Was bringt die Leitzinssenkung der EZB?

Am vergangenen Donnerstag (5. Juli 2012) senkte die Europäische Zentralbank (EZB) ihre Leitzinsen auf ein historisch niedriges Niveau. Der Hauptrefinanzierungssatz wurde um 0,25 Prozentpunkte auf 0,75 Prozent gesenkt. In gleichem Ausmaß sanken auch der Spitzenrefinanzierungssatz auf 1,50 Prozent und der Zinssatz, den Banken für Einlagen bei der EZB erhalten, auf 0 Prozent. Begründet wurden diese Maßnahmen von EZB-Präsident Mario Draghi mit einer Eintrübung der konjunkturellen Erwartungen für die Eurozone bei einem gleichzeitig nachlassenden Preisdruck. Eine verbesserte konjunkturelle Situation käme dabei insbesondere den südeuropäischen Krisenländern zugute, für die im zweiten Halbjahr 2012 negative Wachstumsraten von bis zu fünf Prozent (Griechenland) erwartet werden. Durch ein höheres Wirtschaftswachstum könnten sie sowohl ihre Beschäftigungsprobleme als auch ihre Verschuldungssituation verbessern, da die entsprechenden Schuldenquoten auf das (nominale) Bruttoinlandsprodukt bezogen werden.

Welche Wirkungen sind nun von diesen Maßnahmen zu erwarten? In konjunktureller Hinsicht bestehen erhebliche Zweifel, ob die Leitzinssenkung um 0,25 Prozentpunkte expansive Impulse auszulösen vermag. Als Reaktion auf den weitgehenden Zusammenbruch des Interbankenmarktes ging die EZB bereits im Herbst 2008 dazu über, ihre Offenmarktoperationen in Form von Mengentendern bei voller Zuteilung und nicht mehr als Zinstender durchzuführen. Dies hat zur Konsequenz, dass sich die Banken in jedem beliebigen Umfang zu dem jeweils geltenden Leitzins – nun also zu 0,75 Prozent – bei der EZB refinanzieren können. Darüber hinaus reduzierte die EZB die Anforderungen an diejenigen Wertpapiere, die von den Banken als Sicherheit im Zusammenhang mit der Refinanzierung bei ihr hinterlegt werden müssen, im Laufe der (Krisen-)Zeit drastisch. Seit dem 23. Juni 2009 wurden erstmals Offenmarktoperationen mit einer Laufzeit von einem Jahr durchgeführt. Diese Entwicklung hin zu längeren Laufzeiten fand ihren vorläufigen Höhepunkt in zwei Tranchen („Dicke Berta“), in deren Rahmen den Banken am 22. Dezember 2011 Refinanzierungsmittel in Höhe von 489 Mrd. Euro und am 1. März 2012 in Höhe von 530 Mrd. Euro für die Dauer von nunmehr drei Jahren bereitgestellt wurden. All diese Maßnahmen machen deutlich, dass es gegenwärtig keineswegs an Liquidität im Bankenbereich mangelt. Die Leitzinssenkung führt lediglich dazu, dass die ohnehin reichlich vorhandene und im Prinzip unlimitierte Liquidität „nur“ noch etwas billiger geworden ist. In Einzelfällen mag dies denjenigen Banken nutzen, die insbesondere in den Krisenländern auf eine Refinanzierung durch die (nationalen) Notenbanken oder die EZB angewiesen sind.

Ob eine Leitzinssenkung um 0,25 Prozentpunkte (bei bereits niedrigem Leitzinsniveau) in der gegenwärtigen Situation allerdings, selbst wenn sie vollständig an die Kreditmärkte weitergegeben wird, zu erhöhten Investitionen führen, ist höchst zweifelhaft, da die gegenwärtigen Probleme eher nachfrage- und weniger angebotsbedingt erscheinen. Ausschlaggebend für die schwache Kreditnachfrage sind insbesondere schlechte Ertragserwartungen – ausgelöst durch ein politisches Kurieren an den Symptomen der Staatsschuldenkrise, ohne gleichzeitig oder stattdessen die Ursachen selbst zu bekämpfen. Indiz dafür mag auch die Reaktion der Aktienmärkte und des Eurokurses gegenüber dem US-Dollar bilden. In beiden Fällen sanken die Kurse nach der Verkündung der neuen Maßnahmen deutlich. Die von EZB-Präsident Draghi unter anderem erhoffte positive Beeinflussung der Erwartungen privater Wirtschaftssubjekte erscheint vor diesem Hintergrund ebenfalls unwahrscheinlich. Hinzu kommt, dass mit Hilfe der Geldpolitik bestenfalls vorübergehende reale Strohfeuereffekte ausgelöst werden können. Längerfristig wird sich eine expansive Geldpolitik hingegen überwiegend in einem Anstieg der Inflationsrate niederschlagen.

