Gastbeitrag
Apropos Eurogipfel – Anmerkungen zum Ausklingen einer medialen Krise

I

Die Staats- und Regierungschefs der Eurozone haben von allem etwas genommen, und die daraus gewonnene Medizin, durchaus nicht bloß  ein Placebo, ist anscheinend in der Tat ein wertvolles Beruhigungsmittel geworden. Als solches entspräche sie auch dem Dringlichsten. Denn die sogenannte Eurokrise war ja von Anfang an keine Krise des Euro, dessen Existenz war zu keiner Zeit gefährdet. Sie war in den letzten Wochen und Monaten schon nicht mehr allein eine Schuldenkrise, die sie zweifellos in ihrem Kern ist. Jemand hat von einer medialen Krise gesprochen und damit etwas Wesentliches nicht übertrieben polemisch in den Vordergrund gerückt: Die Bevölkerung dieses prosperierenden Landes hat von dem, was diese Krise angeblich an Schlimmem zum Ausdruck bringt, nichts, buchstäblich  gar nichts selbst wahrgenommen oder selbst erlebt; aber in einer Telefonumfrage haben sich 72 Prozent, man kann es kaum glauben: 72 Prozent, zu der Auffassung bekannt, dass ihre Währung, der Euro, keine Zukunft mehr habe. Das war in der Tat zugleich niederschmetternd – und skurril.

Medienwissenschaftlern wird etwas Kluges einfallen, wie das zu erklären sei. Sie werden bei der Suche nach unrühmlichen Akteuren die Kollegen von der Front der Nationalökonomen nicht übersehen, die ihren einfacheren Mitbürgern zu erzählen hatten, was sie bei ihren verdienstvollen Ausflügen in die Randzone des Denkbaren alles an Schlimmem ausgeguckt haben, das sich zum Angsthaben eignet. Auch nicht die Akteure von der Front, wo die Formulierung maßgeblicher Meinung einen angestammten Ort hat, bei den sogenannten Qualitätszeitungen. Mit einer regelrechten Kampagne gegen Regelwerk und Praxis der Europäischen Währungsunion war schließlich diejenige vorneweg marschiert, die sich am meisten dafür hält.

Wenn etwas bodenlos ist, mag man hoffen, dass ein Weniges ausreicht, damit es sich als bodenlos erweist – und verschwindet. Im Falle des bodenlosen Teils der sogenannten Euro-Krise, der ein Produkt der öffentlichen Meinungsbildung ist, könnte  das Wenige, das das Maßnahmepaket des Eurogipfels vom 21. Juli dem schon früher Beschlossenen hinzugefügt hat, vielleicht diese Rolle spielen.

Nehmen wir einmal das Wording beiseite, so sind die Staats- und Regierungschefs der Eurozone mit ihrer Ablehnung eines großen Schuldenschnitts nahe ihrer alten Grundlinie geblieben. Zu dieser Grundlinie gehört:  Auch ein Land, das sich übermäßig verschuldet hat, muss seine Schulden vollständig zurückzahlen, früher oder später. Und für ein Land wie  Griechenland, dem es anscheinend in fundamentaler Weise an Wettbewerbsfähigkeit fehlt, muss die Wurzel einer echten Problemlösung allemal im Wandel des Landes – Wandel der Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur – gesehen werden, nicht in dem, was an Hilfe von außen kommt. Wirksame Hilfe, so unentbehrlich sie sein mag, ist dann immer nur akzessorisch und strictement bedingt. Einem Land mit gesunden marktwirtschaftlichen Reflexen, das aus exogenen Gründen oder in einem Anfall von Leichtfertigkeit in eine Finanzkrise gerät,  kann man vielleicht durch Streichung von Schulden plus „Marshallplan“ erfolgreich helfen, wieder auf die Beine zu kommen – wenn man die Rund-um-Einladung zu neuer Leichtfertigkeit, die darin gesehen werden kann, nicht scheut. Bei Griechenland zählt nicht nur diese Scheu, sondern auch die Notwendigkeit, das Land voraussichtlich viele Jahre lang auf dem steinigen Weg zu halten, der zu ausreichender Wettbewerbsfähigkeit führt, zu so viel Wettbewerbsfähigkeit, dass das Land nicht nur ohne neue Staatsschulden auskommt, sondern auch die alten zurückzahlen kann. Zur Hervorbringung  solcher Disziplin kommen keine großen Vorleistungen, wie sie ein radikaler Schuldenschnitt darstellte, in Frage.   Schuldenschnitt et cetera sind Einfälle der Kreislauf-Buchhalter einer Sanierung, nicht die Einfälle von Strategen.

