Nach über 30 jähriger Mitgliedschaft trat ich vor einigen Jahren aus der SPD aus. Eingetreten war ich ursprünglich, weil die damalige CDU einen bloßen Regierungswechsel als eine Art Staatsstreich umzuinterpretieren suchte. Das empfand ich als Zeichen dafür, dass die Christdemokraten immer noch nicht die Spielregeln der Rechtsstaatlichkeit hinreichend verinnerlicht hatten. Zur damaligen Zeit stand es – zumal im Lichte der Weimarer-Endzeit – vollkommen außer Zweifel, dass die SPD aufgrund ihrer Traditionen als die Partei des Rechtsstaates schlechthin zu gelten hatte. Da ich den Rechtsstaat für die größte aller westlichen zivilisatorischen Errungenschaften halte und auch damals schon hielt, überwand ich meine Zweifel an sozialdemokratischer Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik und trat den Traditionen meiner Familie folgend der Partei eines Otto Wels bei.
Ich habe nie das geringste Amt angestrebt, sondern die Mitgliedschaft als symbolischen Akt, aber auch als finanzielle Unterstützung einer verlässlich rechtsstaatlichen Stimme im gesellschaftlichen Dialog verstanden. Im Laufe der Jahre schien mir die sozialdemokratische Politik allerdings zunehmend vom allgemeinen, durch die Medien bestimmten Meinungs-Opportunismus geprägt zu sein. Immerhin brachte es ein damaliger SPD Landesminister in der Debatte um die Einführung einer Kronzeugenregelung noch fertig, hervorzuheben, dass man eine solche Entscheidung doch „nicht durch Zuruf“ erledigen könne. Das war aber lange Zeit die letzte einschlägige sozialdemokratische Großtat und verhinderte die Einführung der sogenannten Kronzeugenregelung nicht. Ob die Kronzeugenregelung selber begrüßenswert ist oder nicht, darf dabei dahingestellt bleiben. In keinem Falle akzeptabel war es, sie unter dem unmittelbaren Eindruck aktueller tagespolitischer Ereignisse im Schnellverfahren durchpauken zu wollen. Da hier fundamentale rechtsstaatliche Prinzipien involviert waren, war eine Abkühlungsphase gegenüber der allgemeinen Hektik überaus angezeigt.
Im Fall Sarrazin geht es keineswegs um eine rechtsstaatliche Frage. Sie hat ungeachtet des Medienrummels nicht annähernd die Bedeutung früherer parteiinterner Grundsatzentscheidungen. Dennoch scheinen wir es mit einer erstaunlichen Entwicklung zu tun zu haben. Ein Parteigremium scheint es fertig gebracht zu haben, sich in der „causa Sarrazin“ seine Unabhängigkeit gegenüber äußerem Druck zu erhalten. Jetzt werden die Medien wieder Skandal rufen und vor allen Dingen gerade jene, die zuvor durch mannigfache Verfälschungen die Thesen eines argumentativ und von seinen wissenschaftlichen Grundlagen her eher fragilen Buches so zuspitzten, dass das allfällige Skandalgeschrei wenigstens halbwegs berechtigt schien. Da man sich auch in der SPD zunächst einfach auf die Medien verließ und mehr deren Eigendynamik als einer eigenen Lektüre folgte, dürfte es Herrn Sarrazin recht leicht gefallen sein, die meisten zunächst substantiell berechtigt erscheinenden Vorwürfe zu entkräften, da sie auf einfachen Fehldarstellungen, bewussten Fälschungen und überspitzten Interpretationen beruhten. Mit ein paar zusätzlichen kosmetischen Reparaturen an offenkundigem, auch von ihm selbst zu verantwortendem Unfug, wird es ihm dann gelungen sein, eine recht unangreifbare Position aufzubauen. Im Parteiordnungsverfahren wird es schwer gewesen sein, einen Ausschluss mit dem Festhalten an den Prinzipien einer offenen partei-internen Diskussion zu vereinbaren.
