Am kommenden Donnerstag sollten sich die politisch Interessierten unter uns einen Tag Urlaub nehmen. Zumindest sollten sie sicher stellen, daß sie im Büro übers Internet die Live-Übertragung aus dem Bundestag sehen können. Denn es wird um den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) gehen, und es wird sicher eine historische Debatte. Eine furiose Redeschlacht auf höchstem Niveau, in der Befürworter und Gegner des ESM sich nichts schenken und kontrovers in der Sache diskutieren.
Seltsame und in der Vergangenheit bereits ad nauseam wiederholte Kurzschlüsse — von der Art: Europa ist ein Friedensprojekt, wenn der ESM nicht kommt gibt es also Krieg — wird es diesmal sicher nicht geben. Auch von der Stigmatisierung der ESM-Skeptiker aus allen Parteien als Nationalisten, Feinde Europas, Rechtspopulisten oder verhinderte Kriegstreiber, wird man diesmal im Bundestag sicher absehen. Es wäre ja auch peinlich, wenn die Befürworter des ESM nicht mehr zu bieten hätten als so etwas.
Schauen wir uns also mal ganz nüchtern an, worum es am Donnerstag in den zwei Stunden, die für diese Debatte reserviert sind, gehen wird. Die gute Nachricht zuerst: In der Frühphase der Verhandlungen über den ESM gab es die Befürchtung, daß Deutschland immer wieder zu einem Nachschießen von Geld gezwungen werden könnte, wenn der Gouverneursrat des ESM eine Erhöhung des Stammkapitals beschließt. Hier muß man sich jedenfalls formal keine Sorgen mehr machen. Derartige Entscheidungen wären vom Gouverneursrat (der aus den Finanzministern der Euroländer besteht) einstimmig zu beschließen; der deutsche Vertreter wiederum dürfte nicht zustimmen, ohne sich einer parlamentarischen Mehrheit in Deutschland zu vergewissern.
Auch die Gewährung von Finanzhilfen erfordert Einstimmigkeit im Gouverneursrat. Es gibt also formal gesehen keine Ausreden für einen deutschen Finanzminister. Gewährt der ESM einem Land einen Bailout, oder wird ein Nachschießen von Kapital beschlossen, so hat der Finanzminister dies voll und ganz selbst zu verantworten. Neben den formalen Regeln gibt es aber natürlich immer auch eine politische Praxis. Auch innerhalb eines formalen Regimes der Einstimmigkeit könnte eine Mehrheit einen Druck aufbauen, der die politischen Kosten eines deutschen Vetos untragbar hoch erscheinen ließe.
Der aktuell gültige Deckel von Finanzhilfen, die der ESM gewähren kann, beläuft sich auf 500 Milliarden Euro. Um das bestmögliche Rating für den ESM zu sichern, ist hierzu ein Stammkapital von 700 Milliarden Euro nötig. 80 Milliarden werden in bar eingezahlt, 620 Milliarden als Garantien gewährt. Für Deutschland bedeutet dies eine Last von etwa 22 Milliarden als Barzahlung, sowie zusätzlich bis zu 168 Milliarden für den Fall, daß die Garantien in vollem Umfang abgerufen werden. Die aktuellen Diskussionen allerdings zeigen, daß bereits jetzt eine Kampagne unter Federführung der EU-Kommission zur weiteren Aufstockung dieser Kapazitäten einsetzt. Die Grenze ist der Himmel.
Die Risiken für den Bundeshaushalt sind also bereits jetzt erheblich, und sie werden nicht kleiner. Der direkte Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB, das Verleihen von rund 1.000 Milliarden Euro durch die EZB an die Geschäftsbanken, die dieses Geld wiederum zu einem großen Teil wieder in Staatsanleihen steckten, und schließlich der ESM — all dies zusammen beruhigt zwar scheinbar kurzfristig die Lage, nimmt aber vor allem den fiskalischen Konsolidierungsdruck von den hoch verschuldeten Euroländern.
