen, es sich also lohnt, diese Investitionen zu tätigen. Fehlende Anreize zur Kostendegression liegen damit dann vor, wenn diese Erwartung nicht existiert. Sollte der Staat in solchen Fällen die Kostendegression künstlich erzeugen, indem er Kapazitätsinvestitionen subventioniert? Welchen Zweck erfüllt das?
Kostendegression ist weder eine notwendige noch hinreichende Bedingung dafür, dass die Produktion eines Gutes oder die Einführung eines Produktionsprozesses eine für eine Volkswirtschaft vorteilhafte Entscheidung ist. Man stelle sich vor, der Staat subventioniert Unternehmen dafür, dass sie Gruben ausheben und danach wieder zuschütten. Bei hinreichender Subventionshöhe, kombiniert mit einer staatlichen Abnahmegarantie, würde sich eine entsprechende „heb-aus-schütt-zu-Industrie“ bilden, die unter Wettbewerbsbedingungen alsbald eine deutliche Kostendegression realisiert. Allerdings wird dadurch aus dem Ausheben und Zuschütten von Gruben keine sinnvolle ökonomische Betätigung – es bleibt pure Verschwendung, dafür Ressourcen einzusetzen.
Sehr ähnlich verhält es sich mit der Windkraft und der Solarenergie, die der Beirat als Beispiele für die positive Wirkung staatlicher Subventionen in klimafreundliche Technologien und die damit verbundene Kostendegression anführt. Das Gutachten setzt sich zwar nicht mit der Förderung der erneuerbaren Energie auseinander, dennoch sei hier eine kurze Betrachtung dazu angestellt, denn die Passage, in der das Gutachten über die Kostendregression berichtet, lässt sich durchaus als eine Rechtfertigung der massiven Förderung der erneuerbaren Energien in Deutschland lesen und interpretieren – selbst wenn der Beirat diese nicht intendiert hat. Es kann deshalb nicht schaden, sich in aller Kürze damit auseinanderzusetzen, wie die Kostendrgression bei den Erneuerbaren zu bewerten ist.
Bei der Wind- und der Solarenergie sind durch die staatliche Förderung dieser Technologien die Produktionskosten stark gefallen. Ohne diese Förderung hätte kein Akteur die Erwartung gebildet, dass sich eine der beiden Technologien am Energiemarkt durchsetzen würde. Tatsächlich ist insbesondere die Windkraft auch 23 Jahre nach Einführung des EEG auf massive Subventionen angewiesen (Einspeisevergütung und Marktprämie). Die Solarenergie ist nur deshalb für Energiekonsumenten unter bestimmten Umständen eine rentable Entscheidung geworden, weil die Energiepolitik Deutschlands dafür gesorgt hat, dass unser Land schon vor der Energiekrise die weltweit höchsten Strompreise hatte. Zum Vergleich: In den USA kostete die Kilowattstunde 2021 halb so viel wie in Deutschland, in China nur ein Viertel des deutschen Preises. Aber selbst unter diesen Bedingungen bedarf es noch einer Subvention in Form einer kompletten Umsatzsteuerbefreiung, um die heimische Solaranlage marktfähig zu machen.
Aber vielleicht sind Windkraftanlagen und Solardächer und -felder sinnvolle Investitionen in klimaschonende Technologien, die nur deshalb erfolgt sind, weil der Staat die Kostendegression herbeisubventioniert hat? Das darf man zurecht bezweifeln. Für die erneuerbaren Energien in unserem Land gilt das Gleiche wie für eine dekarbonisierte Grundstoffindustrie und die Atomkraftwerke: Ob wir sie haben oder nicht, ändert an der europäischen CO2-Emission nichts. Dafür sorgt das EU-ETS. Die Zusatzkosten für die erneuerbaren Energien belaufen sich auf mindestens 400 Mrd. Euro (ohne Netzkosten). Dabei sind die erheblichen externen Kosten der Windkraft nicht berücksichtigt. Als Gegenleistung bekommt Deutschland dafür stark beschädigte Kulturlandschaften und ein Energiesystem, dessen Basis demnächst hoch volatil einspeisende Kraftwerke bilden und keinen Klimaschutz. Das ist ungefähr so sinnvoll wie das Ausheben und Zuschütten von Gruben. Ganz sicher liefern Wind und Solar damit keine Beispiele, an denen sich die Förderung der Dekarbonisierung der Grundstoffindustrie orientieren sollte.
