Ist Gier schlecht?
Warum Egoismus nicht unser größtes Problem und homo oeconomicus immer noch quicklebendig ist

Homo oeconomicus in der Theorie

Seit zehn, fünfzehn Jahren hat homo oeconomicus es nicht mehr so leicht wie früher. Die Verhaltensökonomie fordert ihn immer wieder heraus. Sie zeigt, beispielsweise im Experiment, immer wieder daß Menschen sich gar nicht so verhalten wie sie es täten, wenn sie homines oeconomici wären.

Vieles von dem, was dann alle paar Wochen jeweils montags im Handelsblatt als neuerlicher Todesstoß für die ökonomische Verhaltenshypothese berichtet wird, basiert dann aber schlicht auf Mißverständnissen. Wenn Menschen zum Beispiel nicht vollständig informiert sind, dann spricht das nicht gegen die ökonomische Verhaltenshypothese, sondern eher für sie, denn Informationsbeschaffung und -verarbeitung sind kostspielig, vollständige Information also mithin völlig irrational. Wenn Menschen komplexe Entscheidungssituationen nicht vollständig erfassen gilt etwas Ähnliches. Denn auch kognitive Leistungen sind mit Opportunitätskosten verbunden, so daß es hier und da völlig vernünftig ist, sich auf Heuristiken zu verlassen oder von Institutionen leiten zu lassen.

Dann ist da natürlich noch die strikte Eigennutzannahme. Zugegeben, über lange Zeit hat die ökonomische Theorie hier fast immer auf die Annahme des gegenseitigen Desinteresses gesetzt – man maximiert seine eigene Nutzenfunktion, in der die Wohlfahrt des Nachbarn nicht vorkommt. Das mag erstaunen, wenn man bedenkt, daß bereits Adam Smith in seiner Theory of Moral Sentiments das menschliche Einfühlungsvermögen betonte und die damit verbundene Fähigkeit, fremdes Verhalten aus der Perspektive eines unabhängigen Beobachters zu bewerten und damit zu rechnen, daß Andere das eigene Verhalten ebenso beurteilen. Lange vor allen soziologischen Sozialisationstheorien hatten die Ökonomen damit eine Idee davon, wie es zur Verinnerlichung sozialer Normen kommt: Homo oeconomicus bringt gerade wegen seiner Eigennutzorientierung auch eine Neigung zur Hilfsbereitschaft und ein Verständnis von Fairneß mit, denn er hat ein Interesse daran, von seinen Mitmenschen wohlwollend beurteilt zu werden.

Wenn also über lange Jahrzehnte beispielsweise Altruismus in ökonomischen Modellen kaum vorkam, so lag das wohl nicht unbedingt am homo oeconomicus an und für sich, sondern eher daran, daß Altruismus für die untersuchten Fragestellungen – Preistheorie und ähnliche grundsätzliche Dinge – zunächst mal keine Rolle zu spielen schien. Auf der anderen Seite haben zum Beispiel Harold Hochman und James Rodgers bereits 1969 – also lange vor dem Aufstieg der modernen Verhaltensökonomik – ein theoretisches Modell veröffentlicht, in dem sie Einkommensumverteilung damit erklären, daß die relativ Reichen ein Interesse am Konsumniveau der relativ Armen haben. Es gibt also bereits eine lange Tradition, homo oeconomicus auch mit Empathie oder zumindest einem wohlbegründeten Interesse für die Wohlfahrt seiner Nachbarn auszustatten. Nämlich immer dann, wenn Empathie für den theoretisch zu untersuchenden Sachverhalt auch tatsächlich von Bedeutung sein könnte.

Angesichts seiner Allgemeinheit und seiner Anwendbarkeit auf unterschiedlichste Fragestellungen erscheinen Nachrichten vom Ende des ökonomischen Verhaltensmodells also als stark übertrieben, jedenfalls dann, wenn man sich von der allzu simplen Vorstellung verabschiedet, homo oeconomicus sei der alles wissende, stets alles berechnende, an schwerem Autismus leidende Rationalclown. Denn eigentlich ist er nur jemand, der auf der Grundlage seiner Präferenzen und seines Wissens über die Welt vernünftig und damit berechenbar handelt (siehe auch Kirchgässner 2008).