Zwar soll der von den Märkten ausgeübte Konsolidierungsdruck, den man mit der Rettungspolitik ausgeschaltet hat, durch eine bürokratisch-hierarchische Budgetkontrolle ersetzt werden. Aber schon vor einigen Tagen hat Roland Vaubel an dieser Stelle angedeutet, wieso der parallel zum ESM beschlossene und jetzt im parlamentarischen Ratifizierungsverfahren behandelte Fiskalpakt nicht besonders vielversprechend ist. Ein klarer, eindeutiger, unabwendbarer Durchsetzungsmechanismus gegen Länder, die gegen die Vorschriften des Fiskalpaktes verstoßen, fehlt.
Werden die Mittel des ESM erst einmal abgerufen, so begibt sich Deutschland außerdem in eine Art finanzieller Geiselhaft. Unterstellen wir einmal, daß einem vom ESM finanzierten Euroland irgendwann einmal, trotz erster Rettungsmaßnahmen und wegen halbherziger Konsolidierungspolitik, die Zahlungsunfähigkeit droht. Dieses Land würde dann natürlich auch seine Zahlungen gegenüber dem ESM reduzieren oder einstellen. Die Verluste würden auf die ESM-Mitglieder verteilt, Deutschland wäre mit knapp über 27 Prozent dabei. Es liegt in der Natur politischer Anreizstrukturen, daß in einem solchen Fall ein Nachschießen von Geld, das bis zur nächsten Wahl oder bis zum Ende der eigenen Amtszeit Ruhe schafft, attraktiver ist als das Platzen der Rettungsblase. Natürlich möchte man aber auch nicht immer wieder Diskussionen um eine Ausweitung des ESM führen müssen. Hier beginnt dann diese Suche nach alternativen Lösungen.
Man darf das nicht unterschätzen: Läuft der ESM erst auf Hochtouren, dann begeben sich die Retter in Abhängigkeit von den Geretteten. Aus Sicht all derer, die immer schon eine Transferunion wollten, ist dies eine ideale Entwicklung. Ist die Rettungsblase, deren Umfang wir bald (neben anderen Indikatoren wie den Target-Salden) auch an der Kapitalausstattung des ESM ablesen können, erst einmal so groß, daß ihr Platzen erhebliche politische Unruhe auslösen würde, dann besteht der nächste logische Schritt in der Installation von dauerhaften, routinemäßig-bürokratisch arbeitenden Transfermechanismen. Der ESM wird mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit zu einer Situation führen, in der irgendwann ein Länderfinanzausgleich auf europäischer Ebene als logischer nächster Schritt erscheint.
Es ist zu hoffen, daß in der Debatte am Donnerstag auch solche Fernwirkungen des ESM angemessen berücksichtigt werden. Es geht hier tatsächlich nicht nur um kurzfristige Rettungsmaßnahmen, sondern um eine Weichenstellung mit möglicherweise schwerwiegenden, langfristigen Auswirkungen auf den weiteren Weg der europäischen Integration.
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Wir haben es doch alle gewusst, dass so etwas wie ein Europäischer Währungsfonds kommen muss: Jetzt ist es eben der ESM geworden.
Alle diese „Rettungs“- und Vorsorge-Entscheidungen lassen sich aber doch für die Bürger in Europa nur vertreten, wenn die Politik klar macht, dass das politische langfristige Ziel der „Bundesstaat Europa“ ist. Solange die Politikebenen und Gesellschaften in Europa hier nicht deutlich werden, besteht die reale Möglichkeit, dass sich EU, EuroZone und Fiskalunion, Lissabon-Vertrag und Binnenmarkt von innen zerlegen, zerstören…
Ich meine daher, die Vertreter einer Entwicklungslinie hin „zum Bundesstaat Europa“ müssten sich deutlich artikulieren. Wenn es an dieser zentralen Richtungsentscheidung keine Klarheit gibt, dann bleiben alle beschriebenen nationalen Risiken bestehen. Aber kann unser politisches System ein Scheitern in der Europafrage wirklich verkraften? Ich fürchte: Nein.
