Vor dem Hintergrund der Diskussion um Leistungsbilanzungleichgewichte innerhalb Europas und auch im globalen Kontext wird immer wieder auch das sogenannte „Geschäftsmodell“ Deutschland auf den Prüfstand gestellt. Sofern diese Bezeichnung überhaupt sinnvoll ist, kann darunter verstanden werden, dass sich deutsche Unternehmen im Vergleich mit anderen fortgeschrittenen Volkswirtschaften stärker auf die Produktion von Industriewaren und auf den Export dieser Güter konzentrieren.
In dieser Diskussion stellt sich auch die Frage, welcher Zusammenhang eigentlich zwischen der historisch gewachsenen und größtenteils aus unternehmerischen Entscheidungen resultierenden Wirtschaftsstruktur eines Landes und seinem Leistungsbilanzsaldo bestehen kann. Dabei steht folgende Hypothese im Mittelpunkt: Volkswirtschaften mit einem relativ hohen Industrieanteil verzeichnen in einem stärkeren Ausmaß Leistungsbilanzüberschüsse. Die Tabelle zeigt die Industrieanteile und die Leistungsbilanzsalden für eine Auswahl an Ländern. Tendenziell weisen Länder mit einem vergleichsweise hohen Industrieanteil einen Leistungsbilanzüberschuss auf. Umgekehrt haben Länder mit einem relativ geringen Industrieanteil ein Leistungsbilanzdefizit. Dabei wird der Industrieanteil gemessen als der Anteil des Verarbeitenden Gewerbes an der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung. Die Angaben in der Tabelle beziehen sich für beide Indikatoren auf das Jahr 2007 und beschreiben somit die Lage vor der globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise. Von den 16 hier betrachteten Ländern fallen die Niederlande (niedriger Industrieanteil und hoher Leistungsbilanzüberschuss) und Irland (hoher Industrieanteil und hohes Leistungsbilanzdefizit) aus dem Rahmen. Ohne diese beiden Länder ergeben sich ein Bestimmtheitsmaß (R2) von 0,62 und ein Korrelationskoeffizient von 0,79. Unter Berücksichtigung dieser beiden „Ausreißer“ beträgt das Bestimmtheitsmaß 0,33 und der Korrelationskoeffizient 0,58. Insgesamt zeigt diese einfache Gegenüberstellung, dass Länder, deren Industrieanteil über 20 Prozent liegt, Leistungsbilanzüberschüsse aufweisen und Länder mit einem Industrieanteil von 15 Prozent und weniger Leistungsbilanzdefizite.
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Zur Begründung eines positiven Zusammenhangs zwischen der Höhe des Industrieanteils und einem Leistungsbilanzüberschuss kann angeführt werden, dass der globale Außenhandel in sehr hohem Maß immer noch vom Warenaustausch geprägt wird. Volkswirtschaften, die sich stärker auf die Warenproduktion spezialisieren, haben dann Vorteile beim Außenhandel und können leichter einen Handelsbilanzüberschuss realisieren. Was spricht für die Dominanz des Warenhandels?
1. Vor allem bei der Warenproduktion dürfte sich die internationale Arbeitsteilung am stärksten entwickelt haben. Die Nutzung länderspezifischer Produktions- und Kostenvorteile führten zu intensiveren grenzüberschreitenden Vorleistungsverflechtungen. Dies gilt vorwiegend für die Industrieproduktion, wenngleich auch in Teilen des Dienstleistungssektors zunehmende Tendenzen hin zum Outsourcing zu beobachten sind. Hinzu kommt, dass die moderne und im Zeitablauf günstiger gewordene Logistik die internationale Spezialisierung und die Fragmentierung von (industriellen) Wertschöpfungsketten fördert. Abbildung 1 zeigt die Entwicklung des Welthandels im Zeitraum 2000 bis 2010 nach Waren und Dienstleistungen. Vor allem nach dem Jahr 2002 kam der globale Warenhandel kräftig in Fahrt. Gemäß der WTO-Abgrenzung stiegen auf Basis nominaler Werte die weltweiten Exporte von Waren um 136 Prozent und die Exporte von Dienstleistungen um 149 Prozent an. Vor dem Hintergrund des im Jahr 2000 bestehenden Niveauunterschiedes öffnete sich trotz der höheren Wachstumsraten der Serviceexporte die Schere zwischen absoluten Waren- und Dienstleistungsexporten merklich. Insgesamt blieb die Struktur des Welthandels weitgehend konstant. Rund 80 Prozent der weltweiten Exporte entfielen im Betrachtungszeitraum 2000 bis 2010 auf Waren. Sicherlich muss dabei berücksichtigt werden, dass die Dynamik bei den nominalen Warenexporten auch durch die stark ansteigenden Preise für Energie und Rohstoffe angetrieben wurde.
