Der Ökonomen-Aufruf und die Stammtische
Anmerkungen eines Unterzeichners

Der öffentliche Aufruf zum EU-Gipfeltreffen Ende Juni 2012 hat den unterzeichnenden Ökonomen heftige Kritik eingehandelt, welche – zu Recht oder zu Unrecht – weit über die Äußerung inhaltlicher Differenzen zu den Thesen des Aufrufs hinausgingen. Der Vorwurf der Inhaltsleere des Aufrufs und die vom Handelsblattredakteur Olaf Storbeck pauschal konstatierte pauschale Inkompetenz seiner 172(+) Unterzeichner ist dabei noch am leichtesten zu tragen. Denn erstens handelt es sich um einen Aufruf und nicht um einen Fachaufsatz, und anders als dies suggeriert wurde, liegen dem Aufruf zahlreiche theoretisch wie empirisch wohlfundierte Analysen einer ganzen Reihe von Ökonomen innerhalb und außerhalb des Kreises seiner Unterzeichner zugrunde; und zweitens finden sich unter den Unterzeichnern keineswegs ausschließlich oder auch nur vornehmlich verstockte theorie- und empiriefeindliche „ordoliberale Lyriker“, sondern – ebenso wie im Falle des Gegenaufrufes – zahlreiche international renommierte Forscher, von denen einige von ebenjenem Olaf Storbeck im Handelsblatt im Rahmen seines heiligen Krieges gegen die dummen deutschen Volkswirte als Leuchttürme im Dunkel der deutschen Ökonomik gehyped wurden. Mit dem Vorwurf der Inhaltsleere des Aufrufs und der fachlichen Inkompetenz seiner Verfasser und Unterzeichner kann man also gut leben.

Auch der Versuch, den Aufruf lächerlich zu machen, indem man – wie die Financial Times Deutschland – die im Laufe der Zeit sich wandelnden Formulierungen „aufdeckt“, geht ins Leere, denn was soll schon schlimm daran sein, wenn die Autoren sich den Text gegenseitig zusenden sowie ihn verändern und anpassen? Das Gegenteil ist der Fall, und tatsächlich wäre es hilfreich gewesen, wenn davon mehr passiert wäre. Damit kommen wir zu einem wirklich ärgerlichen Punkt: Hätten Verfasser und Unterzeichner die Formulierungen des Textes noch einmal sehr sorgfältig geprüft und auf Anpassungen hin zu einer differenzierten Sprache hingewirkt, so wäre ihnen der Vorwurf erspart geblieben, der Text sei mit nationalistischen Untertönen behaftet und grenze sich nicht glasklar von unseligen Klischees über solide und unsolide Länder sowie über verborgen ihre Strippen ziehende Finanzmarktakteure ab – mit allen ihren historischen und ideologischen Bezügen. Dies als Mitunterzeichner versäumt zu haben, ist nun in der Tat so schmerzlich, dass man sich wünscht, man hätte den Aufruf in dieser Form nicht unterzeichnet.

Gleichwohl gehört schon ein gewisses Maß an Böswilligkeit zu der Unterstellung, hier würden in „schlimmster Stammtischmanier“ Fehlentwicklungen aus einer Mischung von dunklen Machenschaften zwielichtiger Finanzmarktverschwörer in Verbindung mit „inhärent stabilitätsunfähigen“ Staaten oder gar Kulturen abgeleitet. Es geht vielmehr darum, auf die Hintergründe aufmerksam zu machen, welche die Krise antreiben, und diese haben nichts mit den genannten Klischees zu tun, sondern mit ökonomischen Fehlanreizen, welche im Euroraum schon vor der Krise bestanden haben und deren Konsequenzen nun mit Hilfe von Maßnahmen bekämpft werden, welche neue Fehlanreize hinzufügen; und sie haben mit einem Verschuldungsproblem des öffentlichen Sektors und des Bankensystems zu tun, welches nicht zuletzt mit einer zu reichlichen Geldversorgung und der daraus folgenden Blasenbildung zu tun hat und welches man nun durch neuere Verschuldung unter Kontrolle zu bringen versucht.

Zugegeben: Die dahintersteckenden makroökonomischen Mechanismen sind alles andere als einfach, so dass sich auch jede Simplifizierung vonseiten der Politiker und ihrer Beobachter verbietet. Aber allein schon an dem wiederausgebrochenen Streit zwischen makroökonomischen Schulen lässt sich erkennen, wie dünn die Decke des makroökonomischen Wissens auch heute noch immer ist, und dies gilt gerade für die zur Debatte stehenden Probleme, nicht zuletzt weil sie sich innerhalb der ungewöhnlichen Struktur eines Währungsraums ohne Staatswesen abspielen. Das Wissen um dieses Unwissen allein gebietet eigentlich bereits einen gewissen gegenseitigen Respekt, welcher in der Reaktion auf den Aufruf allerdings nicht immer zu finden ist, um es freundlich auszudrücken.

