„A currency union with structural mercantilists in the core now threatens a permanent slump in the periphery.“ (Martin Wolf)
Die Finanzkrise hat in den reichen Ländern tiefe Spuren hinterlassen. In den USA verläuft der Aufschwung nur schleppend. Das Wachstum ist anämisch, die Arbeitslosigkeit hoch, die Staatsschuld astronomisch. In Europa ist die Lage eher schlechter als besser. Die Euro-Krise schwelt weiter, der Finanzsektor ist fragil, weitere Staatspleiten sind wahrscheinlich. Vor allem die Peripherie ist in einem desolaten Zustand. Alle leiden, nur Deutschland nicht. Von Krise ist hier keine Spur. Die „Rote Laterne“ beim wirtschaftlichen Wachstum tragen wieder andere. Auf den Arbeitsmärkten sieht es so gut aus, wie seit über zwei Jahrzehnten nicht mehr. Dennoch sagen die Auguren Deutschland keine rosige Zukunft voraus. Das exportorientierte „Geschäftsmodell“ ist ins Gerede gekommen. Die einen geben ihm die Schuld an der Krise des Euro. Die anderen sehen in ihm ein Auslaufmodell. Deutschland stehe eine schwere Zeit bevor, politisch und ökonomisch.
Strukturelle Probleme
Das deutsche Geschäftsmodell wird von zwei Seiten bedroht. Kurzfristig macht ihm die Krise des Euro schwer zu schaffen. Der Euro steckt in einer tiefen Krise, sein Überleben ist ungewiss. Und schuld daran sei Deutschland. In den letzten Jahren haben sich hierzulande Überschüsse in der Leistungsbilanz aufgetürmt. Die Kehrseite der Medaille sind Defizite vor allem in der Peripherie. Seit die Kapitalmärkte an der Solvenz der südlichen Peripherie zweifeln, finanzieren sie die Defizite nur noch zu hohen Zinsen. Die Logik der Kritiker solcher Salden in der Leistungsbilanz ist einfach: Hätte Deutschland weniger Überschüsse, hätte die Peripherie weniger Defizite. Der Euro würde endlich gesunden. Ein Weg, die deutschen Überschüsse zu verringern, ist ein geringerer Industrieanteil hierzulande. Tatsächlich haben Länder mit hohem Industrieanteil zumeist auch Überschüsse in der Leistungsbilanz. Kein Wunder, dass immer mehr Partner in der EWU das deutsche Geschäftsmodell auf die Anklagebank setzen.
Dabei wird oft übersehen, dass der Euro die sektoralen Strukturen in Deutschland verzerrt. Mit der Einführung einer gemeinsamen Währung haben die Defizitländer das Instrument der Abwertung als Parameter im europäischen Wettbewerb verloren. Der oft besseren Qualität deutscher Industrieprodukte könnten sie zwar mit interner Abwertung begegnen. Das fällt ihnen aber sehr schwer. Über Löhne und Preise können sie das deutsche Geschäftsmodell kaum angreifen. Und der Euro verschafft der deutschen Industrie gegenüber Drittländern einen weiteren Wettbewerbsvorteil. Die höhere Inflationsrate der südlichen Peripherie drückt den Wert des Euro auf den Devisenmärkten. Davon profitieren deutsche Anbieter auf den Weltmärkten, vor allem international handelbarer Industriegüter. Der Euro verschafft der deutschen Wirtschaft gegenüber der „alten DM“ einen Wettbewerbsvorteil. Die Leistungsbilanzüberschüsse gegenüber Drittländern steigen.
Langfristig steht allerdings dem deutschen Geschäftsmodell der eigene Erfolg im Weg. Der empirische Befund ist klar: Die Produktivität im Industriesektor wächst seit langem schneller als die Nachfrage nach deren Produkten. Eine kapitalintensivere Produktion und eine hohe Rate der Innovation sind die eigentlichen Treiber auf der Angebotsseite. Gegenwärtig wird die verhaltene Nachfrage nach Industrieprodukten in den reichen Ländern durch die lebhafte Nachfrage der Schwellenländer mehr als kompensiert. Davon profitieren deutsche Unternehmen überproportional. Aber schon mittelfristig werden aus diesen Nachfragern selbst Anbieter industrieller Produkte auf den Weltmärkten. Das eherne Gesetz des Strukturwandels schlägt auch im Industriesektor zu. Allerdings läuft der Prozess weniger so ab, dass Industriegüter durch Dienstleistungen verdrängt werden. Zumeist ersetzen neue, dienstleistungsintensivere Produkte die alten.
