Ob wir uns Fußball-Europameister 2012 nennen dürfen, wissen wir spätestens am 1. Juli, nachdem in Kiew das Finale abgepfiffen worden ist. Gänzlich überraschend käme der Titel trotz der holprigen Vorbereitung nicht. Die Wettquote für einen deutschen EM-Titel ist bei den meisten Anbietern hinter Spanien die zweitniedrigste. Eine bedeutend höhere Rückzahlung würde eine – hypothetische – Wette auf Deutschland als wohlhabendste Nation im Jahr 2030 einbringen. Dass wir für das Resultat geschlagene 18 Jahre warten müssten, würde die Bereitschaft für eine Wette allerdings empfindlich verringern.
„Fette Jahre“ lautet der Titel des Buches von Dirk Heilmann, Chefökonom des Handelsblattes, und Bert Rürup, Vorstandsmitglied seines eigenen Beratungsunternehmens und von 2000 bis 2009 im Rat der Wirtschaftsweisen. Es soll einen Kontrapunkt zu den vielen Schlechte-Stimmung-Werken im Handel setzen. Diese lassen allzu oft kein gutes Haar an der politischen und ökonomischen Zukunft unseres Landes, sowieso nicht Europas und auch nicht immer Amerikas und Asiens. Schenkt man Heilmann und Rürup Glauben, soll zumindest bei uns vieles anders kommen. Deshalb sind die Zukunfts-Berechnungen für die Botschaft ihres Buches auch so wichtig. Deutschland wäre demnach beim BIP pro Kopf 2030 Weltmeister. 59.000 US-Dollar soll dieser Wohlstandsindikator in 18 Jahren hierzulande betragen. Damit läge er knapp vor den USA (58.600 USD) und Japans (55.500 USD), deutlicher vor dem BIP pro Kopf Russlands (24.700 USD) und Chinas (13.900 USD). Bis die Prognose verifiziert ist, wird es unzählige neue Bücher, neue Berechnungen und neuen Ballast in Deutschland und der Welt geben. Vielleicht heimsen wir bis dahin fünf Europameister- und fünf Weltmeister-Titel im Fußball ein. Wer weiß das schon?
Das zweite Wirtschaftswunder
Dem tiefen Blick in die Glaskugel zum Trotz lohnt es sich, das in diesem Jahr erschienene Buch in die Hand zu nehmen. Denn Heilmann und Rürup präsentieren nicht nur Zahlen zu 14 ausgewählten Ländern – von Indonesien bis zur Türkei –, sondern füttern diese Zahlen auch mit qualitativen Argumenten. Deutschland steht dabei meist im Mittelpunkt. Die Entwicklung des „kranken Mann Europas“ (Economist) zu einer der „begehrtesten Wirtschaftsstandorte der Welt“ (Heilmann/Rürup) bezeichnen die Autoren als zweites Wirtschaftswunder. Sie tun es nicht ohne kleine und große Seitenhiebe zu führenden Vordenkern unseres Landes. Die Spitze in Richtung des früheren Finanzministers Steinbrück, der das Vorwort geschrieben hat, ist eher harmlos:
„Bereits Ende des ersten Quartals 2011 und nicht – wie Steinbrück noch Mitte 2010 vorausgesagt hatte – frühestens 2012/13 hatten Produktionsniveau und Kapazitätsauslastung wieder das Vorkrisenniveau vom Frühjahr 2008 erreicht (S. 10).“
Die wichtigsten Gründe für den Aufschwung sind für Heilmann und Rürup die Verschlankung deutscher Unternehmen, die gute Zusammenarbeit der Tarifparteien und die technologische Kompetenz des industriellen Sektors, aber auch die Politik mit ihren überzeugenden Krisenreaktionen 2008/09 und zuvor der Umsetzung der Agenda 2010. Dem gewichtigsten Argument für das Wiederaufleben der deutschen Wirtschaft wird schließlich ein eigenes Kapitel gewidmet. Es lautet: Deutschland als Gewinner der Globalisierung. Auch wenn darin viele Auswirkungen der Globalisierung in aller Ausführlichkeit als alter Wein in neuen Schläuchen präsentiert werden, findet sich doch der eine oder andere bedenkenwerte Ansatz, darunter der sogenannte Süd-Süd-Handel:
„Die Kooperation und wirtschaftliche Verflechtung unter den Schwellen- und Entwicklungsländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas nimmt zu. […] Das ist auch eine Erklärung dafür, dass viele aufstrebende Wirtschaftsnationen die jüngste Wirtschaftskrise so gut überstanden haben: Sie konnten den Ausfall von Kunden in den etablierten Wirtschaftsnationen zum Teil durch verstärkte Verkäufe an die neuen Mittelschichten im Süden kompensieren. (S. 65)“
Etwas aufgelockert wird das Kapitel zudem durch informative Graphiken. Eine zeigt recht deutlich, dass Deutschland seinen prozentualen Anteil am Welt-BIP seit 1950 bei immerhin konstant mehr als fünf Prozent halten konnte. Für einen Demokraten harte Kost ist das Unterkapitel zur Konkurrenz der Entwicklungsmodelle. Dass der Kapitalismus westlicher Prägung Konkurrenz bekommen hat, steht außer Frage. Dass aber auch die Weltbank bzw. der IWF einer „neuen strukturellen Ökonomie“ mit einer gewünschten Industriepolitik bzw. einer gesteuerten Akkumulation von Devisenreserven und Kapitalverkehrskontrollen in Teilen offen gegenüber zu stehen scheinen, ruft auch bei den beiden Autoren Unmut hervor. Wie auch immer, der Lauf der Dinge lässt sich wohl nicht aufhalten und Deutschland bleibt zumindest der Trost, dass es als Ganzes sicher nicht zu den Verlierern der Globalisierung zählt.
Denn die Spezialisierung scheint geradezu mustergültig funktioniert zu haben. So hat Deutschland ein Offshoring betrieben ohne selbst auszubluten. Der Anteil der Industrie am BIP liegt seit Jahren konstant bei 30 Prozent, während er etwa in Japan (28%), Großbritannien (24%), den USA (22%) und Frankreich (20%) deutlich zurückgegangen ist. Die forschungsintensiven Tätigkeiten werden zudem weiter bei uns durchgeführt. Das hat auch eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung des DIW gezeigt. Eine Erklärung liefert eine von Heilmann und Rürüp zitierte Studie, wonach Unternehmen, die sich dem verschärften Wettbewerb von China-Exporten ausgesetzt sehen, hernach mehr Patente anmelden, mehr FuE betreiben und mehr in moderne Informationstechnologie investieren als andere.
Fünf Herausforderungen für Deutschland
Die an das Globalisierungskapitel anschließenden Länderberichte sollen der Aufgalopp zur eingangs erwähnten 2030-Prognose sein, wirken aber eher wie ein Fremdkörper. Nach der Weltmeister-Botschaft widmen sich die Autoren fünf Herausforderungen für Deutschland. Die erste hat einen geradezu idealistischen Touch. Demnach sollen alle Bürger an den Erträgen der Globalisierung teilhaben. Dass dem derzeit nicht so ist, wird an der, gemessen am Gini-Koeffizient, wachsenden Ungleichheit von Einkommen und Vermögen festgemacht, obgleich der Staat heute genauso viel umverteilt wie 1984. Die Autoren führen auch die gestiegene Zahl der Armutsgefährdeten auf. Deshalb wird die These aufgestellt, dass in einer globalisierten Welt ein Anstieg von Wachstum und Wohlstand mit wachsender Ungleichheit erkauft werden. Man könnte es aber auch ehrlicher ausdrücken: Eine Verringerung der Ungleichheit hat seinen Preis. Geeignete Mittel für das Gleichheitsziel – hier herrscht unter Ökonomen meist Konsens – sind eine Erhöhung der Einkommensmobilität und eine Verringerung der Beschäftigungsschwelle des Wachstums. Als Reformvorschläge fordern Rürüp und Heilmann einen Mindestlohn, neue Zuverdienst-Regeln für Empfänger von Arbeitslosengeld II und ein Ende der Minijobs als Nebenjobs.