Damit soll nicht abgestritten werden, daß etwa in Experimenten oft ein Verhalten nachgewiesen wird, das mit der ökonomischen Verhaltenshypothese kaum zu vereinbaren ist. Man denke beispielsweise an den sogenannten Besitztumseffekt: Menschen bewerten oft ein und dieselbe Sache höher, wenn sie diese besitzen als in einer Situation, in der Andere über diese Sache verfügen. Nur: Oft sind solche Anomalien für die Prognose aggregierter Marktergebnisse nicht wirklich entscheidend. Ist der Besitztumseffekt ein Hindernis auf dem Weg zu einem ohnehin nur theoretisch denkbaren, perfekten Tauschgleichgewicht? Sicher! Ändert er etwas daran, daß normalerweise die Preise steigen, wenn das Angebot sinkt? Wohl nicht.

Es ist also wohl so, daß das ökonomische Verhaltensmodell, wie Feyerabend (1976) so schön schrieb, in einem „Meer von Anomalien“ schwimmt. Aber in solchen Meeren schwimmt fast jeder theoretische Erklärungsansatz in den empirischen Wissenschaften, und homo oeconomicus ist bisher nicht ertrunken. Das liegt sicherlich vor allem daran, daß eine erfolgversprechendere Alternative mit der Fähigkeit zu präziseren Prognosen und mit einem umfangreicheren Anwendungsbereich bisher nicht in Sicht ist. Was nicht ist, kann zwar irgendwann noch werden. Im Moment aber steht ein Nachfolger des ökonomischen Verhaltensmodells sicherlich noch nicht bereit.

Homo oeconomicus im richtigen Leben

Es passiert heutzutage tatsächlich, daß Bücher mit Titeln wie Die Kunst, kein Egoist zu sein zu Verkaufsschlagern werden. Auf der anderen Seite berichtet der Deutsche Spendenrat, daß in Deutschland im Jahr 2009 etwa 2,1 Milliarden Euro für anerkannt gemeinnützige Zwecke gespendet wurden. Dazu kommen Aufwendungen, die hier gar nicht erfasst werden, wie etwa ehrenamtlich eingesetzte Zeit oder beträchtliche informelle Hilfeleistungen, die in keiner Spendenstatistik auftauchen. Es scheint also, als wäre Egoismus schon deshalb kein besonders drängendes Problem, weil die Bürger hierzulande nicht besonders egoistisch sind. Natürlich könnte man das Spendenaufkommen vielleicht noch etwas erhöhen. In den USA gibt es beispielsweise mehr Philanthropie pro Kopf, aber dort zahlt man ja auch weniger Steuern.

Wieso also glauben so viele Leser dennoch, daß sie gute Ratschläge brauchen, um von ihrem Egoismus loszukommen? Wahrscheinlich gründet schon diese Frage auf einem Mißverständnis, denn die schlechte Eigennutzorientierung ist natürlich immer die Eigennutzorientierung der Anderen. Das Problem ist, daß Eigennutzorientierung, gerne auch verschärft als Egoismus oder Gier bezeichnet, im öffentlichen Diskurs zu einer residualen Universalerklärung für alle Dinge geworden ist, die in der Gesellschaft nicht funktionieren und für deren Scheitern es keine andere einfache Erklärung gibt. Dabei kommt es manchmal auch zu seltsamen Konstellationen: Die Ursache für die Finanzkrise beispielsweise wird nicht selten von den gleichen Leuten in „hemmungsloser Gier“ gesehen, die kurz darauf in methodischen Diskussionen die Ökonomen auffordern, doch endlich diesen unrealistischen homo oeconomicus zu beerdigen.

Man sollte in dieser Diskussion jedenfalls nicht vergessen, daß das gleiche Motiv der Gewinnmaximierung, das zur Erfindung von credit default swaps und Ramschhypotheken führte auch der Antrieb war, als es im Elberfeld des ausgehenden 19. Jahrhunderts darum ging, die Reinsynthese von Acetylsalicylsäure zu ermöglichen. Und vor allem sollte man nicht vergessen, daß auch die Instrumente, die zu Krisen führen, sinnvolle Anwendungen haben. Die Möglichkeit zur Versicherung von Kreditrisiken ist schließlich zunächst einmal sehr hilfreich. Ganz allgemein gilt auf Märkten, auf denen alle Transaktionen freiwillig sind, schließlich: Man stillt seine Gier nach Gewinnen nur, wenn man Dinge oder Dienste anbietet, die für andere nützlich sind. Wenn das aber der Fall ist, dann kann Gier nicht besonders problematisch sein.