Der Columbia-Ökonom Bruce Greenwald sieht in diesem Strukturwandel den eigentlichen Grund für die weltweite „Große Rezession“. Gegenwärtig wiederhole sich die Situation der „Großen Depression“. Damals starb ein großer Sektor der Volkswirtschaften, der für viele zentral war, der Agrarsektor. Dieser Sektor war nicht nur der wichtigste Treiber wirtschaftlichen Wachstums und Wohlstandes, er beschäftigte auch die meisten Arbeitnehmer. Der schwierige Übergang vom Agrar- zum Industriesektor mündete in der „Großen Depression“. Die Situation heute sei mit der von damals vergleichbar. Nun liege wieder der wichtigste Sektor im Sterben, der Industriesektor. Heute werden vor allem die Länder mit einem relativ hohen Industrieanteil unter dem Wandel leiden. Japan, Deutschland und auch China stehen ganz oben auf der Liste. Nach Greenwald werden sie dem Problem der Anpassung nicht entkommen. Das Exportventil schafft nur temporär Linderung.
Deutschland im Wandel
Das empirische Bild ist eindeutig. In den reichen Ländern verliert der Industriesektor an Boden. Der Anteil an der Wertschöpfung geht zurück, der Beschäftigungsanteil sinkt. Anders ist allein Deutschland. Seit 2003 erhöhte sich sogar der Anteil an der Wertschöpfung leicht. Mit der Finanzkrise folgte der Absturz, drastischer als anderswo. Mit dem Aufschwung geht es in Deutschland mit dem industriellen Sektor wieder steil nach oben, stärker als anderswo. Der deutsche Industriesektor ist auch vom Niveau her anders als andere. Nur Japan hat einen ähnlich starken industriellen Sektor. Alle anderen Länder setzen längst viel stärker auf Dienstleistungen. In Frankreich und den beiden angelsächsischen Ländern spielt der industrielle Sektor nur noch die zweite Geige. Das hat nachhaltige Konsequenzen für die Beschäftigung. Die USA haben zwischen 2001 und 2009 über 6 Mio. Arbeitsplätze im Industriesektor verloren, ein Alptraum. Die Verluste wurden aber durch neue Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor mehr als kompensiert.
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Die Folgen des Niedergangs des Industriesektors in den USA gehen weit über den Abbau industrieller Arbeitsplätze hinaus. Ein Verlust an Innovationen und ein Anstieg der Ungleichheit der Einkommen sind weitere befürchtete Konsequenzen. Der relativ hohe Industrieanteil schürt auch in Deutschland die Angst vor dem amerikanischen industriellen Alptraum. Ein Blick auf die intra-sektorale Entwicklung des Industriesektors zeigt allerdings, wie der Absturz in zeitlich geordnete Bahnen gelenkt werden kann. Im Industriesektor gibt es Gewinner und Verlierer. Bis zur Finanzkrise waren der Fahrzeug- und Maschinenbau, die Elektroerzeugnisse und das Metallgewerbe auf der Gewinnerseite. Eindeutig auf der Verliererstraße waren unter anderem Gummi/Kunststoff und Holz/Papier/Druck. Die Finanzkrise hat die Reihenfolge in der Gruppe der Gewinner und die in der Gruppe der Verlierer durchgeschüttelt. Wer allerdings vorher Gewinner bzw. Verlierer war, blieb es auch danach.
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Wo sich die Industriezweige vor der weltweiten Finanzkrise einsortieren, bei den Gewinnern oder Verlierern des Strukturwandels, hing entscheidend davon ab, wie forschungs- und entwicklungsaktiv die Unternehmen waren. Die Branchen, in denen Unternehmen dauerhaft auf Forschung und Entwicklung setzten, haben im Strukturwandel gewonnen. Aus dem Rahmen fällt die chemische Industrie. Wer allerdings nicht oder nur gelegentlich in F&E investierte, landete fast zwangsläufig in der Gruppe der Verlierer des strukturellen Wandels. Das ist zwar nur ein erster Hinweis, wie sich der Strukturwandel gestalten lässt. Er zeigt allerdings, dass der amerikanische Alptraum aufgeschoben werden kann. Mit vermehrten Ausgaben für Forschung- und Entwicklung ist es möglich, Zeit für einen geordneten Prozess der unumgänglichen strukturellen Anpassung zu kaufen. Unternehmen und Politik haben es in der Hand, diesen Prozess mit zu gestalten.