Darüber hinaus stellt sich die Frage, warum der Beirat das Thema „Kostendegression“ überhaupt im Zusammenhang mit der Grundstoffindustrie aufbringt. Wie in dem Gutachten völlig zurecht ausgeführt wird, hat sich die Kostendegression bei Wind und Solar vor allem durch massiven Skaleneffekte ergeben. In Deutschland stehen über 30.000 WKA, und ein Drittel aller Solaranlagen Europas sind in unserem Land installiert. Da sind Skaleneffekte und Kostendegression unvermeidbar. In der Stahlindustrie, die der Beirat in seinem Gutachten beispielhaft betrachtet, gibt es genau vier Anlagen, die für eine Dekarbonisierung in Frage kommen. Skaleneffekte bei n = 4?
An dieser Stelle lohnt sich ein kurzer Exkurs zum EU-ETS und der Haltung des Beirates zu diesem klimapolitischen Instrument. Es geht dabei um den sogenannten „Wasserbetteffekt“ und die Frage, wie mit diesem umzugehen ist. Der Effekt tritt auf, wenn ein Nationalstaat, der dem ETS angeschlossen ist, im ETS-Sektor nationale Klimaschutzmaßnahmen ergreift (zum Beispiel, indem er die Grundstoffindustrie dekarbonisiert oder erneuerbare Energien installiert). Führen diese Maßnahmen zu nationalen CO2-Einsparungen, hat das nicht zur Folge, dass es europaweit zu einer Einsparung kommt, weil die nationale Maßnahme nichts an der Anzahl der ausgegebenen Emissionsberechtigungen ändert. Die in dem betreffenden Nationalstaat nicht mehr benötigten Berechtigungen werden verkauft und die Emissionen finden beim Käufer statt, werden also nur verschoben und nicht eingespart. Das ist der Grund, warum weder die Abschaltung der Atomkraftwerke, noch die Installation erneuerbarer Energien in Deutschland einen negativen bzw. positiven Klimaschutzeffekt haben. Im Hinblick auf die Dekarbonisierung der Grundstoffindustrie gilt das ebenso und der Beirat bringt dies in dem eingangs zitierten Satz auf Seite 10 zum Ausdruck. Allerdings wurde dieser Satz nicht vollständig wiedergegeben. Vollständig heißt es dort: „Die Transformation zu einer klimaneutralen Produktion in der Grundstoffindustrie kann die CO2-Emissionen in Europa nicht verringern, wenn die Anzahl der CO2-Zertifikate im ETS nicht gleichzeitig im selben Umfang verringert wird. Das ist jedoch nicht vorgesehen.“ (S.10)
Dieses Zitat erweckt den Eindruck, als wäre es für den Beirat eine durchaus akzeptable Strategie, den Wasserbetteffekt einfach dadurch auszuschalten, dass nach einer nationalen Dekarbonisierungsmaßnahme die nicht mehr benötigten Berechtigungen vom Markt genommen werden. Dieser Eindruck kann natürlich falsch sein, aber nur zur Vorsicht sei hier darauf hingewiesen, dass dies ein extrem nachteiliger Umgang mit dem Wasserbetteffekt wäre. Faktisch würde er nämlich darauf hinauslaufen, den Emissionshandel abzuschaffen – und damit das effektivste und zugleich effizienteste Klimaschutzinstrument, das weltweit existiert. Der Emissionshandel ist ein zweistufiges Verfahren. Auf der ersten Stufe wird der ökologische Teil erledigt, indem für den ETS-Sektor die Emissionen strikt mengenmäßig begrenzt werden. Das ist ein harter Markteingriff, der aber notwendig ist und der allein bestimmt, in welchem Umfang Emissionen eingespart werden. Die zweite Stufe ist dann der Handel mit diesen Rechten und der erledigt den ökonomischen Teil der Arbeit. Mit dem Handel wird entschieden, wo und wie die Emissionsvermeidung erfolgt, die notwendig ist, um die Obergrenze einzuhalten bzw. das noch genehmigte CO2-Budget nicht zu sprengen. Der entscheidende Punkt dabei ist, dass der Emissionsrechtemarkt in der Lage ist, die Allokation der Vermeidungsaktivitäten kosteneffizient zu realisieren. Darin besteht der eigentliche Sinn des Emissionshandels. Bei dem oben beschriebenen Verfahren zur Vermeidung des Wasserbetteffekts wird jedoch der Handel komplett außer Kraft gesetzt und die kostenminimierende Wirkung des Instruments ETS vollständig zerstört. Wenn der Staat festlegt, welche Technologie zur Anwendung kommt (gleichgültig, was sie kostet) und dann die überschüssigen Rechte einzieht, kann man sich den Emissionshandel sparen. Dann wird Klimapolitik ausschließlich nach planwirtschaftlichen Methoden betrieben. Ein funktionierender Emissionshandel ist darauf angewiesen, dass Vermeidungsaktivitäten und Emissionen verlagert werden können, denn nur dann funktioniert der Handel. Mit anderen Worten, ohne Wasserbetteffekt funktioniert das ETS nicht!