Jenseits ihrer unmittelbaren makroökonomischen Wirkung beinhaltet die sogenannte EURO-Rettungspolitik aber Mechanismen, welche ganz im Sinne des Aufrufs geeignet sind, die europäische Integration insgesamt zu gefährden und zu Desintegration und Nationalismus zurückzuführen. Denn solange wir – anders als die Vereinigten Staaten – keine wirklichen staatlichen Strukturen auf europäischer Ebene haben, solange exekutive und legislative Gewalt nicht hinreichend getrennt und unabhängig voneinander etabliert sowie der Parlamentsvorbehalt in Budgetfragen auf allen Regierungsebenen gesichert ist, erzeugt eine Vergemeinschaftung der Fiskalpolitik Verwerfungen, wie wir sie in keinem der zeitgenössischen Föderalstaaten heute vorfinden, seien es die Vereinigten Staaten, Kanada, Australien, Deutschland oder die Schweiz. Denn in allen diesen Staaten gilt der strikte Parlamentsvorbehalt auf jeder föderalen Ebene, und nirgendwo gibt es eine vergemeinschaftete Verschuldung der jeweiligen Gebietskörperschaften. In Europa aber bildet sich im Rahmen der EURO-Rettungspolitik ein System heraus, welches auf allen Ebenen die Parlamente mehr und mehr aus Budgetfragen herausdrängt, und auf der zentralen Ebene spielt das Parlament in dieser Hinsicht ohnehin kaum eine Rolle, sondern eine mehr oder weniger formelle Zusammenkunft der exekutiven Spitzen der dezentralen Körperschaften. Zudem wird der Zusammenhang von Handlung und Haftung der einzelnen Gebietskörperschaften zunehmend aufgelöst.

Solche Strukturen provozieren einen nicht gewissenhaften Umgang mit Staatsfinanzen, mit Steuern und Verschuldung, und sie provozieren im Gefolge fast unvermeidlich Streit um die Frage, wer wofür am Ende aufkommt. Eigentlich sind sich Ökonomen einig darüber, dass es nichts mit kollektiven Kultur- oder persönlichen Charaktermerkmalen zu tun hat, wenn innerhalb einer solchen Struktur am Ende jeder die Hände in den Taschen der jeweils anderen hat und wenn das Resultat schließlich kollektive Verantwortungslosigkeit, Streit und Verwerfung ist. Und eigentlich sind sich Ökonomen einig darüber, dass man die Regeln des Spiels ändern muss, um so etwas zu vermeiden oder zu verändern. Warum aber darf man dies in dem vorliegenden Zusammenhang nicht sagen? Das Gerangel im Vorfeld und während des letzten Gipfels sowie die sich darum herumrankenden Misstöne könnten jedenfalls bereits Vorboten für das sein, was uns noch bevorsteht. Dies festzustellen und davor zu warnen steht übrigens selbst dem innigsten Wunsch nicht entgegen, damit Unrecht zu haben.

Man mag alle diese Gefahren angesichts der akuten makroökonomischen Probleme als nicht akut oder vielleicht auch als „zu abstrakt“ sehen; und man mag jene als fahrlässig im Umgang mit makroökonomischen Verwerfungen sehen, welche mit Blick auf diese Gefahren vor makroökonomisch tatsächlich oder vermeintlich dringend gebotenen Maßnahmen warnen. Aber wer das mit gutem Gewissen tun will, muss sich hinreichend sicher sein, dass die im Zuge der EURO-Rettungspolitik im Entstehen begriffenen Strukturen die Ergebnisse der jahrzehntelangen Europäischen Integration nicht binnen weniger Jahre zerstören, dass sie die EU am Ende nicht zerreißen und dass sie nicht sogar die Demokratien ihrer Mitgliedstaaten gefährden werden. Zumindest muss er sich der Tatsache bewusst sein, dass in diesen Gefahren der Preis der Rettungspolitik liegt. Denn diese Gefahren bestehen akut, und darauf wird man hinweisen dürfen und wahrscheinlich sogar müssen. Das ist allemal Grund genug, einen solchen Aufruf zu zeichnen, auch wenn ein Teil von dessen Formulierungen leider verunglückt ist.

 

Thomas Apolte
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8 Antworten auf „Der Ökonomen-Aufruf und die Stammtische
Anmerkungen eines Unterzeichners

  1. Kein einziger meiner StammtischbrüderISchwestern lebt in so desolaten Zuständen, wie die Obrigkeiten bis hinunter auf Gemeindeebene.