II

Apropos Griechenland-Paket: Das Griechenland-Paket verstärkt die Maßnahmen, mit denen die Strafe des Marktes für den leichtfertigen Schuldner – extrem hohe Zinsen, Verlust der Kreditfähigkeit – auf Zeit außer Kraft gesetzt wird. Griechenland wird durch Kredite der Euro-Partner (und des Internationalen Währungsfonds) für mehr Jahre als bisher von der Kreditaufnahme am Markt unabhängig gestellt, und das zu noch einmal herabgesetzten Zinsen (nun zu Zinsen nahe den Refinanzierungszinsen der helfenden Partner). Damit gewinnt das Land Zeit und Luft für die Selbsthilfe, auf die alles ankommt. Die zeitliche Portionierung gewährleistet die Möglichkeit, unterwegs strikt auf der konditionierenden Selbsthilfe zu bestehen. Ordnungspolitisch ist das Ganze nicht schön, aber noch vertretbar. Zu bedenken ist  das kollektive Eigeninteresse der Helfer an der Vermeidung einer offenen Insolvenz, zu bedenken auch die Solidarpflicht der Euro-Partner, soweit  die Strafe des Marktes für übermäßig gehalten werden kann.

Apropos Beteiligung der Gläubiger: Verschuldet sich ein Staat in einer Weise, die seine, wie es heute heißt, „Tragfähigkeit“ in Frage stellt – oder auch nur in Frage stellen könnte -, so sind seine Gläubiger an den Folgen stets von vornherein beteiligt – selbstverständlich unfreiwillig. Sie sind es zunächst in der Form erwarteter Verluste, ausweislich der gesunkenen Marktbewertung ihrer Forderungen. Sodann in der Form realisierter Verluste – die den erwarteten im Prinzip quantitativ gleichen – bei einem Verkauf ihrer Forderungen. Oder eben in der Form, die eine Insolvenzregelung festlegt. Stellt sich ein externer Sanierungshelfer ein, so mindern sich die erwarteten Verluste der Gläubiger. Dem Sanierungshelfer mag das nicht gefallen, weil er dem Schuldner helfen will, nicht dessen Gläubigern, und weil er befürchtet, dass die Sanierung für ihn teurer wird, wenn auch die Gläubiger davon profitieren. Letzteres ist zwar nicht zwingend so, aber es mag so sein. Freilich, will man die Gläubiger vom Sanierungserfolg ausschließen, so muss man sie überraschen (zum Beispiel indem man ihre Forderungen billig aufkauft, bevor sie etwas vom Sanierungsplan ahnen, sonst verkaufen sie sie nicht mehr so billig), oder man muss eben gewalttätig werden (wie im Falle einer Insolvenz). Die Lage schwarz in schwarz malen, die Bereitschaft zu einer Sanierungshilfe in Abrede stellen und die Anleihepapiere dann aufkaufen ist natürlich der billigste  Weg. All dies ist unfreiwillige Beteiligung.