Verzerrter technischer Fortschritt
Das entsprechende Kapitel in dem Gutachten beginnt mit einem überraschenden Satz: „Wenn die sozialen Kosten der CO2-Verschmutzung durch die Preise nicht korrekt widergespiegelt werden, wird die Richtung des technischen Fortschritts verzerrt.“ (S. 8). Nur eine Seite zuvor wurde betont, dass es um Marktversagen geht, das trotz eines Preises vorliegen kann, bei dem die sozialen Kosten korrekt internalisiert sind. Um zu begründen, dass es ohne staatlichen Eingriff zu einer Verzerrung des technischen Fortschritts kommt, wird nun aber doch auf „falsche Preise“ verwiesen. Das ist wiederum erstaunlich, weil im ETS ja ein einheitlicher CO2-Preis existiert, der immerhin eine Second Best Allokation stützt – was das Beste ist, was man sich erhoffen kann, angesichts der nicht zu lösenden Informationsprobleme bei der Bestimmung eines First Best Preises.
Noch erstaunlicher ist, dass der Beirat offenbar die Position vertritt, dass der politische Planer besser als der Markt darüber informiert ist, welcher technische Fortschritt der richtige ist. Gänzlich irritiert ist man, wenn der Beirat die Investitionen der Automobilindustrie in Verbrennermotoren als Beispiel eines verzerrten technischen Fortschritts und den Ausbau der Elektromobilität als den richtigen Weg identifiziert. Bei wohlwollender Betrachtung kann man die planwirtschaftliche Entscheidung zur Einführung der Elektromobilität bestenfalls als ein Experiment mit offenem Ausgang bezeichnen. Wobei die Wahrscheinlichkeit eines Scheiterns sehr groß ist. Die Automobilindustrie hat tatsächlich lange in den Verbrenner investiert – allerdings als Reaktion auf einen CO2-Preis, der zwischen 200 und 340 Euro pro Tonne liegt.[1] Selbst bei diesen exorbitanten CO2-Preisen wäre vermutlich niemand in der Automobilindustrie darauf gekommen, dass Elektroautos eine effiziente Alternative zum Verbrenner werden könnten. Zu groß sind die Schwierigkeiten, die sich aus den nicht gelösten Batterieproblemen ergeben (zu schwer, zu schwach, zu lange Ladezeiten, zu teuer). Der Aufbau einer neuen Infrastruktur wäre dann, wenn die Elektromobilität als eine Technik mit Zukunft angesehen worden wäre, kein Problem gewesen, das eine Einführung verhindert hätte. Im Gegenteil, sie hätte bei geeigneter Regulierung neue Geschäftsmodelle für die Autoindustrie eröffnet.
Gegenwärtig bewegen sich die CO2-Vermeidungskosten, die entstehen, wenn man versucht durch den Betrieb eines E-Autos CO2 zu vermeiden, in astronomischen Höhen. Selbst wenn man die mehr als optimistischen Annahmen trifft, die die Grünen für Elektroautos unterstellen, resultiert eine Subvention in Höhe von 400 Euro pro Tonne eingesparten CO2.[2] Bei weniger optimistischen Annahmen kommt man leicht auf einen vierstelligen Betrag pro Tonne.[3] Die Elektromobilität ist noch sehr weit davon entfernt, eine kosteneffiziente Technologie zur Vermeidung von CO2 zu sein. Insgesamt ist der Verkehrssektor ein Bereich mit prohibitiv hohen CO2 Vermeidungskosten. Ob die erzwungene Elektromobilität eine technologische Verzerrung korrigiert, oder selbst eine ist, muss sich erst noch zeigen. Es könnte gut sein, dass die technologische Entwicklung, die getrieben wird von den Weltmärkten, über die europäischen Pläne zu Elektromobilität hinweggehen wird. Wer den technischen Fortschritt verzerrt, der Staat oder der Markt, der auf hohe CO2-Preise reagiert, bleibt daher abzuwarten. Jedenfalls ist es keine gute Klimapolitik Vermeidung ausgerechnet in dem Sektor voranzutreiben, in dem die Kosten dafür am höchsten sind. Ob eine potentielle Verzerrung des technischen Fortschritts eine Begründung dafür sein kann, dass die Grundstoffindustrie staatlich dekarbonisiert wird, beleuchtet der Beirat nicht im Detail, erscheint aber angesichts der Existenz eines CO2-Preises mehr als fraglich.
