Kürzlich erschien in der Arbeitspapierreihe des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) ein Papier von James Heckman, das äußerst lesenswert ist. Es geht um die späten Nachwirkungen der Rassendiskriminierung in den USA, die immer noch relevant zu sein scheinen, auch Jahrzehnte nach den Erfolgen der Bürgerrechtsbewegung. In den rohen Einkommensdaten zeigen sich solche Nachwirkungen möglicherweise in den deutlich geringeren Löhnen, die schwarze Amerikaner oder solche mit lateinamerikanischer Herkunft relativ zu weißen Amerikanern verdienen.
Mit einem Mythos, der in Diskussionen über dieses Thema immer wieder auftaucht, räumt Heckman schnell auf: Durch genetische Vererbung übertragene Defizite an relevanten Eigenschaften (wie etwa Intelligenz) können nicht als Ursache für unterschiedliche Einkommen angeführt werden. Hier bezieht sich Heckman auf neueste biologische und neurowissenschaftliche Forschungen, die zeigen, dass es generell falsch wäre, eine einfache Kausalität von den Genen zur individuellen Ausstattung mit Fähigkeiten und Eigenschaften zu unterstellten. Vielmehr haben auch Umweltbedingungen und individuelle Erfahrungen einen Einfluss auf die Ausprägung von Chromosomen. Im Klartext: In die genetische Ausstattung eines Menschen prägt es sich ein, wenn er in einer ungünstigen Umgebung aufwächst, in der beispielsweise seine Fähigkeiten nicht gefördert werden.
Auf der anderen Seite ist aber auch die Hypothese skeptisch zu beurteilen, nach der die stabilen Unterschiede der Einkommen etwas mit einer fortbestehenden Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt zu tun haben. So zeigt Heckman, dass sich die Vorzeichen der Einkommensunterschiede teils sogar umkehren, wenn man für die Fähigkeiten (gemessen in landesweit standardisierten Schulabgangstests) korrigiert. Dann verdienen Amerikaner lateinamerikanischer Herkunft sogar mehr als weiße Amerikaner mit gleichen Testresultaten. Gleiches gilt für Frauen afrikanischer Herkunft; lediglich Männer afrikanischer Herkunft verdienen weiterhin im Durchschnitt sechs Prozent weniger als Weiße mit gleichen Testergebnissen.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass akademische Fördermaßnahmen durchaus wirken. Angehörige von Minderheiten haben eine um etwa 15 Prozentpunkte höhere Wahrscheinlichkeit auf ein College zu gehen als weiße Amerikaner mit gleichen Testresultaten. Auch wenn es sicherlich noch erhebliche Reste von Rassendiskriminierung auf dem Arbeitsmarkt in den USA gibt – die Einkommensunterschiede in den Rohdaten scheinen doch zu einem erheblichen Teil durch Unterschiede in den individuellen Fähigkeiten begründet zu sein.
Was ist hier also los? Heckmans Antwort ist so einfach wie plausibel. Erstens: Nochmals sollte ganz deutlich gesagt werden, dass die genetische Vererbung individueller Fähigkeiten nicht wichtig ist. Zweitens: Die Tatsache, dass man in der öffentlichen Diskussion auch in den USA entlang ethnischer Abgrenzungen diskutiert ist nicht zwingend. Es ist nur eine Konvention, Menschen so zu kategorisieren. Drittens: Es liegt eben eigentlich kein Problem einzelner ethnischer Gruppen vor, sondern ein Problem unterprivilegierter sozialer Schichten. Viertens: Das Problem um das es geht ist eine gesellschaftliche Vererbung ungünstiger sozialer Umstände. Wer in schwierigen, ungünstigen Verhältnissen aufwächst – und das völlig unabhängig von ethnischer Herkunft – wird mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht die nötigen Fähigkeiten erwerben, die für das spätere Berufsleben wichtig sind. Die späten Nachwirkungen der Rassendiskriminierung existieren also deshalb fort, weil die ungünstigen sozialen Umstände mit hoher Wahrscheinlichkeit vererbt werden, in die Familien vor Generationen durch eben diese Diskriminierung gestürzt wurden.
