Der Anfang vom Ende?
Strukturwandel, Leistungsbilanzen und Automobile

„Diese äußeren Zeichen brauchen Zeit, anzukommen, wie das Licht eines solchen Sterns dort oben, von dem wir nicht wissen, ob er nicht schon im Erlöschen begriffen, nicht schon erloschen ist, wenn er am hellsten strahlt“ (Tom zu Tony in Thomas Mann, Buddenbrooks)

Die deutsche Wirtschaft brummt wie lange nicht. Unternehmen arbeiten immer öfter an der Kapazitätsgrenze. Die Gewinne sprudeln. Nicht nur die Aktionäre freuen sich. Auch die Arbeitnehmer sind zufrieden. Viele Arbeitsmärkte sind wie leergefegt. Facharbeiter sind Mangelware. Es herrscht quasi Vollbeschäftigung. Die Löhne steigen, wenn auch nur verhalten. Kein Wunder, dass Inflation kein Thema ist. Es ist bizarr: Die Europäische Zentralbank, die oberste Wächterin der Preisniveaustabilität, versucht alles, auch Ungewöhnliches und Umfangreiches, um Inflation zu erzeugen. Es gelingt ihr nicht, zumindest bisher. Auch das wirtschaftliche Wachstum kommt langsam in Gang. Es wird weniger von der Produktivität getragen. Vor allem die wachsende Beschäftigung treibt. Von säkularer Stagnation ist nichts zu sehen. Auch Ungleichheit beunruhigt die Bürger kaum. Die wachsende Einkommensungleichheit kam schon Mitte der 90er Jahre zum Stillstand. Staatliche Umverteilung ebnet die Marktungleichheit ein. Einzig beim außenwirtschaftlichen Gleichgewicht hakt es. Das ist zumindest die Meinung ausländischer Politiker. Die Überschüsse in der Leistungsbilanz nehmen stetig zu. Davon profitiert vor allem der industrielle Sektor. Und genau das macht den gegenwärtigen Boom so gefährlich.

Der (behinderte) Strukturwandel

Wirtschaftlichen Strukturen sind ständig im Fluss. An ihnen nagt die „schöpferische Zerstörung“. Es gilt das eherne „Gesetz“ des strukturellen Wandels. Mit steigendem Wohlstand verlagern sich die sektoralen wirtschaftlichen Aktivitäten. Bei geringem Einkommen dominiert der Agrarsektor. Wächst der Wohlstand gedeiht der Industriesektor. Steigt das Einkommen weiter, gewinnt der Dienstleistungssektor an Gewicht. Das kann man an der Entwicklung von Wertschöpfung und Beschäftigung ablesen. Der industrielle Sektor ist im Fokus des öffentlichen Interesses. Linke und rechte populistische Strömungen gedeihen gut auf der Asche des industriellen Sektors. Der industrielle Sektor erlebt vielerorts einen Albtraum. Das zeigt sich an der Entwicklung des Anteils des Verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung und der Beschäftigung eines Landes. Er geht in beiden Fällen drastisch zurück, bei der Wertschöpfung etwas weniger stark als der Beschäftigung. Deutschland hinkt der Entwicklung ähnlich entwickelter Länder allerdings hinterher. Hierzulande ist der Anteil des industriellen Sektors an der Wertschöpfung noch ungewöhnlich hoch (Abb.1). Das gilt auch für die Beschäftigungsanteile (Abb. 2). Löst sich der Strukturstau auf, kommt der Prozess der schöpferischen Zerstörung erst richtig in Gang. Mit dem „immerwährenden“ Boom könnte es ganz schnell vorbei sein.

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Was treibt den inter-sektoralen Strukturwandel? Es sind vor allem drei Faktoren (hier): Zum einen verändern private Haushalte ihr Ausgabenverhalten. Mit steigendem Wohlstand fragen sie vermehrt personenbezogene Dienstleistungen nach. Das veränderte Erwerbsverhalten der Frauen verstärkt diese Entwicklung. Die Haushaltsproduktion geht zurück. Private personenbezogene Dienstleistung treten an ihre Stelle. Zum anderen ändern aber auch Unternehmen ihr Ausgabenverhalten. Immer mehr Vorprodukte sind unternehmensbezogene Dienstleistungen. Produktnahe Dienste aber auch Software-Dienstleistungen tragen dazu bei, dass Industrieprodukte dienstleistungsintensiver werden. Schließlich beschleunigen weltweit offenere Märkte den Prozess der Spezialisierung. Das gilt auch für den industriellen Sektor. Reiche Länder konzentrieren sich auf das Spezialitätengeschäft der High-Tech-, ärmere Länder auf das Massengeschäft der Low-Tech-Produkte. In wohlhabenden Ländern geht der industrielle Beitrag zur Wertschöpfung, vor allem aber der Beschäftigung zurück. Welches strukturelle Muster die Länder wählen, hängt von den individuellen Entscheidungen von Haushalten und Unternehmen ab.