Da ich keineswegs privilegierten Zugang zu den Verhandlungsabläufen habe, sind meine vorangehenden Feststellungen rein spekulativ. Man darf aber recht sicher sein, dass sie einigermaßen mit den tatsächlichen Vorgängen übereinstimmen könnten. Die Tatsache, dass man Herrn Sarrazin nicht ausschloss, ist jedenfalls unbestreitbar. Es ehrt die SPD in meinen Augen, dass sie sich in dieser Sache nicht hat beirren lassen. Es ist erfreulich, dass sie sich etwas von ihrer alten Immunität gegen Infektionen mit fulminanten Meinungsseuchen und Herdenverhalten erhalten konnte. Hoffen wir, dass die anderen Parteien auch etwas von dieser Resistenz in immerhin schon über 60 jähriger rechtsstaatlicher deutscher Nachkriegsgeschichte erwerben konnten.
Dieses Gemeinwesen hat sich in vielen Hinsichten weit über das so genannte Wirtschaftswunder hinaus überraschend erfreulich entwickelt. Gerade weil es so etwas gibt, wie die jetzt zu verzeichnende Weigerung der zuständigen Parteigremien der SPD, auf bequeme Weise dem Druck der Straße nachzugeben, lohnt es sich für Zuwanderer und Migranten, sich in diese Gesellschaft zu integrieren. Was sie im Einzelergebnis vielleicht ärgert, sollte sie insgesamt freuen. Es wäre ebenfalls außerordentlich erfreulich, wenn die Grünen und hier gerade jene unter ihnen, die selber einen Migrantenhintergrund haben, in dieser Sache etwas mehr Zurückhaltung zeigen würden, als sie es im Augenblick vorzuhaben scheinen. Die Hoffnung darauf, die SPD in der Konkurrenz um Migranten-Stimmen aus kurzfristig abzuhängen, sollte aus langfristigen Überlegungen heraus nicht das aktuelle politische Handeln der Grünen bestimmen. Allerdings besteht wenig Hoffnung, dass sie einschlägigen Versuchungen widerstehen könnten, die SPD insoweit in Schwierigkeiten zu bringen. Die SPD hat jedenfalls – unabhängig davon, was man von Herrn Sarrazin und seinen Thesen hält – Grund, stolz auf sich zu sein.
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Ich kann Ihren Gedankengängen „folgen“ in etwas veränderter Form hat sich das bei mir auch abgespielt. Und ja ich finde auch die Parteien verlangen viel zu viel Parteiräson. Abweichende Meinungen werden ganz schnell stigmatisiert. Und Leute die sich an gewisse Dinge halten (Ypsilanti und „ohne Linke) werden ziemlich gemobbt. Insgesammt wäre es an der Zeit die „Befugnisse“ der Parteien zu beschneiden. Aber das ist wohl Wunschdenken.
Ich denke Thilo Sarrazin ist letztlich seiner eigenen Inkompetenz aufgesessen. Worin besteht das Problem, all die Dinge, die er anspricht, zu ändern ? Er hätte/sollte es in Kleinem beginnen; nämlich in seiner eigenen Lebensart. Sich einfach hinzustellen und zu sagen: das ist Scheisse, so geht alles zu Grunde kann man nur von einem Politiker vorgesetzt bekommen … .
Wahrscheinlich ist er auch selber enttäucht über die Entwicklung, die Deutschland, auch unter seiner Einwirkung, letztlich genommen hat – wer weiss. Traurig allemal.
Ich muss es leider so sagen; es ist vollkommen irrelevant was bei uns passiert – die Zeiten nach denen sich Herr Sarrazin sehnt kommen nicht wieder. Somit schafft sich Herr Sarrazin selber ab.
Vielleicht verraten Sie uns jetzt noch, warum Sie nach diesem Loblied auf die SPD aus dieser Partei ausgetreten sind?