„Ökonomie ist die Kunst, das Beste aus dem Leben zu machen.“ (George Bernard Shaw)
Zeitenwende, wohin man auch schaut. Ob Außenpolitik, Verteidigungspolitik, Energie- oder Klimapolitik – nach der russischen Invasion in die Ukraine soll in diesen Bereichen offenbar kein Stein auf dem anderen bleiben. Die Bürger müssen sich auf härtere Zeiten einstellen.
Eine andere Zeitenwende hat in den vergangenen Jahren längst stattgefunden: In der Wirtschaftspolitik ist nicht mehr viel, wie es mal war. Vielfach wurden die Dinge von den Füßen auf den Kopf gestellt – schleichend, Stück für Stück und ohne vorausgegangenes Machtwort des Kanzlers oder der Kanzlerin. Deshalb hat die Öffentlichkeit die Veränderungen mehrheitlich wohl gar nicht als Zeitenwende wahrgenommen. Und doch handelt es sich um einen wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel. Ein paar Beispiele gefällig?
Stichwort Nullzinspolitik: Normalerweise muss derjenige, der Schulden aufnimmt, seinem Kreditgeber Zinsen zahlen. Im Gegenzug erhält derjenige, der Geld verleiht, Zinsen. Dieses Prinzip wurde durch die Nullzinspolitik der vergangenen Jahre ausgehöhlt, in Teilen auf den Kopf gestellt. Der deutsche Staat musste in den Jahren 2015 bis Anfang 2022 seinen Kreditgebern kaum noch Zinsen zahlen. Im Gegenteil: Kreditgeber mussten dem deutschen Staat oft sogar Geld dafür zahlen, wenn sie ihm Geld liehen. Gleichzeitig sollten Sparer mit Strafzinsen vom Sparen abgehalten und zum Geldausgeben animiert werden. Sparsamkeit – eigentlich eine Tugend – wurde zur Untugend. Diese paradoxe Situation endete erst, als die galoppierende Inflation die Europäische Zentralbank (EZB) zwang, ihre äußerst lockere Geldpolitik zu beenden.
Stichwort Staatsfinanzierung: Die Null- und Niedrigzinsphase trieb seltsame Blüten. Die Möglichkeit der Regierungen, kostenlos oder zumindest zu extrem niedrigen Zinsen Kredit aufzunehmen, änderte bei manchen Politakteuren die Einstellung zur Staatsverschuldung. Losgetreten vom linken Flügel der demokratischen Partei in den USA machte sich international das Narrativ breit, für Staaten mit eigener Zentralbank gäbe es beim Geldausgeben kein Limit. Ausgeglichene Haushalte und Budgetbeschränkungen seien von gestern, denn die Notenbank könnte dem Staat das Geld „drucken“, das er für seine Ausgabenpläne benötigt. Unter dem Begriff „Modern Monetary Theory“ (MMT) wurde dieser Sichtweise auch noch ein wissenschaftlicher Anstrich gegeben. In Deutschland griff zum Beispiel der heutige Bundeswirtschaftsminister das Narrativ auf und schwadronierte mit den MMT-Thesen durch den Bundestagswahlkampf 2021.
Stichwort „Bedingungsloses Grundeinkommen“: Die Idee, der Staat solle allen Bürgern ein Grundeinkommen zahlen, ohne dafür eine Gegenleistung bringen zu müssen, ist salonfähig geworden. In einer Zeit, in der der Arbeitskräftemangel nicht mehr nur Zukunftsvision, sondern bereits Realität ist, sollen die Bürger also Geld vom Staat erhalten, um ihr Leben notfalls auch ohne Erwerbsarbeit gestalten zu können. Argumente gegen ein „Bedingungsloses Grundeinkommen“ – wie die Finanzierbarkeit (insbesondere in Zeiten offener Grenzen) – werden zur Seite gewischt. Die soziale Absicht und die Lust, einfach mal etwas Neues auszuprobieren, scheinen wichtiger zu sein, als eine rationale Bewertung der sozialpolitischen Utopie.