Die vielberühmte freiwillige Beteiligung der privaten Gläubiger an den Kosten der Sanierung ihres Schuldners war  immer etwas in der Nachbarschaft einer Schimäre. Denn sie fügt der schon vorhandenen unfreiwilligen  Beteiligung im Prinzip nichts hinzu.  Freiwillig geschieht, was Vorteile bringt, zumindest keine Nachteile. Die meisten Politiker haben sich immer gescheut, davon zu reden, dass die Gläubiger Griechenlands – auch die gierigen Banken und Versicherungen – an dessen Malaise von vornherein schon beteiligt waren, teilweise in der Form erwarteter Verluste, der Wertminderung ihrer Anleihepapiere, teilweise auch in der Form realisierter Verluste. Und wenn ein heutiger Gläubiger seine Forderung gegen Griechenland billig erworben hat, so war der Gläubigerverlust eben bereits bei seinem Vorbesitzer eingetreten – kein Grund, den neuen Gläubiger noch einmal zu jagen. Aber die Politiker, namentlich die deutschen, waren gegenüber ihren Bürgern in Sachen Gläubiger-Beteiligung dermaßen ins Obligo gegangen, dass sie nun etwas vorweisen mussten. So wurde die Umwandlung eines erwarteten – vielfach auch schon in den Büchern ausgewiesenen und steuerlich geltend gemachten – Verlusts in einen meist gleichwertigen realisierten Verlust zu einem Vorgang erklärt, der Gläubigerbeteiligung schafft. In allen Varianten, die den Banken und Versicherungen im Griechenland-Paket angeboten sind, ist genau dies der Kern: (1) Beim Ankauf niedrig bewerteter Griechenlandanleihen am Sekundärmarkt ist es so, (2) beim Umtausch ungesicherter Anleihen in gesicherte mit gehörigem Abschlag bei den Zinsen oder beim Nominalwert und auch (3) beim Umstieg von bald auslaufenden Anleihen in neue Papiere mit langer Laufzeit, aber garantierter Rückzahlung, so dass die alten Gläubiger das zeitlich ausgeweitete Insolvenzrisiko nicht übernehmen, dafür jedoch mit niedrigeren Zinsen einverstanden sein müssen. Richtig ist, dass bei  diesen Vorgängen die Gläubiger die Chance hergeben, an den Vorteilen aus einer erfolgreichen Sanierung Griechenlands teilzuhaben (hier: die Chance des Wiederanstiegs der alten Anleihewerte); aber sie steigen eben auch aus dem korrespondierenden Risiko aus, dem Risiko nämlich, dass der Ausgang des Sanierungsprojekts noch ungünstiger sein könnte, als es der Markt heute vorwegnimmt. Selbst die Fälle einer spektakulär starken Fristverlängerung sind in Sachen neuer Gläubigerbeteiligung reine Show-Nummern; die privaten Anleger gehen aus dem Risiko heraus, der Rettungsfonds geht hinein.

Nur in kaum merklichen Umfang wird diese Art „Gläubigerbeteiligung“ alsbald zu einer Senkung der griechischen Staatsschuld beziehungsweise  der staatlichen Zinslast führen. Das hat mehrere Gründe. Zum einen ist der gesamte Umfang der vorgesehenen Rückkauf- und Umtauschvorgänge nicht sehr groß. Zum anderen ist bei einem wesentlichen Teil dieser Vorgänge der Rettungsfonds Erwerber der Altanleihen,   und ihm stehen daher zunächst einmal die ungeminderten Zinsansprüche gegen den griechischen Staat zu (als Gegenposten des übernommenen Risikos). Schließlich: Bei bestimmten Varianten der angebotenen Austauschmöglichkeiten bleibt der Nominalwert der Papiere in der Hand der Altgläubiger unverändert.

Von Schuldenschnitt kann also nicht die Rede sein. Aus den weiter vorn genannten Gründen ist das auch gut so. Theoretisch hätte die Möglichkeit bestanden, den Rettungsfonds zu ermächtigen, die ausstehende griechische Staatsschuld, soweit sie am  Sekundärmarkt gehandelt wird, mehr oder weniger vollständig zu erwerben – zu   gehörig niedrigen Kursen notabene und verbunden etwa mit der Maßgabe, die erzielten Kursabschläge erst nach und nach, im Zuge plangerechter Reformanstrengungen, an Griechenland weiterzureichen. Erst dann und insoweit wäre die griechische Zinslast gesunken.  So etwas  ist  auch vorgeschlagen worden obwohl in diesem Falle  der Reformdruck der Märkte auf Griechenland, der ja in der Regel ein hilfreicher, ja, notwendiger Druck ist, nur ausnahmsweise ein ungemessener, von sofort an weggefallen wäre. Man wollte darin eine Quasi-Umschuldung sehen. Klugheit der Regierungen hat sie verhindert. Hätte sie es nicht getan, hätte der Deutsche Bundestag sie verhindern müssen. Gottlob braucht man für so etwas ihn.