Carbon Leakage
Als dritten „externen Effekt“ (S.9) der trotz optimaler CO2-Preise auftreten kann, identifiziert der Beirat die Gefahr, dass es zu einer Verlagerung der Grundstoffindustrie in das nicht ETS Ausland kommen kann. Zwar hat die EU beschlossen eine Grenzausgleichsabgabe einzuführen (Carbon Border Adjustment Mechanism, CBAM), aber der Beirat geht davon aus, dass diese nicht hinreichend gut funktionieren wird: „Wegen des stark gestiegenen CO2-Preises ist zu befürchten, dass es trotz CBAM zu erheblichem Carbon Leakage kommen würde.“ (S. 9). Es ist keine Frage, dass die korrekte Berechnung einer Grenzausgleichsabgabe schwierig ist und deshalb auch juristische Fragen aufwirft. Der Beirat hat dies jüngst in einem Gutachten untersucht und die Probleme dabei klar herausgearbeitet.[4] Allerdings stellt sich die Frage, ob diese Probleme auch bei Grundstoffen wie Stahl existieren. Bei der Stahlherstellung gibt es nur wenige Verfahren, für die sich vergleichsweise leicht Benchmarks festlegen lassen, die es relativ einfach machen, den jeweiligen „CO2-Gehalt“ einer Stahlsorte zu bestimmen und zu besteuern. Es wäre deshalb in jedem Fall einen Versuch wert, eine Grenzausgleichsabgabe für Stahl einzuführen, bevor man daran denkt, Carbon Leakage durch staatliche Ausgaben im Umfang von sehr vielen Milliarden Euro zu verhindern. Ein funktionierender partieller CBAM würde im Gegensatz dazu für die EU Einnahmen generieren und zusätzlich CO2-Vermeidungsmaßnahmen im Ausland induzieren.
Die drei genannten „externen Effekte“ benutzt der Beirat, um den Einsatz von grünen Leitmärkten und Klimaverträgen zu untersuchen, d.h. er stellt die Frage, ob ihr Einsatz gerechtfertigt ist. Um die dabei verwendete Methode noch einmal zu verdeutlichen, führt das Gutachten auf Seite 12 aus:
„Damit staatliche Fördermaßnahmen effektiv und kosteneffizient sind, ist es wichtig, dass der Staat wohldefinierte und messbare Ziele vorgibt (z. B. die Dekarbonisierung der Grundstoffindustrie in einem bestimmten Zeitplan).“
Es geht also nicht darum, die Frage zu stellen, ob es „effektiv und kosteneffizient“ ist die deutsche Grundstoffindustrie zu dekarbonisieren, denn das wird ja als gegeben angenommen. Das Ergebnis, zu dem der Beirat kommt, lässt sich relativ knapp zusammenfassen.