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Politische Antworten
Wie sollte Deutschland auf die kurz- und langfristigen strukturellen Herausforderungen reagieren? Der Vorwurf europäischer Partner in der EWU, der deutsche industrielle Merkantilismus befeuere die Euro-Krise, hat einen wahren Kern. Es ist natürlich Unsinn, der deutschen Politik vorzuwerfen, sie würde mit einer gezielten Politik den Außenhandelsüberschuss fördern. Das tut sie nicht. Die unterschiedlichen Salden der EWU-Länder im Handel miteinander beruhen auf unterschiedlicher unternehmerischer Wettbewerbsfähigkeit. Daraus müssen noch keine Zahlungsbilanzprobleme entstehen, auch nicht in einer Währungsunion. Was nominelle Wechselkurse nicht mehr können, müssen nationale Lohnpolitiken leisten. Interne Auf- bzw. Abwertungen verringern die Salden der Leistungsbilanzen. Das bleibt nicht ohne Einfluss auf die sektorale Struktur. Der relative Industrieanteil in Deutschland sinkt, Dienstleistungen werden wichtiger.
Tatsächlich wird dieser Weg über interne Auf- und Abwertungen nur zögerlich gegangen. Länder mit Leistungsbilanzdefiziten sind nicht entschieden genug bereit, sich über niedrigere Lohnstückkosten anzupassen. Irland ist eine Ausnahme. Die nach wie vor hohe Arbeitslosigkeit von über 5 % und die lohnpolitische Schockstarre der Finanzkrise lässt die deutschen Gewerkschaften lohnpolitisch (noch) nicht übermütig werden. Der Prozess der Anpassung stockt noch aus einem anderen Grund. Die gigantischen Rettungsschirme finanzieren die Leistungsbilanzdefizite und behindern die notwendige Anpassung. Damit wird auch der Prozess des strukturellen Wandels ausgebremst. Und es wird umverteilt, von deutschen Steuerzahlern auch zu deutschen Exporteuren. Die Euro-Rettungsschirme verstärken den „structural mercantilism“. Eine deutsche Politik des „Mir gebet nix“ würde die Anpassung beschleunigen, die Sektorstrukturen entzerren und die Salden in der Leistungsbilanz verringern.
Alle Arten von Industriepolitik sind die falsche Antwort auf den langfristigen Strukturwandel. Das gilt auch für staatliche Clusterpolitiken, die sich hierzulande über Bund und Länder wie ein Lauffeuer verbreiten. Industriepolitik, in welchem Gewand auch immer, leidet unter dem „MITI-Syndrom“: Entweder ist sie irrelevant oder kontraproduktiv. Was Not tut, ist ein adäquater Ordnungsrahmen, der Innovationen den Weg freimacht. Empirische Studien zeigen immer wieder: Deutschland ist in der Forschung international auf Augenhöhe. Auf dem Felde der Entwicklung agiert es an der Weltspitze. Erheblicher Nachholbedarf besteht allerdings beim privaten Unternehmertum. Der „Doing Business Report“ der Weltbank legt diese deutsche Schwäche immer aufs Neue offen. Eine adäquate Strukturpolitik besteht aus einem Dreiklang: Privates Unternehmertum fördern, Investitionen in Humankapital stärken und Hochschulen adäquat ausstatten.