Die zweite Herausforderung umfasst im Wesentlichen die demographische Entwicklung mit allen ihren Auswirkungen auf die Sozialversicherungssysteme und den Arbeitsmarkt. Der Altenquotient wird in den nächsten 30 Jahren – anders als das BIP pro Kopf in den nächsten 18 Jahren – so sicher emporsteigen wie allabendlich der Mond. Daraus haben und werden sich zukünftig enorme Tragfähigkeitslücken aufbauen, die sogenannten impliziten Schulden. Die Autoren halten das bloße Addieren zu den expliziten Schulden, wie es gerne praktiziert wird, zwar für „intellektuell nicht redlich“, da diese unverbrieft sind und daher durch Reformen abgebaut werden können. Das ändere aber nichts daran, dass die impliziten Schulden eher heute als morgen angegangen werden sollten. Die gesetzliche Rentenversicherung sehen die Autoren für die nächsten 10 Jahre reformiert. Ab 2030 wird man allerdings nicht um höhere Steuerzuschüsse und eine weitere Anhebung des Renteneintrittsalters herumkommen. Statt der derzeit diskutierten Zuschussrente sähen Heilmann und Rürup lieber die Anrechnungsmodalitäten bei der Grundsicherung im Alter modifiziert und für alle durch Sparen erworbenen Alterseinkommen einen Freibetrag. Bei der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung sehen die Autoren dagegen schwarz, auch wenn zumindest im ersten Fall der Anstieg der Ausgaben gedämpft werden konnte:
„Die Einnahmeseite des über Zwangsabgaben finanzierten Teils unseres Gesundheitssystems hat sich als weitgehend reformresistent erwiesen. Und daran wird sich auch erst einmal wenig ändern (S. 194).“
Erfolgsversprechender sind da schon Reformen am Arbeitsmarkt. Das demographische Gespenst lässt sich nach Meinung der Autoren am besten über die Familien- und Bildungspolitik, weniger über die Zuwanderung packen. Das soll zum einen über eine Erhöhung der Frauen-Erwerbstätigkeit und zum anderen über eine Verringerung der Schulabbrecher-Quoten passieren. An beidem wird seit längerem herumgedokert – insbesondere bei der Bildung mit wenig Erfolg. Doch viel mehr als ein kostenloses und verpflichtendes Kindergartenjahr vor der Schule findet sich auch bei Heilmann und Rürüp nicht. Innovativer ist das Realsplitting, das die Erwerbstätigkeit der Frauen weiter steigern soll:
„Dabei würden die Ehegatten individuell besteuert, aber der besserverdienende Partner könnte – wie dies bei Scheidungen der Fall ist – Transferleistungen an den schlechter verdienenden steuermindernd als Sonderausgaben absetzen, während die tatsächlichen oder fiktiven Unterhaltsleistungen im Gegenzug das steuerpflichtige Einkommen des empfangenden Partners erhöht würden (S. 207).“
Die Herausforderungen Nummer drei und vier beziehen sich auf nachhaltig solide deutsche Staatsfinanzen und eine verbesserte internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Zur Erreichung der beiden Ziele kommt man um die Steuerstruktur nicht herum. Im ersten Fall fordern Heilmann und Rürüp eine Abschaffung der Ausnahmetatbestände, angefangen bei den ermäßigten Mehrwertsteuersätzen bis hin zur Befreiung energieintensiver Unternehmen von der Energiesteuer. Wenn schon Steuererhöhungen, dann sollten die Substanzsteuern heraufgesetzt werden. Erbschafts-, Vermögens- und Grundsteuern seien in Deutschland weit unterdurchschnittlich, heißt es in dem Buch.
Im zweiten Fall – der verbesserten internationalen Wettbewerbsfähigkeit – schlagen die Autoren eine steuerliche FuE-Förderung vor. Demnach sollen alle in Deutschland ansässigen Unternehmen einen bestimmten Prozentsatz ihrer Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen als Gutschrift von ihrer Steuerschuld abziehen dürfen. Dadurch soll der Verdrossenheit bei der aufwändigen Bewerbung um staatliche FuE-Förderprogramme entgegengewirkt werden.
Die leidige E-Frage
Nunja, die fünfte Herausforderung soll nicht vorenthalten werden: Den Euro retten und die europäische Integration vorantreiben. Die Vorschläge sind interessant, deren Analyse ist jedoch eine moderne Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Denn selbst die Prognosen vor der Fußball-Europameisterschaft haben eine längere Halbwertszeit als politische Absichtserklärungen in der E-Frage.
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