Natürlich: Die Spielregeln müssen stimmen. Wenn es den beiden Transaktionspartnern möglich ist, die mit ihren Gewinnen verbundenen Kosten auf Dritte zu externalisieren, dann hat man ein Problem. Deshalb bläut man den Studierenden in Vorlesungen zur Wirtschaftsordnung schließlich immer wieder ein, daß die Spielregeln so gestaltet werden müssen, daß ein solches Externalisieren schwierig bis unmöglich ist. So weit, so trivial. Jedoch – wie macht man das im Einzelfall?

Die Gier, das Wissen und die Spielregeln

Genau hier, bei den Spielregeln, liegt die eigentliche Schwierigkeit. Nicht Egoismus, nicht Gier ist auf Märkten das Problem. In der Politik ist das übrigens anders, denn da wo es nicht um freiwillige Transaktionen geht, sondern um die mit der Drohung monopolisierter Gewalt erzwungene Verteilung von Ressourcen, da ist Gier sehr wohl und sehr unmittelbar ein Problem. Auf Märkten ist das Problem aber nicht der Egoismus, sondern das begrenzte Wissen.

Man grübelt darüber nach, wie man seinen Gewinn maximieren kann. Man überlegt sich also, was für andere Marktteilnehmer nützlich sein kann und wie hoch wohl deren Zahlungsbereitschaft wäre. Dann fällt einem irgendwann etwas ein, vielleicht ein neues Finanzinstrument, vielleicht auch ein neue, hocheffiziente Solaranlage – was auch immer. Und dann geht möglicherweise etwas schief: das Finanzinstrument verursacht eine Finanzkrise, die Solaranlage verursacht massenhaft brennende Dachstühle. In beiden Fällen ist man hinterher klüger und ändert die Spielregeln, so daß der sinnvolle Einsatz beider Neuerungen weiter möglich, der gefährliche Einsatz aber ausgeschlossen ist.

Viel von dem, was in der öffentlichen Diskussion in jüngerer Zeit dem Eigennutzstreben, dem Egoismus oder gar der Gier angelastet wird, hat möglicherweise vielmehr etwas mit gesellschaftlichen Lernprozessen zu tun. Gewinnstreben ist zunächst einmal vor allem verantwortlich, soweit es etwas Neues hervorbringt. Das wollen und begrüßen wir ja üblicherweise auch, denn Fortschritt wäre anders kaum zu bekommen. Fortschritt, das Auftreten von Neuerungen, konfrontiert uns aber immer auch mit den Grenzen unseres Wissens über Wirkungen und Nebenwirkungen dieser Neuerungen. Der Rest ist dann Lernen aus Fehlern, und idealerweise eine vernünftige Anpassung der Spielregeln als Reaktion auf diese Fehler.

Literatur

Feyerabend, Paul (1976). Wider den Methodenzwang, Frankfurt a.M., Suhrkamp.

Hochman, Harold & Rodgers, James (1969). „Pareto optimal redistribution“, American Economic Review 59: 542-557.

Kirchgässner, Gebhard (2008). Homo Oeconomicus, 3., erw. und erg. Aufl., Tübingen, Mohr Siebeck.

Smith, Adam (1790). The Theory of Moral Sentiments, 6th ed., London, Millar, online abrufbar unter.

4 Antworten auf „Ist Gier schlecht?
Warum Egoismus nicht unser größtes Problem und homo oeconomicus immer noch quicklebendig ist

  1. Ein wirklich sehr gelungener Beitrag!
    Hoffentlich wird er auch mal in einer Zeitung veröffentlich, sodass ihn vielleicht
    ein breiteres Publikum zu lesen bekommt!!!