Auch der Hinweis darauf, dass durch die Senkung des Einlagenzinses auf 0 Prozent die Einlagen bei der EZB unattraktiver würden, ist wenig überzeugend. Grund für die Einlagen bei der EZB sind wohl weniger die zu erzielenden Zinsen, die auch bisher mit 0,25 Prozent bereits sehr niedrig lagen, sondern das mangelnde Vertrauen in andere Banken und damit die Funktion der EZB als „sicherer Hafen“. Es ist also der Sicherheitsaspekt, der gegenwärtig dazu führt, dass der geringe Zinsertrag überkompensiert wird und – wie Abbildung 1 zeigt – die Bankeinlagen bei der EZB in der jüngsten Vergangenheit auf über 800 Mrd. Euro ansteigen ließ. Diese Einlagenhöhe ist mehr als doppelt so hoch als nach der Lehman-Pleite im September 2008 und zu Beginn der Staatsschuldenkrise 2010. Hierdurch werden die tiefe Verunsicherung im Bankenbereich und die Zerrüttung des Interbankenmarktes deutlich, denen sicherlich nicht durch eine Zinssenkung um 0,25 Prozentpunkte begegnet werden kann.

Einlagen bei der EZB
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Den erhofften positiven Wirkungen einer expansiven Geldpolitik stehen auf der anderen Seite aber auch neue Probleme und Gefahren gegenüber. So hat die „Flutung“ der Geldmärkte zu historisch niedrigen Zinsen dazu geführt, dass gerade von südeuropäischen Banken in erheblichem Umfang höher verzinste heimische Staatsanleihen gekauft wurden. Damit steigt aber auch die Gefahr, dass eine solch expansive Geldpolitik die Anpassungsprozesse und den notwendigen Strukturwandel sowohl im realwirtschaftlichen als auch im Banken-Bereich noch weiter verzögert oder sogar zum Aufbau neuer Ungleichgewichte und Blasen beiträgt. Auf diese Problematik hat in der jüngsten Vergangenheit auch die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) hingewiesen.

Die Zinssenkung wirkt darüber hinaus auch im internationalen Bereich und damit auf den Wechselkurs des Euros gegenüber Drittländern. Führt dies zu einer Abwertung des Euros, wird man diese Entwicklung sicherlich billigend in Kauf nehmen, da es zu einer höheren Auslandsnachfrage nach europäischen Produkten kommen könnte. Ferner kann aber auch ein zusätzlicher Anreiz entstehen, Anlagen in der Schweiz vorzunehmen. Dies wird es aber für die Schweizerische Nationalbank noch schwieriger machen, ihre Wechselkursuntergrenze von 1,20 Franken für den Euro zu verteidigen. Bereits im Mai 2012 stiegen ihre Währungsreserven (interventionsbedingt) im Gegenwert von etwa 70 Mrd. Franken und im Juni nochmals im Gegenwert von weiteren rund 60 Mrd. Franken. Die jüngste Leitzinssenkung der EZB könnte diesen Druck nun noch weiter verstärken.