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Sektorstrukturen und Leistungsbilanzsalden

Unter den einzelwirtschaftlichen Entscheidungen sind es vor allem die unternehmerischen, die Länder und Regionen sektoral prägen. Die Wirtschaftsstruktur, die sich einstellt, folgt einem langfristigen Trend. Der Industriesektor verliert, die Dienstleistungsbranche gewinnt. Nicht nur Deutschland auch Japan sind Nachzügler. Sektorstrukturen und Leistungsbilanzen sind zwei Seiten ein und derselben Medaille (hier). Länder mit einem starken Industrieanteil sind meist auch Länder mit Leistungsbilanzüberschüssen. Dagegen weisen Länder mit einem schwachen industriellen Sektor oft Defizite in der Leistungsbilanz auf. Die „magische“ Schwelle scheint bei 15 % Industrieanteil zu liegen. Wichtige OECD-Länder mit einem Industrieanteil von über 15 %, gemessen an der Wertschöpfung (Abb. 3) oder der Beschäftigung (Abb. 4), haben Überschüsse in der Leistungsbilanz. Liegt der Anteil darunter, sind die Leistungsbilanzen eher defizitär. Offensichtlich ist der Außenhandel immer noch vom Austausch von Waren geprägt. Waren sind leichter als Dienstleistungen international handelbar. Spezialisieren sich Länder auf den industriellen Sektor, ist es eher möglich, dass sich Überschüsse in der Leistungsbilanz einstellen. Das muss allerdings künftig nicht so bleiben. Industrieprodukte werden dienstleistungsintensiver. Dienstleistungen werden huckepack international handelbarer. Moderne IK-Technologien internationalisieren den Handel mit Dienstleistungen aber auch direkt. Diese Entwicklung wird forciert, wenn die Märkte für Dienstleistungen stärker geöffnet werden.

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Die Kritik an Länder mit Überschüssen in der Leistungsbilanz ist auch eine Kritik an deren sektoraler Wirtschaftsstruktur. Sie ist unberechtigt, wenn es um die individuellen Entscheidungen von Haushalten und Unternehmen über Sparen und Investieren geht (hier). Berechtigt ist sie, wenn Kritiker monieren, dass in Überschussländern der Zugang zu den Dienstleistungsmärkten behindert wird. Das gilt vor allem für Deutschland. Auch an der Kritik, dass politische Akteure die sektorale Entwicklung verzerrten, ist was dran. An zwei Beispielen, den fiskalischen und monetären Entscheidungen in der Euro-Krise, lässt sich das Problem illustrieren. Mit den fiskalischen Rettungsschirmen werden Löcher in den öffentlichen Haushalten und den Leistungsbilanzen der Krisenländer gestopft. Davon profitiert auch die deutsche Industrie. Ihr Exportventil bleibt weiter offen. Der strukturelle Status quo wird zementiert. Notwendige Anpassungen werden verschoben. Das ist bei den monetären Rettungsschirmen der EZB nicht anders. Mit ihrer hyper-expansiven Geldpolitik hält sie Zombies unter Banken und Unternehmen am Leben. Mit der künstlichen Abwertung des Euro schafft sie Wettbewerbsvorteile für europäische Unternehmen. Hauptgewinner sind industriestarke deutsche. Deutsche Leistungsbilanzüberschüsse nehmen zu, vor allem gegenüber Drittländern. Das alles hemmt den strukturellen Wandel. Martin Wolf, der Herausgeber der FT, spricht von „strukturellem Merkantilismus“.

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Anfang vom Ende?

Deutschland boomt wie lange nicht. Das muss nicht so bleiben. Es ist ein Boom auf des Messers Schneide. Über allem schwebt das Damoklesschwert des strukturellen Wandels. Deutschland hängt strukturell erheblich hinterher. Der relative Niedergang des industriellen Sektors ist aber eher über kurz als lang unvermeidlich. Dafür sorgen schon Globalisierung und technischer Fortschritt. Produziert wird immer öfter dort, wo die Güter verkauft werden. Die Produktionsstätten folgen den Absatzmärkten. Diese liegen immer seltener in Europa. Interessanter sind wachsende Märkte in Asien, Lateinamerika und vielleicht auch bald Afrika. Das heißt nicht, dass deutsche Unternehmen künftig nicht erfolgreich sein werden. Sie werden es bei ihren technologischen und organisatorischen Fähigkeiten zweifellos weiter sein. Aber sie werden ihre Produkte kaum noch in Deutschland produzieren, sondern in den Regionen ihrer Absatzmärkte. Das wird den lahmenden strukturellen Wandel hierzulande auf Trab bringen. Wertschöpfung geht verloren, heimische Arbeitsplätze werden verlagert. Wann diese Entwicklung einsetzt, ist unklar. Die wirtschaftlichen Strukturen sind in einem labilen Zustand. Schon kleine Veränderungen („Flügelschlag eines Schmetterlings“) können chaotische strukturelle Veränderungen verursachen.