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Abbildung 2 zeigt jedoch, dass der globale Austausch von Industriewaren auf Basis preisbereinigter Werte die stärksten Akzente in der betrachteten Dekade setzte. Zwar stieg auch der Handel mit Agrarrohstoffen und Gütern aus dem Bereich Energie und Bergbau kräftig an – im Zeitraum 2000 bis zum Höhepunkt im Jahr 2008 erhöhte sich bei diesen Waren das preisbereinigte Welthandelsvolumen um insgesamt 36 und 27 Prozent. Der reale Welthandel mit Industriewaren expandierte gleichzeitig aber um 160 Prozent. Beim Blick auf die Mengen zeigte sich somit in erster Linie ein verstärkter internationaler Austausch von Industriewaren.
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2. Der Aufholprozess in den Schwellen- und Entwicklungsländern führte dort zu einem markanten Investitionsboom. Dies wiederum belebte den Export von Investitionsgütern in den darauf spezialisierten Ländern. Abbildung 3 zeigt die Entwicklung des globalen Investitionsvolumens. Infolge des Investitions- und Aufbauprozesses in den Entwicklungs- und Schwellenländern werden dort wichtige Fundamente für das künftige Wirtschaftswachstum gelegt. Das ist notwendig, um die Versorgungslage und die Wohlstandswünsche der weiter – teilweise kräftig – wachsenden Bevölkerungen in diesen Ländern zu fördern. Ab dem Jahr 2002 verschob sich das globale Investitionsvolumen immer stärker hin zu den aufstrebenden Volkswirtschaften. Entfielen im Zeitraum 1995 bis 2002 erst durchschnittlich gut 22 Prozent der globalen Investitionen auf die Entwicklungs- und Schwellenländer, stieg ihr Anteil bis zum Jahr 2008 auf fast 40 Prozent an. Da die Investitionstätigkeit in den Schwellen- und Entwicklungsländern während der globalen Krise weniger stark beeinträchtigt wurde als in den fortgeschrittenen Ländern, entfiel auf die aufstrebenden Volkswirtschaften im Jahr 2011 fast die Hälfte des globalen Investitionsvolumens.
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3. Eine Reihe von Dienstleistungen ist international nicht handelbar. Produktion und Konsum fallen bei Dienstleistungen oftmals sowohl zeitlich wie auch räumlich zusammen. Freilich haben die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien dazu geführt, dass Dienste heute in einem stärkeren Maß handelbar sind – also zumindest der Ort von Produktion und Verbrauch nicht mehr identisch sein muss. Das gilt besonders für unternehmensnahe Dienste. Dagegen sind haushaltsnahe und staatliche Dienstleistungen immer noch auf einen engen regionalen Kundenkreis ausgerichtet.
4. Die internationalen Liberalisierungen begünstigten den Warenhandel im Vergleich zum Dienstleistungshandel. Im Rahmen der letzten abgeschlossenen Welthandelsrunde (Uruguay-Runde) wurden in erster Linie Warenzölle abgebaut. Der Dienstleistungshandel wurde nur marginal liberalisiert.
Um die ökonomischen Ungleichgewichte weltweit und auch in der Eurozone zu bekämpfen, wurden unter anderem quantitative Grenzen für Leistungsbilanzsalden vorgeschlagen. Der amerikanische Finanzminister brachte zum Beispiel eine Maximalgrenze für Leistungsbilanzsalden von plus oder minus 4 Prozent des BIP ins Spiel. Leistungsbilanzsalden sind zu einem erheblichen Teil jedoch von „tiefen“ strukturellen Faktoren bestimmt, die zum einen auf einzelwirtschaftlichen Entscheidungen beruhen und zum anderen längerfristigen Bestand haben. Jedenfalls wird zumindest in Deutschland keine gezielte Politik der Exportförderung betrieben. Die Exporterfolge der deutschen Unternehmen beruhen in erster Linie auf der hohen Nachfrage nach diesen Industrieprodukten, vor allem aus den Schwellenländern. Obergrenzen für Leistungsbilanzüberschüsse bedeuten, dass Teile der exportorientierten Industrie plattgemacht werden müssen – par ordre de mufti.
Sorgfältige Analysen zeigen, dass die Hauptverantwortung für Leistungsbilanzdefizite in den betroffenen Ländern selbst liegt. Es wurde offensichtlich zu lange über die Verhältnisse gelebt und die den Leistungsbilanzdefiziten gegenüberstehenden Kapitalimporte wurden nicht investiv, sondern konsumptiv verwendet. Dies ist der Kern des Problems und ein Schlüssel zur Lösung der Ungleichgewichte.
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Sehr schöne Darstellung. Tatsächlich sind die Leistungsbilanzüberschüsse nicht politisch verordnet oder geplant, immerhin haben wir ja immer noch eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsordung. Außerdem gehört dazu ja auch immer jemand, der im Ausland die Waren kauft – wenn manchmal auch über dei Verhältnisse gekauft wird. Interessant finde ich daher die Frage, wie man sich überhaupt eine solche Begrenzung sollte will. Soll an einem bestimmten Stichtag im Jahr gesagt werden: Grenzen dicht, die 4 % sind erreicht? Oder sollen exportstarke Unternehmen mit Sanktionenen belegt werden? Wenn überhaupt politischer Handlungsbedarf besteht, dann in der Geldpolitik. Denn wenn Zinsen und Wechselkurse ein Abbild von Angebot und Nachfrage sind, gleichen sich Leistungsbilanzdefizite langfristig sowieso aus.