Sagbar oder unsäglich?
Präferenzverfälschung und Unwahrhaftigkeit im öffentlichen Diskurs

Bei der Frage nach der Grenze zwischen dem, was öffentlich „sagbar“ ist, und dem, was als „unsagbar“ gilt, gehen die Meinungen auseinander. Das Institut für Demoskopie Allensbach hat in einer Umfrage 2021 festgestellt, dass 45 Prozent der Befragten glauben, ihre politische Meinung frei äußern zu können, während 44 Prozent dies verneinen. Derartige Umfrageergebnisse legen die Möglichkeit einer gewissen Verfälschung der öffentlich geäußerten Meinungen und Präferenzen in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen nahe. In der Tat sind Präferenzverfälschung und Unwahrheiten im öffentlichen Diskurs nicht ungewöhnlich. Und sie können sich negativ auf das Wohlergehen der Bürger auswirken, indem sie die Lösungsfindung für gesellschaftliche Probleme erschweren oder schlechte Politikmaßnahmen ergriffen werden.

Präferenzverfälschung in der Demokratie

Im öffentlichen Diskurs äußern die Bürger nicht immer ihre wahren Präferenzen und Meinungen. In autoritären Staaten ist dies aufgrund von Repression, Zensur und fehlender Meinungsfreiheit hinlänglich bekannt: Viele jener Bürger Russlands, die das aktuelle russische Regime verachten, äußern dies – durchaus nahvollziehbarerweise – nicht laut in der Öffentlichkeit.

Aber auch in liberalen Demokratien, in denen staatliche Zensur verboten ist und Meinungsfreiheit als Grundrecht und damit als Abwehrrecht gegen den Staat verankert ist, besteht die Möglichkeit der Präferenzverfälschung. Soziale Ächtung, insbesondere mit Bezug auf sogenannte „politische Korrektheit“, kann dazu führen, dass Menschen ihre wahren Präferenzen und Meinungen zurückhalten oder sie sogar verfälschen. Wie kann das sein?

Bei der Bereitschaft zur öffentlichen Meinungsäußerung sind wenigstens drei Aspekte der Abwägung von Kosten und Nutzen entscheidend:

  1. Der instrumentelle Nutzen einer öffentlichen Meinungsäußerung bezieht sich auf die Wahrscheinlichkeit, dass eine politische Entscheidung den eigenen Präferenzen entspricht. Man äußert sich öffentlich, weil man was verändern will.
  2. Der expressive Nutzen einer öffentlichen Meinungsäußerung ist vornehmlich das positive Gefühl, endlich das aus eigener Sicht „Richtige“ geäußert zu haben. Das „Richtige“ zu äußern, tut gut, was einem expressiven Nutzengewinn entspricht, selbst wenn sich die Politik dadurch nicht ändert.
  3. Die Kosten einer sozialen Ächtung oder der Nutzen der Anerkennung bei öffentlicher Meinungsäußerung spielen eine Rolle, da Menschen soziale Wesen sind und Wert auf die Meinung anderer legen. Die Bewertung der Kosten der sozialen Ächtung hängt stark vom wahrgenommenen Meinungsklima ab.

Jeder Einzelne hat in der Regel eine geringe Chance, die öffentliche Meinung in einem Land zu beeinflussen. Die öffentliche Meinung selbst führt, wenn überhaupt, nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu den gewünschten politischen Entscheidungen. Daher ist der instrumentelle Nutzen der öffentlichen Meinung in der Regel klein. Der expressive Nutzen einer öffentlichen Meinungsäußerung kann je nach Charakter des sich Äußernden groß oder klein sein. Insofern kann Aktionismus bis hin zu „Klebeaktionen für das Klima“ zum Erlebnis der öffentlichen Meinungsäußerung dazu gehören und für die Aktivisten einen expressiven Nutzen stiften. Für die breite Bevölkerung ist der expressive Nutzen einer Meinungsäußerung in der Regel aber nicht ausschlaggebend.

Gefürchtete soziale Ächtung spielt hingegen eine große Rolle. Das wahrgenommene Meinungsklima beeinflusst die öffentliche Meinungsäußerung, und die Diskrepanz zwischen privaten Präferenzen und öffentlicher Darstellung führt zu Präferenzverfälschung und öffentlicher Unwahrhaftigkeit. Politische Entscheidungen werden dann auf der Grundlage verfälschter Meinungen oder verfälschter Präferenzen getroffen und die gesellschaftliche Wohlfahrt sind.