  2. Sehr geehrter Herr Schnellenbach,
    einige zusätzliche Anmerkungen zu Ihrem Beitrag:

    1. In der Tat haben die Ergebnisse der experimentellen Tests gerade bei jüngeren Ökonomen Begeisterung hervorgerufen: Wer möchte nicht, dass wir Menschen edel sind, hilfreich und gut. Jedoch sind diese Tests nicht unkritisiert geblieben. Siehe z.B. Levitt/Deubner: Superfreakonomics, 2010.
    2. Aber auch wenn die Tests den Homo oeconomicus widerlegt haben sollten, fragen Sie mit Recht: Wo sind die besseren Alternativen? Brunner/Meckling haben 1977 die verschiedenen homines gegenübergestellt, der Soziologe Baurmann hat 1996 in seinem voluminösen Buch „Der Markt der Tugend“ einen Homo sapiens erfunden. Im Wettbewerb dieser verschiedenen Homines hat sich -so scheint mir- der immer wieder todgesagte Homo oeconomicus bis heute gut behauptet.
    3. Wenn ich mich so umschaue, dann wird offensichtlich gerne ein statistisch-probabilistisches Modell des Homo oeconomicus verwendet: Die meisten Menschen handeln meistens eigeninteressiert und rational. Doch dann stellt sich die spannende Frage:Unter welchen Bedingungen gilt die Regel, wann die Ausnahme?
    Zwei Antworten:
    Anti-Ökonomen sehen auf den Finanzmärkten eine besonders fiese Variante des homo oeconomicus am Werk, während in Politik und Sozialindustrie die Gutmenschen das Sagen haben. Hayek grenzt anders ab: In der kleinen Horde gilt die Ausnahme, in der großen Gesellschaft die Regel.
    4. Eine besonders trickreiche Lösung haben Homann und seine Schüler (Homann/Suchanek:Ökonomik, 2000) gefunden: In Anlehnung an Popper sehen sie das Modell des Homo
    oeconomicus nicht als eine falsifizierbare Hypothese sondern als ein methodologisch-heuristisches Instrument an. Empirische Tests haben dann keine Bedeutung.

    Eines ist auf jeden Fall sicher: Die Diskussion um den Homo oeconomicus wird weitergehen.

    mit freundlichen Grüßen
    K.-H. Dignas

  3. Seit Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek hat es im Grunde genommen keinerlei neue Erkenntnisse in der Ökonomie gegeben, jedenfalls nicht hinsichtlich der Motive, warum Menschen wirtschaften.

    Ich denke, man kann und sollte die ganzen Diskussionen, welche die Existenz eines homo oeconomicus zu bestreiten versuchen, schlicht ignorieren. Dieses Ignorieren bietet sich nicht zuletzt auch deshalb an, weil hinter diesen gefährlichen Diskussionsansätzen die durchschaubaren Versuche von Gutmenschen und Linkspolitikern stehen, für ihre sozialistische ideologische Weltsicht zu werben, derzufolge der gesunde menschliche Egoismus etwas Böses und Widernatürliches sei.

    Es wäre ausgesprochen hilfreich, wenn sich die Menschen vom sozialdemokratischen Jahrhundert verabschieden würden und von sozialromantischen Vorstellungen endlich und endgültig lösen würden (eine Zielsetzung, die ich nebenbei betrachtet, auch für eine der vielen wichtigen Aufgaben eines Wirtschaftswissenschaftlers halte). Das hätte, behaupte ich, vor einigen Jahren auch so manchen Käufer von Verbriefungen und Zertifikate gut zu Gesicht gestanden, statt sich auf ein sicheres und von Altruismus geprägtes Schlaraffenland zu verlassen.

    Über die Schädlichkeit des Altruismus hat die Altmeisterin der sozialismuskritischen Philosophie, Ayn Rand, die richtigen Worte gefunden. Nur und einzig der Egoismus ist die Triebkraft, welche Innovationen, Fortschritt und wirtschaftliche Entwicklung voran treibt.

    Der Homo Oeconomicus ist quicklebendig! Und das ist gut so.

  4. Ich gehe davon aus, daß unter Testbedingungen eine durchaus „merkbares“ Verhaltensänderung auftritt. Gewisse Dinge lassen sich durchaus testen, aber bei Verhalten sehe ich da doch eher die Möglichkeit von großen Abweichungen je nachdem ob man sich „beobachtet“ fühlt oder nicht.

    Und bei Egoismus und Altruismus, sehe ich eine ganz großes Problem. Wenn jemand altruistisch handelt, handelt er/sie dann nicht doch auch in Ihrem Interesse?

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