Zitat:
„Alle diese “Rettungs“- und Vorsorge-Entscheidungen lassen sich aber doch für die Bürger in Europa nur vertreten, wenn die Politik klar macht, dass das politische langfristige Ziel der “Bundesstaat Europa“ ist.“
Ich würde zustimmen, daß es ehrlicher wäre, den Bürgern klar zu sagen, worauf der aktuelle Kurs hinaus läuft. Wir erleben im Moment eine Salamitaktik mit kleinen Schritten in Richtung einer stärkeren politischen Integration. Diese schaffen dann selbst immer wieder neue „Sachzwänge“, die jeweils weitere Integrationsschritte begründen.
Eine transparente Diskussion darüber, ob der Souverän mit dieser Entwicklung einverstanden ist, wäre für die demokratische Legitimation der weiteren Entwicklung der EU sicher förderlicher als das langsame Einschleichen einer immer tieferen Integration. Am Ende haben wir etwas, das die Mehrheit der Bürger nicht will und fragen uns, wie wir eigentlich dort hingekommen sind.
Noch ein Addendum:
Wie ich heute in der FAZ lese, war mein Blog-Beitrag in einem Punkt etwas naiv, nämlich als ich schrieb, daß eine Aufstockung der Mittel nicht ohne parlamentarische Zustimmung nötig sei.
Der Unions-Abgeordneten Altmaier und Hasselfeldt suchen nämlich bereits einen Weg, dieses Zustimmungserfordernis zu umgehen. Die Lösung besteht darin, den EFSF nicht auslaufen zu lassen, sondern dessen Mittel auf den ESM-Rahmen drauf zu satteln. Das, so meinen sie, sei ohne Parlamentsmehrheit möglich.
Ein Land, das mit solchen Abgeordneten geschlagen ist, braucht keine Trickbetrüger mehr.
Sehr geehrter Herr Schnellenbach,
wiedereinmal sprechen Sie mir aus der Seele.
Es ist schon mehr als befremdlich, wie die Politik hier am Volk vorbei, demselben unfassbar hohe finanzielle Lasten aufbürdet. Es kann doch nicht sein, dass die politischen Kartelle ungestraft und ohne dass ihnen jemand Einhalt gebietet, eine Transferunion installieren. Ich bin mir sicher, dass uns unsere nachfolgenden Generationen dafür verfluchen werden. Es ist für mich unerträglich, wie in diesem Lande Minderheiten die Mehrheit dominieren.
Geht es uns allen etwa zu gut, dass wir dies alles geschehen lassen und zusehen, wie die Demokratie leise abgeschafft wird?
Ich werde zu den nächsten Landtags- und Bundestagswahlen nicht mehr gehen. Es gibt derzeit keine Partei, der ich aktuell meine Stimme geben möchte. Alle belügen das Volk. Okay, das ist nichts neues. Alle Politiker sind egozentrische verlogene Selbstdarsteller, und ohne ökonomosches Grundwissen obendrein. Auch das ist nichts neues.
Armes Deutschland…
In einer Ausschusssitzung des US House Committee On Oversight & Government Reform wurde folgendes gesagt:
When Rep. Trey Gowdy asked Sec. Geithner what would the very last debt ceiling request be, he responded: „A lot, it would make you uncomfortable.“
Genaugenommen fragt jener nach 20 oder 50 Billionen $ !!!
Ansehen kann man sich das auch also Videoaufzeichnung, ist ja öffentlich. Also wenn diese Menschen solche Ideen haben, ist es kein Wunder, dass die Währungen nichts mehr wert sind. Tja, die (Ohn)macht ist mit uns !