Mit der Deregulierung des Dienstleistungssektors hat die Politik ein Mittel, das kurz- und langfristige Problem des Strukturwandels besser in den Griff zu bekommen. Hierzulande existiert eine Vielzahl regulatorischer Wettbewerbshemmnisse. Das gilt vor allem für freiberufliche Dienstleistungen. Es trifft aber auch, wie die OECD jüngst wieder mitteilte, für Marktschranken in den Netzindustrien zu. Mit einer stärkeren Deregulierung des Dienstleistungssektors schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe. Zum einen profitieren inländische Beschäftigung und wirtschaftliches Wachstum, zum anderen schrumpfen die strukturell hohen deutschen Leistungsbilanzüberschüsse. Mit einer forcierten Politik der Deregulierung des tertiären Sektors kann die Politik schon auf mittlere Sicht die Zahlungsbilanzkrise in der EWU entspannen und dem Strukturwandel seinen langfristigen Lauf hin zu einer wissensbasierten Volkswirtschaft freimachen.
Fazit
Die Finanz- und Eurokrise sind der Auftakt einer schmerzhaften Epoche strukturellen Wandels. Wir sind im Übergang von einer industriezentrierten in eine wissensbasierte Gesellschaft. Das deutsche Geschäftsmodell steht auf dem Prüfstand. Noch werden die Kosten des Übergangs verschleiert, weil wir über das Exportventil viel strukturellen Dampf ablassen. Es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis dieses Ventil geschlossen wird. Die ersten Kosten der strukturellen Anpassung werden in der EWU schon sichtbar. Mit den Generationen von Rettungsschirmen finanzieren deutsche Steuerzahler die Leistungsbilanzdefizite der Peripherie. Sie retten marode Banken, hoch verschuldete Staaten und überkommene Industriesektoren. Der Prozess der strukturellen Anpassung wird verzögert aber nicht aufgehalten. Die Gefahr ist groß, dass die unvermeidlichen Lasten der Anpassung nicht über die Märkte, sondern über die Politik angelastet werden. Das geht immer zu Lasten von Freiheit und Wohlstand.
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Angesichts der Verwerfungen in der EuroZone bzw. in der EU gibt es doch ganz offensichtlich die politische Notwendigkeit, die mittel- und langfristige Zukunft der EU so klar und deutlich zu beschreiben, dass darauf auch alle zukünftigen finanz-und wirtschaftspolitischen Maßnahmen aufgebaut werden können. Nur wenn in Europa grundsätzlich geklärt ist, dass in einem überschaubaren Rahmen von vielleicht 20 Jahren ein „Bundesstaat Europa“ bestehen soll, nur dann lassen sich die dann notwendigen Anpassungs- und Übergangsmaßnahmen entwickeln und begründen.
Solange immer noch ein Auseinanderbrechen der EuroZone (oder gar der EU) als reale Risikopositionen gehandelt werden, solange kann es keine wirksame „Fiskalunion“, keine handlungskräftige „Europäische Wirtschaftsregierung“, natürlich auch keinen „Europäischen Finanzminister“ und vor allem auch keinen über alle Zweifel erhabenen „stabilen Euro“ geben. Deswegen muss Frau Merkel mit ihrer immer wieder neuen Zustimmung zu immer weiteren Elementen einer Transferunion zu diesem politischen Kern eine klare Aussage machen. Ansonsten bleibt der Eindruck einer völlig konzeptionslosen politischen Alltagsopportunität.
Diese Logik ist total falsch, wenn wir weniger Industrie hätten, würde der Euro gesunden. Fakt ist die anderen Länder müssten viel mehr Leistung bringen, ihre Produkte außerhalb der EU stärker vermarkten. Wenn wir z.B. nur kleine teile unserer Industrie nach Grichenland verlagern würden, wäre spätestens in einem Jahr für diese Firmen der Sensemann da. Nicht aus allen Menschen kann man Sklaven machen und aus Griechen kann man keine Sklaven machen.
Brillante Analyse! Schon seit langer Zeit wird diskutiert, warum der Dienstleistungssektor in Deutschland kleiner ist als in vergleichbaren Ländern, ohne dass jemand dafür jemals eine plausible Erklärung gefunden hätte. Nun wissen wir es aber: Es ist nicht übertriebene Lohnzurückhaltung, es sind die Euro-Rettungsschirme! Ich denke, es ist an der Zeit für Europa zu lernen, dass es Deutschland auch einmal etwas zurückgeben muss!
Geliehene Stärke
Deutsche Exportgüter sind so gut, auch weil sie besonders viele importierte Teile beinhalten.
Ein Gastbeitrag von Rolf J. Langhammer