BVerfG-Urteil (1)
Luftschlösser der Klimapolitik?

Das BVerfG hat am 29.04.2021 in einer Pressemitteilung festgestellt, “dass die Regelungen des Klimaschutzgesetzes vom 12. Dezember 2019 (Klimaschutzgesetz <KSG>) über die nationalen Klimaschutzziele und die bis zum Jahr 2030 zulässigen Jahresemissionsmengen insofern mit Grundrechten unvereinbar sind, als hinreichende Maßgaben für die weitere Emissionsreduktion ab dem Jahr 2031 fehlen.”

Was die erwarteten Resultate bundesdeutscher staatlicher Maßnahmen anbelangt, kann Unvereinbarkeit mit Grundrechten sinnvoll nur mit Bezug auf das diagnostiziert werden, was im Einflussbereich des deutschen Staates liegt. Insbesondere soweit es um Auswirkungen des Handelns anderer souveräner Staaten auf das Klima geht, dürfen dem deutschen Staat Grundrechtsgefährdungen deshalb nur in dem Rahmen seiner Einflussmöglichkeiten zugrechnet werden. Was die Tatsachen internationaler Politik anbelangt, baut das BVerfG Luftschlösser. Aber beginnen wir vor der eigenen Haustür.

(Un-)verhältnismäßigkeit der AKW-Abschaltung?

Wenn man Treibhausgase als einen Bestand ansieht, der sich in der Atmosphäre dauerhaft akkumuliert — was für CO2 tendenziell zutrifft, nicht jedoch etwa für Methan –, dann ist Unumkehrbarkeit gegeben (jedenfalls solange keine effektiven Technologien zur Rückführung des Bestandes an CO2 existieren). Alle unumkehrbaren Emissionen, die wir in naher Zukunft bis 2030 hinzufügen, verschärfen die Notwendigkeit “für die weitere Emissionsreduktion ab dem Jahr 2031”.

Das BVerfG hat es jedoch nicht als potentiell grundrechtsverletzend bemängelt, dass durch Abschaltung der AKWs vermeidbare Emissionen nicht vermieden werden. Die Abschaltung der bestehenden AKWs wird ohne Zweifel nicht nur vorübergehend (sondern bei Irreversibilität der CO2 Einbringungen) kumulativ zu einem höheren CO2 Bestand führen, der sich vermeiden ließe und damit Lasten für künftige Akteure insoweit verringern würde.

Selbst dann, wenn man die Endlagerung als ein zukünftige Generationen ungebührlich belastendes Problem ansieht, bleibt das zusätzliche Schadensrisiko aufgrund des längeren Betriebes der AKWs vergrößerter Endlager (insbesondere von Plutonium) vernachlässigbar: Ob man 10 t oder 20 t des “Teufelszeugs” bewachen muss, um Missbrauch oder Fahrlässigkeit zu verhindern, ist vom Aufwand her ziemlich gleich. Zudem ist es vom Risiko her auch weitgehend gleichgültig, wieviel an einer Stelle zusätzlich gelagert wird. Auch weit geringere als die bereits heute zu lagernden Mengen könnten riesige Schäden verursachen. Das Grenzschadensrisiko der Endlagerung steigt durch weiteren Betrieb in jedem Falle nur vernachlässigbar an.

Ein weiterer Betrieb der AKWs würde nach der Abwägungs-Logik des BVerfG die Emissionsminderungslasten der nachfolgenden Generationen reduzieren und insoweit zur Abwendung der vom BVerfG gesehenen Gefahren für deren Freiheiten beitragen. Das müsste jedenfalls in eine umfassende Bewertung der Verhältnismäßigkeit eingehen. Täte man dies, könnte eine Pflicht angenommen werden, die AKWs weiter zu betreiben und womöglich sogar für die Zeit nach 2030 neue AKWs zu schaffen.