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Das Chaos wird möglicherweise gerade ausgelöst. Die Automobilindustrie steht auf dem Index ideologiegeladener grüner Wutbürger überall. Mündet der klima- und feinstaubmotivierte „Hass auf die Verbrenner“ in ein Zulassungsverbot für benzin- und dieselgetriebene Fahrzeuge, gerät die Automobilbranche auf die Verliererstraße. Das absehbare Ende der Niedrig-Zinspolitik der EZB und des unterbewerteten Euro könnten diese Entwicklung weiter beschleunigen. Ob und wann die E-Autos eine echte Alternative sind, muss sich erst noch zeigen (hier). Die Automobilbranche ist nicht irgendein Feld-Wald-und-Wiesen-Sektor. Sie ist eine tragende Säule des Verarbeitenden Gewerbes in Deutschland. Fast 15 % der Wertschöpfung des Verarbeitenden Gewerbes stammen aus dem Bau von Automobilen (Abb. 5). Über 11 % der Arbeitsplätze entstehen in diesem Sub-Sektor (Abb. 6). Das sind über 800.000 Beschäftigte. Dabei ist die Zulieferindustrie noch nicht mit eingerechnet. Dort stehen etwas mehr als 300.000 Arbeitsplätze zu Buche. Ähnlich hohe Werte weist unter den reichen Ländern nur noch Japan auf. Beide Länder hinken im strukturellen Wandel hinterher. Der Industrieanteil ist in beiden außergewöhnlich hoch. Ein Niedergang des Automobilsektors könnte der „Flügelschlag des Schmetterlings“ sein, der den strukturellen Umbruch schlagartig bringt. Die deutschen Kritiker der Überschüsse in der deutschen Leistungsbilanz hätten über den Umweg des Angriffs auf den Diesel ihr Ziel doch noch erreicht: Die möglichst schnelle De-Industriali-sierung ohne Rücksicht auf Verluste.

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Fazit

Deutschland boomt. Den Menschen geht es gut. Viele Arbeitsmärkte sind leergefegt. Facharbeiter sind Mangelware. Die Einkommen steigen. Der Wohlstand nimmt weiter zu. Mäkeleien über Ungleichheiten sind Randnotizen. Damit sind keine Wahlen zu gewinnen. Das ist fast ein neues deutsches Wunder. Noch vor einem Jahrzehnt war Deutschland der kranke Mann Europas. Der industrielle Sektor ist die treibende Kraft hinter dieser Entwicklung. Aber vielleicht ist das alles nur ein schöner Schein. Thomas Manns Sternen-Parabel kommt einem in den Sinn. Das sektorale Muster ist ein Muster auf des Messers Schneide. Überall ist der industrielle Sektor im Herbst seines Lebens. Diesem Prozess der Alterung wird er sich auch Deutschland nicht entziehen können. Bisher ist es Arbeitnehmern und Unternehmern mit immer neuen Wellness-Kuren gelungen, diese Entwicklung hinauszuzögern. Aufhalten lässt sie sich aber nicht. Und die grünen deutschen Wutbürger tun alles, den industriellen Sektor möglichst alt aussehen zu lassen. Die Atomindustrie haben sie schon außer Landes getrieben, die Gentechnik verbannt, die chemische Industrie machen sie madig, die IK-Technologie ist Teufelszeug. Der klima- und feinstaubgetriebene „Hass auf die Verbrenner“, den die gewohnt opportunistisch agierende Bundeskanzlerin unterstützt, ohne ein konkretes Ausstiegsdatum zu nennen, stigmatisiert die Autoindustrie. Fällt auch dieser industrielle Dominostein, wird die schrumpfende Lebenserwartung des industriellen Sektors mutwillig verkürzt. Das wäre das abrupte Ende des neuen deutschen Wunders.

Blog-Beiträge zum Thema:

Norbert Berthold: Strukturwandel (1). Schöpferische Zerstörung überall!? Treiber, Optionen und Populisten

5 Antworten auf „Der Anfang vom Ende?
Strukturwandel, Leistungsbilanzen und Automobile

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