Beiprodukt der kunstvollen Dramaturgie in Sachen Beteiligung der Gläubiger ist, dass die Sanierung der griechischen Banken auf den Weg gebracht worden ist. Eine Pazifizierung der Rating-Agenturen (die in den meisten Formen der Gläubigerbeteiligung ein Zeichen der Insolvenz des griechischen Staates sehen wollten) und – in der Folge -  der Europäischen Zentralbank (die in diesem Falle den griechischen Banken kein Geld mehr geben wollte)  war unumgänglich. Die nun vorgesehene Ruck-zuck-Ersetzung der von den griechischen Banken nicht herunter geschriebenen griechischen Staatsanleihen durch notenbankfähige neue Papiere (mit geringerem Nominalwert), für die der Rettungsfonds einsteht, macht die griechischen Banken  ehrlich, aber viele von ihnen zugleich bankrott. Deren Rekapitalisierung ist daher zu recht eigener Programmpunkt des Brüsseler Pakets, die gemeinschaftliche Hilfe dabei eine der neuen Kompetenzen des Rettungsfonds.

Apropos Erweiterung der Kompetenzen des Rettungsfonds: Für die Elemente dieses Segments des Brüsseler Gesamtpakets gibt es jeweils Gründe, die man nicht einfach Non-Valeurs nennen mag. Doch in der auf solche Weise entstehenden Ansammlung guter Gründe gibt es keinen einzigen, der so beeindruckt, dass man dafür das ewige Leben des Rettungsfonds in Kauf nehmen möchte.

  • Die schon erwähnte neue Kompetenz, Anleihen finanzschwacher Mitgliedstaaten aufzukaufen, erscheint nur erträglich, weil sie nur genutzt werden darf, wenn die gleichen restriktiven Bedingungen erfüllt sind, wie sie für die Nutzung der Hauptkompetenz des Fonds – die Gewährung hochkonditionierter Finanzierungshilfen (mit Vetorecht jedes Mitgliedslandes) – gelten. Aber da der Fonds de facto ein ewiges Leben haben soll – er wird ja im künftigen ESM fortleben -, reicht das zur Beruhigung nicht aus. Anleihen, die der Fonds zu seiner Refinanzierung aufnimmt, sind von dem, was man die Finanzierung durch Euro-Bonds nennt, nicht sehr verschieden. Noch zählt, dass nur die Haftenden (einmütig) entscheiden, ob solche Bonds emitiert werden dürfen. Aber die Hürden, das zu ändern, sind womöglich nicht hoch genug, jedenfalls für den nicht,  der  sich nun sehr viel Zeit nehmen kann, sie ein für allemal zu überwinden. Der besonders erfahrene Ministerpräsident Luxemburgs, der auf jeden Fall irgendwann über die Hürden will, ist jedenfalls zuversichtlich.
  • Die Sorgen aufgrund des ewigen Lebens für den Rettungsfonds, der den ursprünglichen Abreden zufolge schon bald dahinscheiden sollte, verbinden  sich auch mit der neuen Kompetenz für vorsorgliche Programme. Sie sollen anscheinend allen Mitgliedsstaaten zugute kommen, die sich von   Finanzmärkten, die außer Rand und Band geraten sind, bedroht sehen. Jüngstes Beispiel für die Art der wohl gemeinten Problemfälle sind die Finanzmarktturbulenzen, die Italien vor  wenigen Wochen erlebt hat. Solche Beispiele machen politisch großen Eindruck. Sie rechtfertigen jedoch nicht eine Makroentscheidung für die allmähliche Fortentwicklung des Rettungsfonds hin zu einer Art Europäischem Währungsfonds. Man kann auch der Meinung sein: Mit so etwas muss man leben.

III

Zu fragen bleibt, welche strategische Bedeutung in den Ergebnissen von Brüssel, namentlich in dem erneuten Verzicht auf einen substanziellen Schuldenschnitt zu sehen ist. Bei oberflächlicher Betrachtung, mag man feststellen: Dieser Verzicht war Ausdruck des Respekts vor der Diagnose der Europäischen Zentralbank, dass ein substanzieller Schuldenschnitt wegen der damit offenbar werdenden Zahlungsunfähigkeit Griechenlands an den internationalen Finanzmärkten Folgen haben werde, die denen nach der Insolvenz von Lehman Brothers glichen. Der Verzicht wäre dann nicht als dauerhafter Verzicht zu interpretieren; er könnte aufgegeben werden, sobald die Gefahren einer internationalen Ansteckung nicht mehr akut erscheinen. Bei näherer Betrachtung hält man  einen grundlegend anderen Schluss für  ebenso plausibel. Sogar für noch plausibler, nimmt man die wiederholten politischen Erklärungen ernst, Griechenland werde niemals fallen gelassen. Was damit gemeint ist, soll ein Umweg erhellen.