Empfehlungen des Beirates
Hinsichtlich der Einführung grüner Leitmärkte kommt der Beirat zu einer positiven Einschätzung:
„Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass grüne Leitmärkte ein marktwirtschaftliches und technologieneutrales Instrument sind, weil sie einen Markt für klimafreundliche Produktion schaffen, ohne in die Produktionsentscheidungen der Unternehmen einzugreifen.“ (S. 20)
Wenn also der Staat vorschreibt, dass Stahl, der für bestimmte Produkte verwendet wird, „grün“ sein muss, dann kommt ein Markt für Grünstahl zustande. Tatsächlich ist dies auf den ersten Blick nicht mit einem Eingriff in Produktionsentscheidungen verbunden. Allerdings wird allein dadurch aus einem Leitmarkt noch keine sinnvolle klimapolitische Maßnahme. Zunächst muss man festhalten, dass mit einem Leitmarkt zwar kein Eingriff in Produktionsentscheidungen verbunden ist, dafür aber ein massiver Eingriff in die Konsumentensouveränität. Menschen werden gezwungen, bestimmte Produkte zu kaufen, und bestehende Substitute werden verboten. Ein solch massiver Eingriff in die Freiheitsrechte bedarf der Begründung. Er kann beispielsweise dann gerechtfertigt sein, wenn mit dem Eingriff eine kosteneffiziente Internalisierung eines externen Effekts erfolgt. Das ist aber im Falle eines grünen Leitmarktes für Stahl definitiv nicht der Fall. Das Kostendegressionsargument ist ohnehin hinfällig (n = 4!), die technische Verzerrung kann auch nicht überzeugen und Carbon Leakage wird durch einen Leitmarkt erst recht nicht verhindert. Stattdessen erfolgt die Entmündigung der Konsumenten trotz einer Second Best Bepreisung der CO2-Emissionen. Eine solche bedeutet, dass diejenigen, die grauen Stahl kaufen, mit dem Kaufpreis dafür bezahlen, dass die CO2-Emissionen, die mit der Produktion „ihres Stahls“ verbunden ist, an anderer Stelle eingespart wird. Auf diese Weise bewirkt das ETS die Internalisierung der externen Kosten der CO2-Emission. Grüne Leitmärkte setzen diesen kosteneffizienten, tatsächlich über einen Markt gesteuerten Internalisierungsprozess außer Kraft, denn sie setzen das ETS außer Anwendung. Für diejenigen, die darin keine ökonomisch sinnvolle Klimapolitik erkennen können, hat das Gutachten noch ein weiteres Argument parat:
„Schließlich ermöglichen es grüne Leitmärkte, dass die Kosten der klimaneutralen Produktion nicht vollständig aus dem Staatshaushalt bezahlt werden müssen, sondern von den Konsument:innen mitgetragen werden können.“ (S. 20).
Das ist natürlich beruhigend, denn es ist vermutlich viel besser, wenn man als Konsument zahlt und nicht als Steuerzahler. Allerdings sollte man sich nicht darauf verlassen. Der Beirat erwähnt nämlich bei der Diskussion der Nachteile von grünen Leitmärkten: „Die Einführung klimafreundlicher Produktionstechnologie ist mit erheblichen Kostenunsicherheiten verbunden.“ (S. 19). Das ist natürlich richtig und deshalb werden Stahlproduzenten als Reaktion auf die Einführung eines Grünstahlmarktes mit massiven Subventionsforderungen an den Staat herantreten. Es ist nicht sehr realistisch, davon auszugehen, dass die politischen Akteure sich diesen Forderungen widersetzen können, schließlich haben sie die Produzenten in eine sehr komplizierte Lage gebracht. Angesichts der hohen strategischen Bedeutung der Grundstoffindustrie wird diese mit hohem Nachdruck auf die Gefahren hinweisen, die von den Unsicherheiten ausgehen, die die Politik geschaffen hat – und das durchaus zu recht.
Im Hinblick auf die Klimaverträge ist der Rat deutlich skeptischer. Während er die grünen Leitmärkte für ein marktwirtschaftliches Instrument hält, betont er bei der direkten Subvention der Stahlunternehmen den tiefen Eingriff in die Produktionsentscheidungen. Kritisch ist dabei vor allem die Informationsasymmetrie zwischen Planer und Unternehmen, das letzteren zahlreiche strategische Spielräume eröffnet, die dafür genutzt werden können, höhere Subventionen zu erhalten, als bei vollständiger Information notwendig gewesen wären. Wie richtig der Beirat mit dieser Einschätzung liegt, hat die Realität inzwischen schon gezeigt. Am 20. April 2023 hat Wirtschaftsminister Habeck der Salzgitter AG den ersten Förderbescheid über eine Milliarde Euro überreicht. Damit soll ein erstes Stahlwerk klimaneutral gemacht werden. Bei seiner Rede betonte der Minister, dass die Salzgitter AG bei der Umsetzung des Vorhabens „gedrängelt hätte“ und stets auf das Tempo drückte.[5]
Trotz aller Probleme kommt der Beitrat zu dem Schluss: „Klimaschutzverträge können beim Einstieg in eine neue Technologie hilfreich sein, um Unternehmen zu veranlassen, diese Technologien erstmals großtechnisch einzusetzen.“.