Das Argument, dass es der Politik überlassen bleiben müsse, die Abschaltung der AKWs zu verfügen, ist zweischneidig, weil es auch auf die Festlegung der Reduktionsgeschwindigkeit der Emissionen Anwendung finden kann. Mit Bezug auf die intergenerationelle Verteilung der Emissionsminderungslasten will das BVerfG aber die Festlegungskompetenz der Politik nicht akzeptieren.

Emissionsminderungslasten

Es geht dem BVerfG allenfalls indirekt um CO2 als Bestandsgröße. Es geht ihm um die Reduktion zukünftiger, den Bestand erhöhender Emissionen. Das BVerfG erinnert zunächst daran, dass das KSG dazu verpflichtet, Treibhausgasemissionen bis zum Jahre 2030 um 55% gegenüber dem Stand des Jahres 1990 zu reduzieren. Es fügt hinzu: “Zwar kann nicht festgestellt werden, dass der Gesetzgeber mit diesen Bestimmungen gegen seine grundrechtlichen Schutzpflichten, die Beschwerdeführenden vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen, oder gegen das Klimaschutzgebot des Art. 20a GG verstoßen hat. Die zum Teil noch sehr jungen Beschwerdeführenden sind durch die angegriffenen Bestimmungen aber in ihren Freiheitsrechten verletzt.” Denn, so heißt es im nächsten Satz: “Die Vorschriften verschieben hohe Emissionsminderungslasten unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030.”

Was in diesem Zusammenhang das Wort “unumkehrbar” bedeutet, ist unklar. Denn, wenn man etwas heute nicht tut, hat man es heute natürlich unumkehrbar nicht getan. Wenn gemeint ist, dass CO2 eine in dem vorangehend erläuterten Sinne nicht rückführbare (bzw. bei heutiger Technologie nicht sinnvoll rückführbare) Bestandsgröße sei, ist das wohl zutreffend, aber die Unumkehrbarkeit betrifft dann den weltweiten CO2 Bestand. Für den Bestand insgesamt sind weder die BRD im allgemeinen noch der Bundesgesetzgeber im besonderen auf eine so maßgebliche Weise verantwortlich, dass eine direkte Zuschreibung kausaler Verantwortung für die qualitativ befürchtete Mangelsituation sinnvoll wäre.

Das BVerfG will aber sowohl eine Grundrechtsverletzung als auch eine Verantwortung des bundesrepublikanischen Gesetzgebers für deren Verursachung konstruieren. Dazu negiert das BVerfG erst einmal die Relevanz der “Tragik der Allmende”, weil frei nach Morgenstern “nicht sein kann, was nicht sein darf”.

BVerfG und die Freifahrer

Das BVerfG stellt in den seinen Urteilen vorausgeschickten Leitsätzen fest: “Der nationalen Klimaschutzverpflichtung steht nicht entgegen, dass der globale Charakter von Klima und Erderwärmung eine Lösung der Probleme des Klimawandels durch einen Staat allein ausschließt. Das Klimaschutzgebot verlangt vom Staat international ausgerichtetes Handeln zum globalen Schutz des Klimas und verpflichtet, im Rahmen internationaler Abstimmung auf Klimaschutz hinzuwirken. Der Staat kann sich seiner Verantwortung nicht durch den Hinweis auf die Treibhausgasemissionen in anderen Staaten entziehen.”