Grundpfeiler der Europäischen Währungsunion ist die Selbstverantwortung der finanzpolitisch autonomen Mitgliedstaaten, festgeschrieben in Artikel 125 der Europäischen Verträge. Man liest diesen Selbstverantwortungs-Artikel auf verschiedene Weise.

So:

  • Die Mitglieder der Europäischen Währungsunion bezahlen ihre Schulden selbst. Ungeschrieben: Und wenn sie meinen, es nicht mehr zu können, erklären sie sich für      zahlungsunfähig und suchen ein Arrangement mit ihren   Gläubigern, genannt Umschuldung oder Schuldenschnitt.

Oder auch so:

  • Die Mitglieder der Europäischen Währungsunion bezahlen ihre Schulden selbst. Ungeschrieben: Sie bezahlen sie auf jeden Fall; einen   Staat, der sich für zahlungsunfähig erklärt, gibt es nur außerhalb der Europäischen Währungsunion.

Die erste Lesart ist gängige Lesart geworden. Überall wird Umschuldung gefordert, Schuldenschnitt. Zugespitzt: Hat ein Staat Schulden aufgenommen, die er nicht zurückzahlen kann, ist daran der Kreditgeber ebenso schuld wie der Kreditnehmer, also halbe halbe, verkehrte Welt. Konsequenter Vertreter der viel härteren zweiten Lesart ist, so darf man ihn wohl interpretieren, der Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank, Jürgen Stark, und wohl auch dessen Vorgänger im Amt, Otmar Issing. Zur zweiten Lesart gehört die Vorstellung, dass ein Staat  die Währungsunion verlässt, wenn er  aufhört, seine Schulden zu bezahlen;  Otmar Issing spricht dies auch aus, fast.

Dass ein Staat, der seine Kreditfähigkeit verloren hat, gleichsam Anspruch darauf hat, die Kosten seiner Sanierung „in geordneter Weise“ mit seinen Gläubigern zu teilen, ist auf jeden Fall abzulehnen. Das Prinzip, dass er diese Kosten selbst tragen muss und am Ende alle seine Schulden zu bezahlen hat, muss ganz obenan stehen. Ein Staat ist schließlich keine Privatperson und kein Unternehmen. Ein Staat, der sich von seinen Bürgern Geld leiht, darf diesen nicht sagen (auch nicht implicite): In den Zins, den ihr von mir verlangt, müsst ihr einrechnen, dass ich euch das Geld nicht zurückzahlen werde, wenn es mir zu schwer fällt. Für ein Mitglied der Europäischen Währungsunion, das in Finanznot geraten ist, sind davon nicht die geringsten Abstriche zu machen. Das Interesse, zur  Währungsunion zu gehören, muss dessen Willen zu äußersten Stabilisierungsanstrengungen am Leben halten. Niemand weiss im Vorhinein, was jemand mit äußersten Anstrengungen zuwege bringen kann. Dass die Partner in der Währungsunion ihm für die Selbsthilfe Zeit und Luft verschaffen (und dafür die eigene Kreditfähigkeit nutzen), erscheint mit der Grundregel des Artikel 125 allerdings vereinbar (wenn die Bindung an die Selbsthilfe strikt bleibt). Eigeninteresse am Zusammenhalt der Währungsunion gebietet es sogar. Damit ist nicht gemeint, dass nun an die Stelle der Kostenbeteiligung der Gläubiger die Kostenbeteiligung der Unionspartner treten soll. (Wäre es anders, hätten diejenigen Recht, die auf Beteiligung der Gläubiger pochen.) Wo  die gebotene Hilfe aufhört und das unangemessene Subventionieren anfängt, wird immer streitig sein. Die Brüsseler Beschlüsse nähern sich wohl der Grenze. Wird sie nicht überschritten, darf man nicht anstößig finden, dass bei gutem Ausgang am Ende alle Gläubiger alles zurück erhalten, was sie einmal verliehen haben; dass ist schließlich das Selbstverständlichste von der Welt.  Das gilt auch für die Gläubiger, die erst spät zu solchen geworden sind und sich für die Zeit der Angst, viel zu verlieren, hohe Zinsen haben versprechen lassen oder, was dasselbe ist,  ein Anleihepapier zu herabgesetztem Preis erworben haben. Wer im Augenblick der Gefahr gegen hohen Zins darauf setzt, dass am Ende alles gut geht, ist kein böser Mensch (nicht einmal, wenn er in einem Hedge Fonds sitzt).