Abschließende Bewertung
Es dürfte kaum ein anderes politisches Feld geben, auf dem die Kluft zwischen der real existierenden Politik und dem, was man als rationale Antwort auf das zu lösende Problem bezeichnen kann, so gewaltig ist, wie auf dem Feld der Klimapolitik. Die Politik hat es geschafft durchzusetzen, dass Klimapolitik grundsätzlich als eine nationale Aufgabe betrachtet wird, die sektoral durchzuführen ist und bei deren Erledigung die Frage der Kosteneffizienz keine Rolle spielen darf. Das hat im Ergebnis dazu geführt, dass Deutschland eine ganz eigene Klimapolitik betreibt, die beispielsweise auf das Zusammenspiel mit dem EU-ETS keinerlei Rücksicht nimmt. Besonders deutlich wird das bei der Förderung erneuerbarer Energien. Die Redundanz (Wasserbetteffekt) dieser Art der Energiepolitik wird ignoriert, solange es um Windkraftanlagen und Photovoltaik geht. Sie wird von der Politik verstanden, sobald es um die Stilllegung von Atomkraftwerken geht. Dann wird darauf verwiesen, dass damit kein Anstieg der CO2-Emissionen verbunden ist, weil das ETS ja für eine Deckelung der Emissionen sorgt. Wird die Politik darauf angesprochen, dass aus dem gleichen Grund erneuerbare Energien kein CO2 einsparen, wird argumentiert, dass die Förderung dennoch notwendig sei, weil ja sonst der EU-ETS gar nicht ausgebaut werden könnte.[6] Nun ist es allerdings so, dass die CO2-Emisionen im deutschen Energiesektor zwischen 2000 und 2017 praktisch nicht gesunken sind, und dennoch in dieser Zeit das ETS eingeführt wurde und bis 2018 zu jährlichen CO2-Reduktionen von ca. 570 Mio. t geführt hat.
Das Klimaproblem ist gravierend und schwierig zu lösen. Dazu braucht es eine rationale Politik, die die Ressourcen so einsetzt, dass ein Maximum an Klimaschutz weltweit entsteht. Das erfordert, dass die richtigen internationalen Instrumente eingesetzt werden und der technische Fortschritt bestmöglich und ergebnisoffen unterstützt wird. An beiden Stellen könnte Deutschland entscheidend wirksam sein, ist es aber nicht, weil es damit beschäftigt ist, mit sehr ineffizienten Mitteln allein die eigene Klimaneutralität zu realisieren. Vor diesem Hintergrund hätte man sich von dem Beirat gewünscht, dass er die Strategie, die deutsche Grundstoffindustrie zu dekarbonisieren, einer kritischen Würdigung unterzieht. Das hat er leider nicht getan.
Eine letzte Bemerkung sei erlaubt. Die Umstellung der Grundstoffindustrie auf Wasserstoff basierte Verfahren ist elementar auf die Verfügbarkeit großer Mengen grünen Wasserstoffs angewiesen. Woher dieser kommen soll, d.h. wie und wo er effizient produziert werden kann und wie die Verwendungskonkurrenz mit anderen Einsatzmöglichkeiten gelöst werden kann, ist eine für die Zukunft wichtige und spannende Frage. Leider wird sie in dem Gutachten nicht behandelt, obwohl sie eigentlich zum Thema gehört hätte. Es ist zu hoffen, dass sich der Beirat dieser Frage in einem zukünftigen Gutachten widmet.
[1] Die implizite CO2-Steuer (Energiesteuer plus Umsatzsteuer auf die Energiesteuer) auf Diesel betrug 2019, also vor Einführung des nationalen Emissionshandels, bereits 215 Euro, die auf Benzin 328 Euro.
[2] Vergleiche Friedrich Breyer: Soll man Kaufprämien für E-Autos komplett abschaffen? Südkurier, 20. April 2022, S.7.
[3] Vergleiche Weimann J., (2020): Elektroautos und das Klima: die große Verwirrung, Wirtschaftsdienst, 100(11), 890-895.
[4] Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Februar 2021: Ein CO2-Grenzausgleich als Baustein eines Klimaclubs.
[5] Wolfsburger Nachrichten von 21.4.2023.
[6] Dass es dann aber auch sinnvoll wäre, die Atomkraftwerke länger laufen zu lassen, weil das genauso den Spielraum für das ETS vergrößert, wird wiederum übersehen.
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Die Kritik am Gutachten klingt sehr plausibel. Gibt es eine Erklärung, wie es in solch einem Gutachten zu derartigen Fehlern kommen kann? Der Beirat besteht ja fast vollständig aus Volkswirten und VWL -nahen Mitgliedern: die sollten solche Kritikpunkte bei der Anfertigung des Gutachtens doch antizipiert haben.