Stichwort Wachstumspolitik: Lange Zeit galten gesunde Staatsfinanzen, Deregulierung, eine liberale Handelspolitik sowie der Abbau von Bürokratie und Subventionen als wirtschaftspolitisches Erfolgsrezept. Die Rahmenbedingungen sollten so gesetzt sein, dass es den privaten Unternehmen möglichst leichtfällt, das volkswirtschaftliche Angebot auszuweiten. Die angebotsorientierte Wirtschaftspolitik setzt auf Anreize. Eigeninitiative, Innovationskraft und letztlich die Leistungsbereitschaft aller wirtschaftlichen Akteure sollen bestmöglich gefördert werden. Von dieser Grundausrichtung hat sich die Wirtschaftspolitik in den letzten Jahren immer weiter abgewendet. Statt die Rahmenbedingungen für ein größeres Angebot zu verbessern, gefällt sich die Politik seit einigen Jahren darin, aktiv ins Wirtschaftsgeschehen einzugreifen – oft mit kleinteiligen Regulierungen, die den Unternehmern die Lust am Wirtschaften nehmen. Die Selbstheilungs- und Produktivkräfte des Marktes sind offenkundig aus der Mode gekommen. Wenn die Dinge den Politikern sichtbar entgleiten, greifen sie in der Not einfach zu Verzichtsappellen oder gar zu Rationierungen, statt die zugrundeliegenden Missstände mit allen Mitteln zu beseitigen. So war es während der Corona-Krise: Auch im zweiten Winter nach Pandemiebeginn versuchte die Politik noch krampfhaft, mit Lockdowns und Kontaktbeschränkungen aller Art die Nachfrage nach Krankenhausbetten zu reduzieren. Die Alternative, nämlich die Kapazitäten im Gesundheitswesen kräftig zu erhöhen, spielte keine große Rolle. Auch die Energiekrise zeigt, dass die Politik im Zweifel lieber auf moralische Appelle und Verzichtsbereitschaft der Bürger setzt, als alles Notwendige zu tun, um die Energieversorgung sicherzustellen. Das vom Bundeswirtschaftsminister mantraartig vorgetragene „Deutschland hat kein Stromproblem“ sollte schnell als Makulatur enttarnt werden. Denn als die Deutschen in großer Zahl Heizlüfter kauften, um eine Alternative zur Gasheizung zu haben, meldete sich der Chef der Bundesnetzagentur zu Wort: Wenn zu viele Menschen gleichzeitig mit Heizlüftern heizen, könnten die Stromnetze zumindest regional überlastet werden. Statt die großen Weichen richtig zu stellen (Weiternutzung der Atomkraft), werden von hoher Stelle lieber kleinteilig Tipps zum Energiesparen erteilt.
Woher kommt es, dass die Welt heute gefühlt auf dem Kopf steht? Woran liegt es, dass der Staat als wirtschaftlicher Akteur sein Comeback feiern konnte? Die Spurensuche reicht zurück zur globalen Finanzkrise 2007/08. Bis zur Finanzkrise gab es ein weit verbreitetes Vertrauen in die Marktwirtschaft. Zwar dominierte in gewissen Kreisen nach wie vor das Unbehagen gegenüber Markt und Kapitalismus, doch die Erfolge marktwirtschaftlicher Reformen sprachen für sich. Misst man eine Wirtschaftsordnung an ihren Ergebnissen, so ist klar, dass die Marktwirtschaft – ergänzt um sozialen Ausgleich – anderen Ordnungen haushoch überlegen ist. Ein Bündel marktorientierter wirtschaftspolitischer Reformmaßnahmen wurde im sogenannten Washington Consensus verdichtet. Internationale Organisationen wie der IWF stützten sich lange Zeit auf diesen wirtschaftspolitischen Konsens: Solide Staatsfinanzen, Privatisierung, Deregulierung und vieles mehr waren als Grundlage für wirtschaftliche Stabilität und Wachstum anerkannt. Diese positive Sicht auf marktorientierte Reformen änderte sich mit der globalen Finanzkrise. Viele Kritiker sahen sich in ihren Vorbehalten bestätigt: Märkte neigten zu irrationalen Übertreibungen. Die Gier der Menschen führe ins Verderben.
Doch die Ursachen der Finanzkrise allein auf Unzulänglichkeiten des Marktes und der Markakteure zu reduzieren, wäre nicht sachgerecht. Am Entstehen der US-Immobilienblase, die der Auslöser der globalen Finanzkrise war, waren auch andere beteiligt. Die amerikanische Zentralbank hatte die Wirtschaft mit ihrer expansiven Geldpolitik mit zu viel Liquidität versorgt. Das begünstigte die Blasenbildung an den Finanz- und Vermögensmärkten. Und die Politik hatte nicht nur versäumt, den Finanzsektor angemessen zu regulieren. Sie hat mit dem politischen Ziel, möglichst vielen Amerikanern zu einem Eigenheim zu verhelfen, die Exzesse insbesondere am Subprime-Markt mit angeheizt.