Das politische Versprechen, ein Mitglied der Europäischen Währungsunion werde niemals fallen gelassen, kann nicht heißen, die Hilfe der Partner, die dem in Finanznot geratenen Griechenland Zeit und Luft verschaffen soll, sei notfalls grenzenlos. Davor steht, dass jede Portion Hilfe für Griechenland an einen verabredeten Fortschritt auf dem Sanierungspfad gebunden ist. Die darin liegende Begrenzung  ist absolut unaufgebbar. Nur im Maße dieses Fortschritts können auch die Helfer erwarten, dass ihre Bürgschaften nicht in Anspruch genommen werden und dass sie eines Tages zurück erhalten, was sie an Krediten zur Verfügung gestellt haben. Auf das Niemals-fallen-gelassen-werden kann sich verlassen, wer selbst seinen Part erfüllt, aber auch nur der.

Wer die die Dinge so sieht, hält das Drängen auf eine Insolvenzordnung für Staaten für wenig dringlich. Über so etwas redet man, wenn an den Finanzmärkten vergessen wird, dass es das geben kann, einen Staatsbankrott, und wenn als Folge solchen Vergessens die Zinsdifferentiale für unterschiedlich solide Schuldner absurd gering werden. Solches Vergessen ist momentan nicht mehr akut, aber man kann sich ja Zeit lassen bei dem Reden darüber. „Geordnete Insolvenz eines Staates“, das klingt so, als gelte es, nach den Regeln für gute Wirtschaftspolitik den Umgang mit einem zwar seltenen, aber letztlich doch normalen Problemfall  zu optimieren. Die Insolvenz eines Staates ist aber kein normaler Problemfall. Es muss ihn nicht geben, es darf ihn nicht geben, und es gibt ihn trotzdem. Aber es ist und bleibt ein Katastrophenfall, kein normaler Problemfall. Not kennt kein Gebot? Regeln für den Notstand? Regeln für das Enteignen von Gläubigern? Wie verhindern, dass der Notstandsfall gerade deshalb öfter einmal eintritt, weil er nun geregelt und übersichtlich ist, wohl gar berechenbar? Für den Ordnungspolitiker geht es hier allemal um Schweinskram. So schlecht ist man in der Vergangenheit ohne eine Insolvenzordnung für Staaten doch gar nicht gefahren! Ceterum censeo: Ein Staat muss seine Schulden bezahlen, und zwar unbedingt, nicht  vielleicht (soweit es ihm nützlich erscheint oder  es in der  Insolvenzordnung vorgesehen ist). Für die meisten Ökonomen ist das Unbedingte nichts, was sie mögen. Das gehört zu deren déformation professionelle. Darüber muss man hinweg gehen.

IV

Der Ansehensverlust des Euro bei den Bürgern (notabene: nicht auch an den Finanzmärkten), der nichts mit deren wirtschaftlichen Erfahrungen zu tun hat und insoweit als mediales Phänomen aufgefasst werden darf, hat selbst durchaus wirtschaftspolitische Bedeutung erlangt.  Dass etwas ökonomisch so Gleichgültiges wie die freiwillige Beteiligung der privaten Gläubiger an der Sanierung Griechenlands monatelang wirtschaftspolitisches Hauptthema in Europa werden konnte, muss man wohl hier einordnen. Das zweite Griechenland-Paket hätte zusammen mit der Regelung für die demnächst anstehende Ablösung des jetzigen Rettungsfonds durch den Europäischen Stabilisierungsmechanismus schon im März  verabschiedet sein können -  was die Märkte beruhigt hätte -, wäre nicht das unsägliche Thema der Gläubigerbeteiligung gewesen. Nachdem dann die unfreiwillige Gläubigerbeteiligung vom Tisch genommen war, konnte man Wolfgang Schäuble immer wieder anmerken, wie deutlich er die riesige Differenz empfand zwischen der geringen sachlichen Bedeutung dessen, was er und Frau Merkel gegen viele Widerstände nun noch durchsetzen wollten, und der   beinahe alles andere überragenden Bedeutung, die eine, wenn es um den Euro ging, schon nicht mehr gelehrige, jedenfalls nicht mehr vertrauensbereite  deutsche Öffentlichkeit dem unsinnigen Thema beimaß. (In diesem Falle sind  sie beide es sogar selbst gewesen, die dem Publikum  im vergangenen Jahr die Sehnsucht nach der Gläubigerbeteiligung eingetrichtert haben.)