Die drei Sätze der vorangehenden Passage sind formuliert, als handele es sich um Tatsachenbehauptungen. Aber letztlich bringt das BVerfG normative Setzungen zum Ausdruck. Zwar ist es wahr, dass kein Staat allein das Problem des Klimawandels “lösen” kann, doch folgt daraus keineswegs zwingend, dass dies nationalen Klimaschutzverpflichtungen nicht normativ entgegenstehen kann. Die im nächsten Satz angesprochene Verpflichtung ist gewiss recht plausibel, läßt es aber entgegen den offensichtlichen Intentionen des BVerfG zu, die eigene Mitwirkung an die Bedingung der Mitwirkung anderer Staaten zu knüpfen, um dadurch “auf Klimaschutz hinzuwirken”. Der dritte Satz ist schließlich so zu deuten, dass das BVerfG ankündigt, dem Staat bzw. seinen Entscheidungsträgern nicht zu erlauben, die Unterlassung eigener Anstrengungen zum Klimaschutz an die Bedingung zu knüpfen, dass andere Staaten ebenfalls ihre Treibhausgasemissionen reduzieren und im Falle von deren Vergeblichkeit eigene Beiträge aufzugeben.

Die bedingte Strategie, eigene Reduktionen z.B. nach 2030 von der Erfüllung der einschlägigen Verpflichtungen anderer Staaten abhängig zu machen, ist ein naheliegendes Mittel “auf Klimaschutz hinzuwirken” und dadurch der eigenen Verantwortung gerecht werden zu wollen. Das BVerfG trifft selbst die Feststellung: “Gerade weil der Staat das ihm in Art. 20a GG auferlegte Klimaschutzgebot nur in internationalem Zusammenwirken erfolgreich umsetzen kann, darf er für andere Staaten keine Anreize setzen, dieses Zusammenwirken zu unterlaufen.” (Rn 203)

Eine unbedingte Festlegung auf Reduktionen deutschen Ausstosses nach 2030 würde grundsätzlich einen Anreiz für andere Staaten setzen, “das Zusammenwirken zu unterlaufen”. Gerade das vom BVerfG kritisierte Fehlen einer Spezifizierung der weiteren Reduktion des CO2 Ausstosses von 2030 an, würde eine Sanktionsdrohung, Emissionen selbst nicht weiter zu reduzieren, ermöglichen, um so auf internationalen Klimaschutz hinzuwirken. Was noch sinnvoller wäre, ist die vom BVerfG geforderte Spezifizierung von Emissionsreduktionen für die Zeit ab 2031, die aber nur unter der Bedingung wirksam wird, dass bestimmte Ziele der Emissionsreduktion international erreicht wurden.

Will man den komparativen Vorteil der höheren und glaubwürdigeren Selbstbindungsfähigkeit von demokratischen Rechtsstaaten gegenüber Autokratien wirksam nutzen, dann wäre eine solche bedingte Selbstbindung das Mittel der Wahl. Das BVerfG sieht das jedoch anscheinend nicht so. Es setzt auf unbedingte Selbstbindung an die Verfolgung von Klimaschutzzielen im KSG (Rn. 204).

Angesichts der relativen Bedeutungslosigkeit des CO2 Ausstosses der BRD kann man an der Wirksamkeit einer isolierten Drohung der BRD bei der Reduktion der Treibhausgasemissionen nicht weiter mitzuwirken, selbstverständlich zweifeln. Aber eine koordinierte derartige Sanktionsdrohung etwa der demokratischen Rechtsstaaten wäre durchaus signifikant. Die BRD sollte daran mitwirken, diese bedingte Drohung aufrechtzuerhalten und sich gerade nicht unbedingt auf eine Reduktion festlegen.

Gelingt es international nicht, die Emissionen einzudämmen, dann wird die Welt auch nicht am vorbildlichen deutschen Wesen genesen. Isoliert Emissionsminderungslasten auf sich zu nehmen, ist im Falle der BRD mit Bezug auf die Bestandsgröße der Treibhausgase qualitativ folgenunerheblich. Grundsätzlich kann es nicht verhältnismäßig sein, den Bürgern der BRD überhaupt Emissionsminderungslasten zuzumuten, wenn dies vergeblich ist. Das BVerfG baut Luftschlösser, wenn es das internationale Freifahrerproblem in seinen konsequentialistischen Verhältnismäßigkeitserwägungen ignoriert..