Sinken die Leitzinsen auf oder nahe null Prozent, so bedarf es alternativer geldpolitischer Maßnahmen, die man häufig unter dem Begriff der „quantitativen Lockerung“ zusammenfasst. Da die Wirkungen einer solchen Geldpolitik jedoch weitgehend unbekannt sind, schlugen namhafte Ökonomen wie Willem Buiter und Gregory Mankiw als Alternative negative Leitzinsen vor. Für einen Kredit bei der Notenbank über 100 Geldeinheiten müsste die Bank dann – etwa bei einem Leitzins von minus fünf Prozent – nur noch 95 Geldeinheiten zurückzahlen. Diese spezielle Variante der traditionellen Geldpolitik würde zwar auf der einen Seite dazu führen, dass die Kreditzinsen entsprechend weit fallen und damit realwirtschaftliche Investitionen möglicherweise lohnender würden. Auf der anderen Seite würde aber auch der Sparzins negativ werden und damit jeder Anreiz erlahmen, Geld bei der Bank anzulegen. Letztlich stünden keine Geldbeträge mehr zur Verfügung, die die Bank wiederum an Unternehmen und Haushalte ausleihen könnte. Diese Entwicklung versuchen Buiter und Mankiw durch verschiedene Varianten von „Strafsteuern“ auf Bargeldhaltung zu verhindern. Eine Variante – das sogenannte Schwundgeld – geht auf den deutschen Ökonomen Silvio Gesell zurück. Dabei verliert das Bargeld in bestimmten zeitlichen Abständen einen immer größeren Teil seines Wertes. Vorgeschlagen wurde diese Maßnahme von Gesell, um die Umlauf-geschwindigkeit des Geldes und damit die Nachfrage in der Wirtschaft anzukurbeln. Diese Variante kommt heute bereits zum Teil bei inoffiziellem Parallelgeld etwa in Form von Regionalwährungen zum Einsatz (vgl. dazu Rösl 2005). Andere Ausprägungen einer solchen Strafsteuer wären etwa ein „Wechselkurs“ (ungleich eins) zwischen Bar- und Buchgeld oder eine zufällige Bargeldvernichtung, indem Geldscheine mit einer bestimmten Endnummer für ungültig erklärt werden. All diese Vorschläge sind zwar theoretisch denkbar, lassen sich aber wohl kaum im Rahmen der praktischen Geldpolitik umsetzen.

Sowohl die (weitere) Leitzinssenkung als auch die äußerst großzügige Bereitstellung von Liquidität erhöhen ferner das längerfristige Inflationspotential für die Eurozone. Gegenwärtig sinkende Inflationsraten stehen dieser Einschätzung nicht entgegen, da die Geldpolitik typischerweise erst mit erheblichen zeitlichen Verzögerungen wirkt. Die inflationären Gefahren einer solchen Politik mögen bei traditionellen Offenmarktoperationen vermeintlich geringer sein, da die in der Regel kurzfristig (für einen Monat) bereitgestellte Liquidität im Falle des Aufschwungs möglicherweise schneller wieder vom Markt genommen werden kann. Dies ist aber bei Offenmarktoperationen mit einer Laufzeit von drei Jahren, die mittlerweile einen Anteil von etwa 55 Prozent an der Geldbasis der Eurozone umfassen, deutlich schwieriger. Darüber hinaus steht zu befürchten, dass die EZB und andere Notenbanken in der Aufschwungphase sehr lange warten werden, bis man die geldpolitischen Zügel wieder anzieht – denn keine der beteiligten Notenbanken wird sich vorwerfen lassen wollen, den Aufschwung frühzeitig wieder abgewürgt zu haben. Abschließend scheint ferner bedenkenswert, dass die EZB die gegenwärtige Krise mit genau derjenigen (expansiven) Geldpolitik zu bekämpfen versucht, die zumindest teilweise eine Ursache für den Ausbruch der ursprünglichen Finanzkrise darstellte.

Literatur

Rösl, Gerhard (2005): Regionalwährungen in Deutschland, in: Wirtschaftsdienst, 85. Jahrgang, 2005, S. 182-190.

6 Antworten auf „Was bringt die Leitzinssenkung der EZB?“

  1. Ich glaube die ganze Herangehensweise ist falsch. Geldpolitik kann im Grunde genommen nichts anrichten. Sie kann die Zurückzahlung von Vebindlichkeiten verhindern ( verlängern, stückeln, umformen ) aber keinen Wirtschaftsprozess in Gang setzen. Dieser wird nur durch die freie Bildung von Wirtschaftseinheiten zustande gebracht. Wir leben jedoch in einer Zeit in der das verwalten von bereits bestehenden Strukturen als gängige Politik verstanden wird. Währungen ( und vor allem staatlich gelenkte ) fallen immer dann in sich zusammen wenn das wirtschaftlich und soziale Gefüge nicht mehr zusammenpassen. Das gleiche ist applizierbar auf die EU. Es ist ein Konglomerat aus historisch „notwendigen“ Verträgen – wohl aber nicht jener der Bevölkerungsteile.

    Deshalb ist es auch historisch gesehen irrelevant was in den Zentralbanken passiert – denn das Ende kennen wir bereits ( mehr Inflation, Zentralisation ).

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