Das Vertrauen des Bürgers in den Euro, sein Ansehen wird wiederkommen. Auf die Dauer setzt sich die wirtschaftliche Erfahrung der Menschen durch, verdrängt die Angst vor dem Schlimmen, das nicht real, sondern nur vorgestellt ist. Denn der Euro ist ja eine Erfolgsgeschichte. An seinem Anfang standen jede Menge Skeptiker. Die Mehrheit der deutschen Nationalökonomen setzte ihre Namen auf eine Liste, die an dem Aufruf hing, die Sache mit dem Euro nicht zu beginnen. Aber dann kam ein volles Dutzend guter Jahre; fast alles, was befürchtet worden war, trat nicht ein. Die Skeptiker tauchten unter. Aber Rechthaber überzeugt man nicht. Als das Eurosystem in Turbolenzen geriet, kamen sie aus ihren Unterständen, und das Gestänker ging von vorne  los, vor Gericht und überall. Auch das wird vorübergehen.

An zwei wichtigen Stellen hat das Eurosystem Verletzbarkeit gezeigt. Der   Stabiltäts- und Wachstumspakt hatte weniger Durchschlagskraft, als ihm zugetraut worden war. Unsolide Haushaltspolitik wurde von den Finanzmärkten zu lange nicht wirksam bestraft. Spektakulär war die unverzeihliche Weigerung Deutschlands und Frankreichs, die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts nicht gegen sich gelten zu lassen. Noch spektakulärer war der lange Zeit im Verborgenen betriebene Missbrauch der finanzpolitischen Autonomie in Griechenland für eine Verschuldung, die anscheinend jede normale Grenze der Tragfähigkeit des Landes überschreitet. (Der komplexeren Problemursachen wegen sei von den anderen problematischen Fällen – Irland, Portugal – hier einmal nicht die Rede.) So beklagenswert das Fehlverhalten ist, das in diesen wichtigen Beispielen eine entscheidende Rolle gespielt hat, für ein Urteil über den historischen Rang der hier verzeichneten Versagensfälle muss man wohl  auf etwas größere Distanz gehen. Dann wird man von der Feststellung, dass der Euro eine Erfolgsgeschichte ist und das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen wird, keine Abstriche machen.

Für dieses Urteil in etwas größerer Distanz muss man sich darauf besinnen, was es eigentlich historisch bedeutet, wenn   Länder sich entschließen, Mitglieder einer Währungsunion zu werden. Oft wird nur daran gedacht, dass sie sich damit entschließen, die Souveränität, die Herrschaft über die Geldpolitik aufzugeben, abzugeben an eine gemeinsame Notenbank. Verkannt wird meist die damit zugleich verbundene Einbuße an Souveränität der Finanzpolitik mit ihrer Bedeutung für alle staatlich beeinflussten Lebensbereiche. Die Europäische Währungsunion ist zwar, aus guten Gründen, eine Währungsunion mit Autonomie der nationalen  Finanzpolitik. Aber diese Autonomie ist de facto  in entscheidendem Maße restringiert – restringiert durch den Umstand, dass man nicht mehr Herr über das Geldwesen ist, also nur Geld ausgeben kann, das man nicht selbst herstellen kann. Man kann zwar das Geld anderer Leute ausgeben, indem man Schulden macht. Aber genauso wenig.  wie man  beliebig hohe Steuern erheben kann, kann man beliebig hohe Schulden aufnehmen; die Kreditfähigkeit jedes Schuldners hat Grenzen, zumal  jeder weiss:  zurückzahlen muss er seine Schulden mit Geld, das er nicht selbst herstellen kann. Schon das Ausloten der Grenzen der Kreditfähigkeit, kann sehr teuer werden.