Diese Punkte scheinen mir auch vor dem Hintergrund immer noch schwelender deutscher Diskussionen wichtig zu sein. Es spricht eigentlich nichts dafür, dass die Probleme hier wesentlich anders gelagert sind. Die gesellschaftliche Vererbung ungünstiger gesellschaftlicher Startbedingungen und ihrer Folgen hat zunächst einmal nichts mit der Frage zu tun, ob die betroffene Familie vor zwei Generationen zugewandert ist, oder ob sie bereits seit der Varusschlacht im Teutoburger Wald lebt.
Die Politikempfehlungen, die aus dieser Diagnose folgen, sind weniger klar. Ein wesentliches Problem ist, dass Heckman deutlich zeigt, wie wichtig der richtige Zeitpunkt für unterstützende Eingriffe ist. Aber hier wird es unerfreulich. Wird jemand eingeschult, dann ist das Kind im großen und ganzen bereits in den Brunnen gefallen. Trotz vieler Experimente mit schulischen Förderprogrammen zeigen sich dann zwischen Schülern, deren Eltern unterschiedliche Bildungsabschlüsse haben, sehr robuste Unterschiede in den messbaren Fähigkeiten.
Wenn Förderung gut und effizient funktionieren soll, dann muss sie vorher einsetzen. An dieser Stelle befällt jeden dem Paternalismus gänzlich abholden Ökonomen ein mulmiges Gefühl im Bauch. Denn auf einen begrenzten Paternalismus laufen Heckmans Vorschläge hinaus: Öffentlich (oder auch philanthropisch) finanzierte Sozialprogramme sollten in Familien mit ungünstigen sozialen Startbedingungen so früh wie möglich unterstützend intervenieren. Es ist aber für jeden mit politisch-ökonomischen Argumenten vertrauten Leser offensichtlich, dass es viele gute Gründe für Skepsis gibt, wenn Bürokraten ein Mandat zur Einmischung in familiäre Verhältnisse gegeben werden soll.
Auf der anderen Seite wären solche Programme möglicherweise der gangbarste Weg zur Förderung sozialer Mobilität, die gerade auch aus einer an der Fairness des Ordnungsrahmens interessierten, ordnungsökonomischen Sicht nicht unwichtig ist. Ganz pragmatisch stellt sich auch die Frage, ob frühe Förderung nicht effizienter ist als lebenslange Transferzahlungen. Wie so oft haben wir es hier also mit der Notwendigkeit einer pragmatischen Abwägung zu tun. Vom Resultat, zu dem man bei dieser Abwägung kommen mag, bleibt aber die Diagnose unberührt: Es scheint wenig plausibel und sinnvoll zu sein, ein allgemeines Problem gesellschaftlicher Startbedingungen als spezifisches Problem von Zuwanderern zu diskutieren.
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Ich halte den Schluss für etwas vorschnell, jedenfalls ohne die Einfügung des Wortes „ausschließlich“. Die Frage ist doch, ob – zumindest in Deutschland – die „ungünstigen Umweltbedingungen“ tatsächlich grundsätzlich unabhängig von Zuwanderung betrachtet werden können, oder ob nicht die Werte, Normen, Motive und Möglichkeiten verschiedener Zuwanderergruppen Einfluss darauf haben. Dass in bestimmten Brennpunktschulen die Schüler kaum Deutsch können, was sich dann auch nachteilig („ungünstige Bedingungen“) auf die Mitschüler auswirkt, die es von Haus aus konnten, ist z.B. ein Fakt, den es ohne Zuwanderung schlicht nicht gäbe.
Aber ob man das Wort „Jehova“ nun vermeidet oder nicht, die einzige technische „Lösungsmöglichkeit“ ist genau die von Heckman genannte, in Deutschland m.E. noch evidenter als in den USA. Hierzulande wird man es sich wegen des nach Zahlern statt nach Empfängern gierenden Sozialsystems auch weniger leisten können, nicht in diese Richtung zu gehen. Vielleicht geht es zuerst dadurch, erstmal nur entsprechende Angebote zu schaffen, und später durch „nudge“, was einem Liberalen alles auch keine Freudentränen in die Augen treibt, aber womöglich eine unvermeidbare Konsequenz der Form des Staates ist, für die man sich in Deutschland entschieden hat.