Konsequentialistische Verhältnismäßigkeit

Nehmen wir an, dass die internationale Politik den Aufwuchs des CO2 Bestandes tatsächlich eingrenzen kann (optimistisch in internationaler Analogie zu Ostrom 1990). Nur unter dieser Voraussetzung ist es konsequentialistisch angemessen, dass der Gesetzgeber der BRD überhaupt Emissionsminderungslasten auf jetzige und künftige Generationen von BRD Bürgern verteilt. Denn nur dann kann die heutige Generation von BRD Bürgern späteren Generationen von BRD Bürgern Emissionsminderungslasten aufbürden, die nicht von vornherein vergeblich, sondern ein fairer Beitrag zur Erreichung kollektiver Ziele sind.

Das BVerfG ist offensichtlich der Auffassung, dass die Einschränkungen, die sich für künftige Generationen ergeben werden, eine dramatisch andere, dadurch letztlich grundrechtsgefärdende Qualität annehmen werden, die sie heute noch nicht aufweisen. In den den Urteilen vorangestellten Leitsätzen stellt es dazu fest: “Auch der objektivrechtliche Schutzauftrag des Art. 20a GG schließt die Notwendigkeit ein, mit den natürlichen Lebensgrundlagen so sorgsam umzugehen und sie der Nachwelt in solchem Zustand zu hinterlassen, dass nachfolgende Generationen diese nicht nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit weiter bewahren könnten.”

Dass Gefahren für die Freiheit durch katastrophalen Mangel von Handlungsmöglichkeiten in allen Lebensbereichen eintreten, ist natürlich möglich und vielleicht sogar wahrscheinlich. Das BVerfG macht aber nicht deutlich, wie die in der Zukunft von ihm erwarteten fundamentalen Einschränkungen durch “hinreichende Maßgaben für die weitere Emissionsreduktion ab dem Jahr 2031” verhindert werden könnten. Es trägt weder der Möglichkeit einer Vergeblichkeit der Bemühungen der BRD, die sich aufgrund der außerhalb der bundesrepublikanischen Kontrolle liegenden internationalen Emissionen ergeben könnte, noch der möglichen Einflussnahme durch bedingte Bindungen angemessen Rechnung. Für die Zeit nach 2030 weitere Reduktionen des eigenen CO2 Ausstosses von hinreichender globaler “compliance” abhängig zu machen, wäre jedenfalls wirksamer und gegenüber den eigenen Bürgern fairer, als der gutgemeinte Bau von Luftschlössern.

Im übrigen gilt: “In proportion to the want of happiness resulting from the want of rights, a reason exists for wishing that there were such things as rights. But reasons for wishing there were such things as rights, are not rights; — a reason for wishing that a certain right were established, is not that right — want is not supply — hunger is not bread.“ Jeremy Bentham, Anarchical Fallacies, vol. 2 of Bowring (ed.), Works, 1843, Article 2

Referenzen

BVerfG

Pressemitteilung

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/bvg21-031.html

Urteil und Leitsätze

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2021/03/rs20210324_1bvr265618.html

Andere Referenzen

Ostrom, Elinor. 1990. Governing the Commons. New York: Cambridge University Press.

Hartmut Kliemt
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5 Antworten auf „BVerfG-Urteil (1)
Luftschlösser der Klimapolitik?“

  1. Ich verstehe die Begründung des Bundesverfassungsgerichts nicht: Wenn eine 2/3-Mehrheit den Art. 20a GG wieder abschaffen kann, besteht gar keine „unumkehrbar angelegte rechtliche Gefährdung künftiger Freiheit“.

    Unsere Lebensgrundlagen sind doch eher künstlich (Stichwort: Vertical-Farming) als natürlich. Und mit einem viel höheren Bruttosozialprodukt lassen sich Klimaschäden locker wegstecken: https://parabellum.minimalstaat.de/content/kommenden-generationen-droht-arbeitsfreier-freitag

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