    Ein Stammtisch funktioniert nach klaren Regeln.

    Ich wollt dieses Land wäre ein einziger Stammtisch – es ginge uns wohler!!!

  2. Eine vorzügliche Verteidigung des Manifests der ‚Mehrheitsökonomen‘, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie die Formulierungsschwächen nicht leugnet.

    Zu der Art und Weise, mit welchen Methoden unsere Politik uns „für Europa“ „verhaftet“, hier konkret eine brandaktuelle Information, die in der öffentlichen Debatte leider untergegangen ist.

    In dem Artikel „Eurogruppen-Beschluss. Spanische Banken bekommen 30 Milliarden Euro“ berichtete die Financial Times Deutschland* am 10.07.12 (http://www.ftd.de/politik/europa/:eurogruppen-beschluss-spanische-banken-bekommen-30-milliarden-euro/70061257.html):

    „Juncker äußerte die Ansicht, dass die Bankenhilfe für Spanien irgendwann in eine direkte Hilfe des ESM an die Geldhäuser umgewandelt werden kann. Dann würde die Finanzhilfe nicht länger den Schuldenstand des mit hohen Zinsen kämpfenden Landes in die Höhe treiben. Auch stünde dann nicht mehr die Regierung in Madrid für die Risiken gerade, sondern der ESM und mit den [gemeint wohl: „mit ihm die“] Euro-Staaten. Auch der französische Finanzminister Pierre Moscovici stellte in Aussicht, die Bankenhilfe rückwirkend auf direkte ESM-Finanzierung umzustellen.“

    Und was hatte unser Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble dazu gesagt – lt. offizieller Webseite? (http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2012/07/2012-07-06-schaeuble-eurokritik.html; Hervorhebung von mir)
    „Schäuble widersprach der Kritik der Ökonomen, die Banken-Union würde eine kollektive Haftung für die Schulden der Banken des Euro-Systems bedeuten. ‚Im Kern GEHT ES JA NICHT DARUM, DIE HAFTUNG ZU VERGEMEINSCHAFTEN, sondern eine gemeinsame Aufsicht in Europa zu schaffen‘.“

    Es dürfte sich vor diesem Hintergrund empfehlen, bei der Analyse jeglicher Aussage deutscher Politiker zur Eurokrise nunmehr als Arbeitshypothese die Annahme zugrunde zu legen, dass es sich um eine vorsätzliche Falschbehauptung handelt.

    *Auch wenn ich die FTD als Zentralorgan der Eurettungsfetischisten nicht eben liebe: die Informationen sind dort manchmal besser als anderswo. In anderen (deutschen) Online-Medien, die ich dazu gelesen habe, war der Bericht über die Brüsseler Sitzung der Finanzminister äußerst knapp, und ausgerechnet diese (in meinen Augen zentrale) Information fand sich darin nicht.

    En passant:
    Von den Bankenunionsfreunden, speziell unter den Wirtschaftswissenschaftlern (also konkret den Unterzeichnern der beiden Gegenmanifeste) hätte ich gerne mal gewusst, wie nach ihrer Meinung ein weitestgehend kreditfinanzierter Fonds (ESM) dauerhaft die Verluste für Bankenrekapitalisierungen tragen soll. Wer als deutscher Volkswirt hier von „TARP“-Gewinnen der US-Regierung redet, muss sich fragen lassen, warum er nicht die (für Spanien usw. sehr viel wahrscheinlicheren) Verluste à la HRE und Landesbanken anführt.
    Und da der ESM bei seinen Ausleihungen ja keine größere Zinsspanne einsacken soll, also keine nennenswerten Gewinne machen wird, gibt es auch kein Polster, aus dem sich die absehbaren Verluste aus Bankenrekapitalisierungen ohne Nationalstaatshaftung finanzieren lassen. Außer natürlich dem Eigenkapital, das dann ständig erhöht bzw. nachgeschossen werden muss.
    Aber dazu äußern sich die Kritiker des Aufrufs der Professoren Hans-Werner Sinn und Walter Krämer bezeichnender Weise nicht!

    Es dürfte sich vor diesem Hintergrund empfehlen, bei der Analyse jeglicher Aussage deutscher Bailout-Ökonomen zur Eurokrise nunmehr als Arbeitshypothese die Annahme zugrunde zu legen, dass es sich um eine vorsätzlich unvollständige Darstellung handelt.