Das Beispiel der globalen Finanzkrise zeigt: Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Realität ergibt sich immer aus dem Zusammenspiel von Markt und Staat. Märkte können versagen. Doch der Staat, der das Marktversagen heilen soll, kann ebenso versagen. Ökonomen haben beides, Markt- und Staatsversagen, ausgiebig erforscht. Theorie und Praxis sprechen dafür, dass dem Markt ein Vertrauensvorschuss gebührt.
Schaut man sich die Gründe für das Versagen von Märkten genau an, lassen sich alle unerwünschten Fehlentwicklungen auf zwei grundlegende Aspekte zurückführen: In bestimmten Marktkonstellationen sind die Akteure zu eigennützig und/oder ihnen fehlen wichtige Informationen, um zu einem gesamtwirtschaftlich optimalen Ergebnis zu kommen. Doch auch Politiker, die etwaiges Marktversagen prinzipiell heilen könnten, sind weder allwissend, noch sind sie reine Altruisten. Deshalb sind staatliche Lösungen umso eher sachgerecht, je größer der fachliche und moralische Vorsprung der regierenden Politiker gegenüber den Bürgern ist. Fehlt dieser Vorsprung, dann sind Marktlösungen zu bevorzugen. (Norbert Walter)
Im Informationszeitalter ist der Wissensvorsprung der Regierenden dramatisch abgeschmolzen. Jeder interessierte Bürger hat heute mühelos Zugriff auf praktisch alle für ihn interessanten Informationen. Das Wissen der Top-Experten aus allen Bereichen und Fachdisziplinen ist dank des Internets und der neuen Medienformate (Podcasts etc.) für jeden Bürger verfügbar. Die Zeiten, in denen nur die politischen Akteure Zugriff auf die Top-Experten und dadurch einen entscheidenden Informationsvorsprung hatten, sind vorbei. Zudem heben sich die Politiker gemessen an ihrer formalen Qualifikation kaum noch von der zu einem größeren Teil akademisierten Bevölkerung ab. Der fachliche Vorsprung, der sie zu besseren Problemlösern machen könnte, ist weitgehend dahin. Auch moralisch dürften Politiker im Schnitt kaum besser sein als die Bürger. Allein der Wunsch nach Wiederwahl führt für Politiker oft genug zu inneren Konflikten – denn das, was eine sachgerechte politische Maßnahme wäre, ist nicht immer das, was beim Wähler gut ankommt. Bei einer realistischen Betrachtung politischer Prozesse spricht viel dafür, möglichst viel Verantwortung an den Markt und damit an die Bürger zu geben und den Einfluss der Politik auf die Bereiche zu beschränken, wo der Markt an seine Grenzen stößt.
Bis hierher zielte die Argumentation auf Effizienzfragen. Darüber hinaus gibt es noch eine staatsphilosophische Komponente. In den westlichen Demokratien ist es keine Frage, dass der Staat Dienstleister für seine Bürger ist. Die Gesellschaften werden prinzipiell vom Individuum her gedacht („Mechanische oder Instrumentelle Staatsauffassung“). Ganz anders sieht es in Autokratien aus. Hier wird die Gesellschaft als ein natürlicher Organismus gesehen, in den sich das Individuum einzufügen hat („Organische Staatsauffassung“). Der Staat hat einen Selbstzweck, hinter dem die individuellen Bedürfnisse der Bürger zurückzustehen haben. Der Zusammenbruch des Kommunismus war nicht das Ende der Geschichte. Heute erleben wir, dass das autoritäre China unter Staatspräsident Xi Jinping zum Systemwettbewerb gegen die liberalen Demokratien des Westens antritt. Umso wichtiger ist es, die Funktionsbedingungen unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu verstehen und zu verteidigen.
Wir möchten mit diesem Buch Wege für eine bessere Wirtschaftspolitik aufzeigen. Als Ökonomen geht es uns naturgemäß um ökonomisch sinnvolles Handeln. Es geht uns um die effiziente Nutzung knapper Ressourcen. Es geht darum, Verschwendung zu vermeiden und aus den knappen Ressourcen das Bestmögliche herauszuholen. Oder um es mit den eingangs zitierten Worten von George Bernard Shaw zu sagen: „Ökonomie ist die Kunst, das Beste aus dem Leben zu machen“.
Hinweis: Das ist das Vorwort des Buches „Die Wirtschafts-Welt steht Kopf: Abschied von Illusionen – Konzepte für eine neue Wirtschaftspolitik“.