Ein Staat, der die Herrschaft über das Geldwesen hat, kann seine Schuldenlast senken durch inflatorische Politik; er stellt zusätzliches Geld her, verleiht es, und wartet, bis der inflationär aufgeblähte Wirtschaftskreislauf ihm einen großen Teil des zusätzlichen Geldes   in seine Steuerkassen schwämmt. Oder er geht, ganz vulgär, gleich den direkten Weg, indem er seine Staatsschuldtitel der eigenen Notenbank verkauft – Monetisierung  der Staaatsschuld. Ein Staat der Währungsunion kann das nicht, soll es auch nicht können. (Nur die Union als Ganzes könnte es, ein europäischer Finanzminister, mächtig genug, auch die Unabhängigkeit der Notenbank beiseite zu räumen. Sic!) Man bedenke, wie weit solche Restriktion trägt: Alles Große, das der Mensch sich vornimmt, das große Gute wie das große Böse, kostet meist Geld, das man nicht hat. Ist auch die Kreditfähigkeit am Ende, heißt das: Nichts geht mehr. Auch für das Finanzgebaren, das in den meisten Demokratien üblich geworden ist (nur allzu oft ermöglicht durch Missbrauch der Herrschaft über das Geldwesen), ist die neue Restriktion unerhört weitreichend. Dass mit der Schaffung der Europäischen Währungsunion die Gewöhnung an diese Restriktion, die Einübung des Respekt vor ihr, ohne Turbulenzen, ohne alle konvulsive  Reaktionen  ablaufen würde, war wirklich nicht zu erwarten. Dafür braucht man Zeit, Erfahrungen, schlechte Erfahrungen und gute Erfahrungen, und noch mehr Zeit. Die Erfüllung der Maastrichtkriterien sollte den Nachweis liefern, dass die Länder ausreichend vorbereitet waren. Sie war ein  Check für die Fähigkeit zur Stabilität, keiner für den Willen zu ihr.

Der vielberufene Widerstand der Regierung Schröder, und später der französischen, gegen die ihnen drohende Anwendung der im Stabilitäts- und Wachstumspakt vorgesehenen Sanktionen war anscheinend noch nicht einmal in erster Linie ein Widerstand gegen die drohenden finanziellen Bußen als vielmehr ein Widerstand gegen das Offenbarwerden von Souveränitätsverlust durch nackte Brüsseler Vormundschaft. Inzwischen hat die deutsche Regierung den fürchterlichen Fehler, der ein schlimmes Präjudiz schuf, eingesehen und Brüssel schriftlich versprochen, dass er sich nicht wiederholen wird. Gleichwohl war es noch Jahre später schlichte Träumerei, zu erwarten, der französische Staatspräsident und die deutsche Bundeskanzlerin würden sich in Deauville bezüglich der zu reformierenden Sanktionsklauseln nicht so entscheiden, wie sie es getan haben. Wer Europa führen will, braucht Souveränität, wie anders denn als auch in der Finanzpolitik.

Was Griechenland sich jahrelang geleistet hat, war kriminell. Aber man kann es auch so sehen: Es war nur der extreme Fall in einem Kontinuum allgemeinen, wenngleich unterschiedlichen Fehlverhaltens in Sachen Staatsverschuldung. In der gegenwärtigen Schuldenkrise hat sich nun praktisch erwiesen, was vorher  nur auf dem Papier stand: Die Bedingungen in einer Währungsunion wie der  Europäischen Währungsunion lassen eine Neigung zu ständig zunehmender Staatsverschuldung nicht straflos zu. Das hat jedes Land gesehen und wird es bedenken, weil es in seinem dringlichen Interesse ist, es zu bedenken; alle starren heute wie gebannt auf die Strafzinsen des Marktes. Zur Disziplinierung braucht man nicht einen europäischen Finanzminister, der jedem regionalen Kollegen sagt, was er zu tun und zu lassen hat. Dass in den Lehrjahren der Währungsunion   erst einmal fast alle versucht haben, wider den Stachel zu löcken -  und teilweise streng bestraft wurden -, der eine mehr, der andere weniger, sollten wir angesichts der altbekannten einschlägigen Neigungen nicht überraschend finden. Aber wir sollten auch eine alte Weisheit nicht bezweifeln: Fehler in den Lehrjahren verdunkeln die Zukunft nicht.

2 Antworten auf „Gastbeitrag
Apropos Eurogipfel – Anmerkungen zum Ausklingen einer medialen Krise“

  1. Das „mediale Versagen“ besteht darin, dass die meisten deutschen Medien – insbesondere unser Staatsfernsehen – kaum Kritik an Schäubles irreführender Darstellung üben, die Überschuldung des griechischen Staates gefährde die Stabilität des Euro.

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