Ein Beispiel dient der Veranschaulichung: Vielen Bürgern läge globaler Klimaschutz am Herzen, sie wollen aber auch individuell, günstig, flexibel und möglichst ungehindert mobil sein. Dabei ist für sie außerhalb der Großstädte das Auto dem oft klimafreundlicheren ÖPNV klar überlegen. Der durchschnittliche Berufspendler wird sich aber derzeit hüten, öffentlich für eine geringere Belastung des Autoverkehrs einzutreten, auch wenn dies seine private Meinung oder sein Wunsch ist. Die öffentliche Meinung kann er kaum beeinflussen, d.h. der instrumentelle Nutzen ist klein. Er möchte in der Öffentlichkeit nicht als „Umweltsau“ dastehen und er ist nicht expressiv veranlagt. Um der Gefahr der öffentlichen Ächtung zu entgehen, wird er entweder schweigen oder sogar behaupten, er sei eigentlich für den ÖPNV, selbst wenn er diesen kaum nutzt. Tatsächlich gab es wenig kritische öffentliche Meinungsäußerungen zum „Deutschlandticket“, obwohl relevante Teile der Bevölkerung es nicht nutzen, aber über ihre Steuern kräftig mitfinanzieren. Vielleicht liebt die Mehrheit der Bürger tatsächlich das „Deutschlandticket“. Doch darf durchaus bezweifelt werden, ob eine Mehrheit der Stimmbürger in einer geheimen Abstimmung für eine politische Maßnahme wie das „Deutschlandticket“ gestimmt hätte, wenn die Alternative eine Senkung der Mineralölsteuer im gewesen wäre. Wäre dies der Fall, läge eine Präferenzverfälschung vor, die für die Mehrheit der Bürger mit realen Kosten verbunden wäre, da sie nicht das bekommen haben, was sie eigentlich bevorzugt hätten. Wie das Beispiel zeigt, ist Präferenzverfälschung keine Bagatelle, sondern kann auch in der Demokratie überaus wohlfahrtsschädigend sein.

Gegen Präferenzverfälschung

Um Präferenzverfälschung zu reduzieren, können folgende Ansätze hilfreich sein:

Erstens können bereits einzelne Bürger das Meinungsklima verändern, indem sie ihre wahren Präferenzen äußern und andere dazu ermutigen, dasselbe zu tun. Indem sie ihre Meinung öffentlich äußern, können sie andere beeinflussen, sich ebenfalls entsprechend ihrer wahren Präferenzen zu äußern. Diese Einsicht entspricht dem bekannten Märchen von Hans Christian Andersen: Es bedurfte nur eines Kindes, das wahrheitsgemäß sagte, der Kaiser sei nackt, damit alle Bürger öffentlich aussprachen, was sie insgeheim wussten – der Kaiser ist nackt.

Zweitens gilt es sich zu selbst zu disziplinieren und problem- oder besser sogar lösungsorientiert zu argumentieren, statt zu moralisieren. Das gilt insbesondere auch für Medienschaffende und sogenannten „Bildungseliten“. Moralisieren ist zwar einfach, denn dies ist primär expressiv und man braucht dabei wenig nachzudenken. Doch eine zu schnelle Moralisierung von Themen führt dazu, dass zu wenig über die zugrunde liegenden Probleme und deren Lösungsmöglichkeiten nachgedacht wird – Scheinlösungen und die Hoffnung auf Symbolpolitik sind die Folge. Die wahren Probleme bleiben erhalten und ungelöst.

Drittens können politische Rahmenbedingungen, wie direktdemokratische Instrumente mittels bindenden Volksentscheidungen dazu beitragen, dass Bürger ihre Meinungen offener äußern. Volksentscheide wirken stark gegen Präferenzverfälschung, da verschiedene Interessenvertreter für ihre jeweilige Position aktiv Argumente entwickeln müssen, die dann ausdiskutiert werden können. Und Volksentscheide dienen auch als eine Art Blitzableiter, da besonders polarisierende Themen aus dem politischen Prozess gelöst werden und dann entschieden werden, was Klarheit über die tatsächlich zugrundeliegenden Präferenzen schafft.

Hinweis: Weitere Aspekte dieses Beitrags finden sich in „Öffentliche Meinung: Zwischen Wahrheit und Verfälschung?“ in: Norbert Berthold und Jörn Quitzau (Hrsg.), „Die Wirtschafts-Welt steht Kopf“.

David Stadelmann
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