  3. Zwei kurze Anmerkungen von mir:

    Die Verwendung des Begriffs „ordoliberale Lyriker“ in Anführungsstrichen suggeriert, dass es sich um ein wörtliches Zitat von mir handelt – dieser Eindruck ist aber falsch. Mir ist nicht bewusst, dass ich diesen Begriff jemals gebraucht habe.

    Zudem wird behauptet, ich habe den Verfassern und Unterzeichnern „fachliche Inkompetenz“ unterstellt. Auch das weise ich zurück. Im Gegenteil habe ich argumentiert, dass ich angesichts des fachlichen Hintergrunds der Verfasser und Unterzeichner einen fundierteren Aufruf erwartet hätte: „die Unterzeichner des Aufrufs benutzen ihren wissenschaftlichen Sachverstand als Rechtfertigung dafür, dass sie sich in die Debatte einschalten. Da darf man dann auch ein gewisses analytisches Niveau erwarten dürfen“ – zumal die Brüsseler Beschlüsse in dem Aufruf meines Erachtens falsch darstellt werden. Der Schritt in die Bankenunion bedeutet keineswegs zwingend eine kollektive Haftung für sämtliche Bankschulden, und dies ist in Brüssel meines Wissens auch nicht beschlossen worden.

    Mit freundlichen Grüßen
    Olaf Storbeck, Handelsblatt

  4. Zu den Anmerkungen von Olaf Storbeck:

    Die Anführungszeichen bei der Verwendung des Schmähbegriffs „ordoliberale Lyriker“ kennzeichnen kein Zitat, sonst hätte ich die Quelle angegeben. Vielmehr kennzeichen sie eine saloppe Wendung, über deren Hintergrund Olaf Storbeck und eigentlich auch die ganze deutsche Volkswirtezunft im Bilde ist. Es ging dabei auch nur um den Hinweis darauf, dass keineswegs nur ein bestimmter und nur im deutschen Sprachraum verbreiteter Kreis von Ökonomen mit einer eher deutschsprachig-philosophischen Ausrichtung den Aufruf unterschrieben hat.

    Zur zweiten Bemerkung von Herrn Storbeck. Es ist richtig, er hat nicht explizit von fachlicher Inkompetenz geschrieben. Aber man liest in seinem Handeslblatt Blog-Beitrag folgendes:

    „Langsam mache ich mir wirklich Sorgen um Deutschland und die deutschen Ökonomen. (…) Mit der Argumentation, der Staat könne keinen Bank run verhindern, fallen unsere Professoren auf das intellektuelle Niveau von vor der Great Depression zurück.“

    Wie jemand mit einer hohen fachlichen Kompetenz plötzlich auf einen intellektuellen low level fallen kann, ohne dass ihm zuvor Gehirnzellen abgestorben sind, ist mir nicht klar. Aber weiter: Wenn man diese Bemerkungen daran misst, dass ein großer Teil der Ökonomen außerhalb des deutschsprachigen Raums die Dinge anders sieht als die meisten deutschen Ökonomen und dass dies nach den Äußerungen von Herrn Storbeck daran liegt, dass sich dieser (vermeintliche oder tatsächliche) internationale Mainstream der Ökonomen anders als die deutschen Ökonomen offenbar nicht auf dem Vor-Great-Depression-Niveau bewegt, dann folgt einigermaßen zwingend daraus, dass er die deutschen Ökonomen im Vergleich zum internationalen Mainstream als fachlich nicht auf der Höhe der Zeit und damit fachlich inkompetent sehen muss. Dazu passt dann auch das folgende Abschlussstatement im Blog-Beitrag von Herrn Storbeck:

    „So, nachdem ich mir meinen Frust von der Seele geschrieben habe, fahre ich jetzt zur Sommerparty des Makro-Thinktanks OMFIF. Die findet in der Ave Maria Lane statt. Langsam hilft wirklich nur noch beten.“

    Was schließlich das Inhaltliche angeht: Dass mit den Brüsseler Gipfelbeschlüssen zur Bankenunion eine Haftungsunion einhergeht, mag man aus einer (zweifelsfrei respektablen) Sicht als unzutreffend einschätzen. Aus einer anderen Sicht, jener der Unterzeichner nämlich, ist das aber zutreffend, und für diese Sicht gibt es sehr gute Gründe. Daher ist mir nicht klar, was an dieser Sicht so wenig respektabel sein soll, dass man sich derart spöttisch damit auseinandersetzt. Zur Begründung verweise ich auf die Erläuterungen von Sinn und Krämer in der FAZ vom 9.7.12, denen ich hier nichts hinzuzufügen habe. Dass man die Gründe in dem Aufruf hätte besser formulieren können, gestehe ich wie gesagt ein, aber das steht auf einem anderen Blatt.

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