Im Gefolge der Staatsschuldenkrise in Europa stehen auch die Wirtschaftsstrukturen der einzelnen Länder verstärkt im Blickfeld. Dabei wird die Bedeutung der Industrie erheblich positiver beurteilt, als dies oftmals in den vergangenen Dekaden der Fall war. Es wird sogar eine Reindustrialisierung Europas gewünscht – um Wachstum und Wohlstand zu generieren. Wie stark unterscheiden sich die Länder Europas überhaupt in ihrer Wirtschaftsstruktur und welche Richtung hat der Strukturwandel zuletzt eingenommen?
Die Wirtschaftsstruktur eines Landes ist das Ergebnis vielfältiger Anpassungsprozesse in der Vergangenheit. Die unterschiedlichen Ansätze zur Erklärung der langfristigen wirtschaftlichen Entwicklung und zum Strukturwandel zeigen dies. Zahlreiche Veränderungen auf der Nachfrage- und auf der Angebotsseite einer Volkswirtschaft sowie die politischen Rahmenbedingungen können die Modernisierung vorantreiben. Hinzu kommen im Zeitablauf immer wieder unterschiedliche außenwirtschaftlich induzierte Anpassungserfordernisse. Die historisch gewachsenen Wirtschaftsstrukturen der einzelnen Länder sind demnach auch das Ergebnis der internationalen Arbeitsteilung und der dieser zugrunde liegenden ökonomischen Unternehmensentscheidungen.
Abbildung 1 zeigt für die 22 europäischen Länder, für die vollständige Daten zur Verfügung stehen, das jeweilige Branchengefüge im Jahr 2013. Überall dominieren heute die Dienstleistungsbranchen, wobei in dieser Ländergruppe eine gewaltige Divergenz von 28 Prozentpunkten im Tertiarisierungsgrad besteht. Der Dienstleistungs- oder tertiäre Sektor hat in Luxemburg, Zypern, Griechenland und Malta ein Gewicht von mehr als 80 Prozent an der gesamten Wirtschaftsleistung. Dagegen entfallen vor allem in den osteuropäischen Volkswirtschaften weniger als zwei Drittel auf den Servicesektor. Auch Deutschland und Österreich liegen bei nur rund 70 Prozent. Norwegen bildet mit einem Dienstleistungsanteil von 59 Prozent das Schlusslicht.
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Diese markanten Unterschiede in der Bedeutung der Dienstleistungen reflektieren größtenteils die verschieden hohen Industrieanteile. Die Differenz zwischen den beiden Ländern mit den Extremwerten belief sich auf 27 Prozentpunkte. Den höchsten Industrieanteil weist Norwegen mit 34 Prozent auf, was zum Großteil am Bereich Bergbau und Energie liegt. Es folgen osteuropäische Länder. Deutschland realisiert mit gut 26 Prozent ebenfalls einen hohen Industrieanteil. Unter den hier betrachteten westeuropäischen Ländern hat nur Österreich und Schweden einen Industrieanteil von mehr als 20 Prozent. In Frankreich belief er sich zuletzt auf nur noch 14 Prozent.
Neben diesen Unterschieden in ihren Wirtschaftsstrukturen können die untersuchten Volkswirtschaften auch auf ganz unterschiedliche Veränderungen zurückblicken. Dabei wird der Strukturwandel im Zeitraum 2000 bis 2008 sowie in den Jahren ab der globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise betrachtet (Abb. 2).
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- Im Zeitraum 2000 bis 2008 verbuchten nur Norwegen einen deutlichen sowie Deutschland und die Tschechische Republik jeweils einen leichten Zuwachs beim Industrieanteil. Während sich in der Slowakischen Republik, Griechenland und in Österreich die Einbußen noch in Grenzen hielten, waren vor der globalen Wirtschaftskrise in den meisten anderen Ländern – wie zum Beispiel Frankreich und Belgien – markante Rückgänge zu verzeichnen.
- Nach dem Jahr 2008 kam es zu einer „Re-Industrialisierung“ nur in einigen osteuropäischen Ländern und ganz leicht auch in Deutschland. In den meisten Ländern konnte der Einbruch beim Industrieanteil im Krisenjahr 2009, das größtenteils den Industriesektor in Mitleidenschaft zog, in den Folgejahren noch nicht ausgeglichen werden. Gleichwohl fiel zumindest in den großen westeuropäischen Volkswirtschaften die De-Industrialisierung geringer aus als im Zeitraum 2000 bis 2008.
Was muss bei der Interpretation dieser Ergebnisse beachtet werden?
- Die Zuordnung der Unternehmen zu einem Wirtschaftszweig erfolgt nach dem Schwerpunktprinzip. Ein Unternehmen wird mit seiner gesamten Wertschöpfung in dem Wirtschaftsbereich verbucht, dessen Produkte es überwiegend herstellt. Einerseits bieten aber Industrieunternehmen neben ihrem Hauptprodukt meistens auch Dienstleistungen an. Andererseits stehen viele unternehmensnahe Serviceunternehmen in einem engen Verbund mit Industrieprodukten. Angesichts dieser Verwobenheiten kann die eigentliche Bedeutung des Industrie- und Dienstleistungssektors statistisch schwerlich gemessen werden.
- Die hier – und in der Regel – bei Strukturuntersuchungen betrachteten Anteilsverschiebungen sagen nichts über die zugrunde liegende Dynamik aus. Fallende Industrieanteile können das Resultat absolut einbrechender Industrieleistungen oder eines stark boomenden Dienstleistungssektors sein.
- Mit Blick auf den Wohlstand ist beim Strukturwandel kein eindeutiges Vorteilsmuster zu erkennen. „Reiche und arme“ Länder gibt es sowohl unter den Dienstleistungs- als auch unter den Industrieökonomien. Die unterschiedlichen Wirtschaftsstrukturen spiegeln auch die internationale Arbeitsteilung wider – Luxemburg, Norwegen und Deutschland sind hier gute Beispiele. Der wirtschaftliche Erfolg resultiert möglicherweise daraus, dass es den einzelnen Ländern gelingen muss, sich mit ihren spezifischen Vorteilen in die international aufgestellten Wertschöpfungsketten einzuklinken.
Blog-Beiträge zum Strukturwandel:
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Eine Antwort auf „Re-Industrialisierung in Europa – sieht man schon was?“