Finanzielle Repression – (Geld-)Politik im Interesse der europäischen Krisenstaaten?

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat in den zurückliegenden Monaten in großem Umfang Geld geschaffen und mit ihrer Ankündigung, im Krisenfall unbegrenzt Staatsanleihen mit einer Laufzeit von bis zu drei Jahren zu kaufen, ein weiteres erhebliches Geldschöpfungspotential in Aussicht gestellt. Ein Teil der beiden „dicken Bertas“ vom Dezember 2011 und März 2012 floss vermutlich wiederum von den Banken in Staatsanleihen der Krisenländer. Dabei sind es insbesondere die Banken in den Peripherieländern, die Anleihen des heimischen Staates aufkauften. Ein weiterer Teil des geschaffenen Geldes wird von den Banken bei der EZB selbst gehalten. Daran hat auch die Reduktion des Einlagenzinses auf null Prozent im Juli 2012 nichts geändert. Die Beträge in der Einlagenfazilität sind zwar, wie Abbildung 1 zeigt, als Folge dieser Maßnahme deutlich gesunken – allerdings nur zu Gunsten der Überschussreserven bei der EZB, die ebenfalls nicht verzinst werden. Die Banken schenken sich also nur die „Umbuchung“ von einem Konto auf ein anderes bei der EZB, was nur so lange einen Sinn machte, wie die Einlagenfazilität einen höheren Zins erbrachte als die Überschussreserve. Der Interbankenmarkt hingegen wurde durch diese Maßnahme bisher nicht angekurbelt.

Bankeinlagen
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In dem Maße, wie die EZB Staatsanleihen der Krisenländer kauft, werden die Geldbasis und damit das Inflationspotenzial jedoch weiter ausgeweitet. Daran ändert auch die Ankündigung der EZB nichts, entsprechende expansive Impulse durch sterilisierende Aktionen wieder zu kompensieren. Mit zunehmendem Umfang wird dies weder in vollem Umfang noch auf Dauer möglich sein.

Das angekündigte Programm der EZB [Outright Monetary Transactions (OMT)] soll allerdings nur solchen Staaten zur Verfügung stehen, die sich einem Rettungsprogramm „unterwerfen“ und entsprechende Auflagen akzeptieren. Durch diese Verknüpfung rückt das Programm zugleich immer weiter weg von der Geldpolitik und nähert sich immer mehr der Fiskalpolitik. Die Erfahrungen lehren darüber hinaus, dass es höchst zweifelhaft ist, dass man im vermeintlichen Krisenfall wirklich auf Auflagen besteht. Es ist vielmehr damit zu rechnen, dass – auch von politischer Seite – die Interventionen der EZB bereitwillig akzeptiert werden. Auf diese Weise schiebt man den „schwarzen Peter“ an die EZB weiter weil man selbst keine (neuen) Gelder bereitstellen muss, die einer (weiteren) Zustimmung der Parlamente bedürfen.

So hat die EZB bereits angekündigt, Anleihen Irlands und Portugals kaufen zu wollen, wenn es diesen Ländern nicht gelingen sollte, sich in Zukunft wieder am privaten Kapitalmarkt (zu „angemessenen“ Zinsen) refinanzieren zu können. Dieses Problem könnte insbesondere im Falle Portugals auftreten, das gegenwärtig für zehnjährige Staatsanleihen einen Zins von etwas über neun Prozent am Markt zahlen muss. Spaniens Regierung pokert hingegen und hofft auf ein bedingungsloses Eingreifen der EZB. In all diesen Fällen wird aber der Zins-Druck der Märkte auf die Schuldnerländer reduziert oder ganz von ihnen genommen. Dabei ist es unerheblich, ob verbindliche Zinsobergrenzen festgesetzt werden, oder die EZB von Fall zu Fall über Interventionen entscheidet. Ferner ist damit zu rechnen, dass sich die Struktur der Staatsanleihen der Krisenländer verändern wird – und zwar zu Gunsten von Laufzeiten bis zu drei Jahren und zu Lasten längerer Laufzeiten, da kurz laufende Anleihen (problemlos) bei der EZB abgesetzt werden können.

Die EZB selbst begründet(e) ihren Ankauf von Staatsanleihen (bisher) mit Funktionsstörungen der Geldpolitik. Als „wahres“ Motiv für die (geplante, noch größere) Geldschwemme wird hingegen vermutet, dass die EZB die Zinsen unter die Inflationsrate drücken will, um auf diese Weise die staatlichen Schulden über negative (ex post) Realzinsen zu reduzieren. Diese Strategie bezeichnet man auch als „financial repression“.[1] Gewinner einer solchen Strategie ist der Staat. Reinhart und Sbrancia[2] fassen diese Überlegungen wie folgt zusammen: „Low nominal interest rates help reduce debt servicing costs while a high incidence of negative real interest rates liquidates or erodes the real value of government debt.“ Negative Realzinsen implizieren dabei, dass die (aktuelle) Inflationsrate den nominalen Zinssatz übersteigt. Vor dem Hintergrund der dynamischen Budgetrestriktion des Staates, die folgende Gleichung zeigt, wird deutlich, dass sinkende Nominalzinsen den Durchschnittszinssatz (z) senken, während durch die Inflation das nominale Wirtschaftswachstum (x) steigt. Diese beiden Effekte vermindern – unter sonst gleichen Bedingungen – den zweiten Ausdruck auf der rechten Seite der Gleichung und wirken damit dämpfend auf die Neuverschuldungsquote (Γb).

Neuverschuldungsquote
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Negative Realzinsen erleichtern somit die Reduktion bzw. verlangsamen den Anstieg der Schuldenstandsquote (b). Ob die Neuverschuldungsquote negativ wird und damit die Schuldenstandsquote absolut sinkt oder „nur“ deren Anstieg gebremst wird (bei positiver aber sinkender Neuverschuldungsquote), hängt ab vom Zusammenspiel des zuvor erläuterten Effekts mit der Primärungleichgewichtsquote – also dem ersten Klammerausdruck auf der rechten Gleichungsseite. Gleichung (1) macht aber auch deutlich, dass sich durch Inflation primär die Altschulden reduzieren lassen, während neue Schulden nur so lange von diesem Effekt profitieren, wie die Wirtschaftssubjekte die künftige Inflationsrate bei ihrer Erwartungsbildung unterschätzen.

Gegenwärtig sind negative Realzinsen jedoch nur in Deutschland zu beobachten. Deflationiert man die Renditen deutscher Staatsanleihen mit der aktuellen Inflationsrate Deutschlands, dann erbringen selbst zehnjährige Staatsanleihen seit einiger Zeit negative Realzinsen. Kürzer laufende deutsche Staatsanleihen wiesen sogar schon negative Nominalzinsen auf. Somit wäre Deutschland gegenwärtig das einzige Land, das in den Genuss beider Effekte (sinkende Nominalzinsen und negative Realzinsen) käme. Doch gerade Deutschland benötigt diese Art der Unterstützung am wenigsten. Aktuelle Krisenländer wie Spanien und Italien würden gleichwohl in erheblichem Umfang von niedrigen Nominalzinsen und höherer Inflation profitieren, auch wenn der Realzins (noch) nicht negativ ist. Keine Bedeutung haben die nominalen Marktzinsen gegenwärtig jedoch für die „Programmländer“ Griechenland, Irland und Portugal, da sie durch staatliche Hilfen zu Zinsen (weit) unter deren Marktzinsen finanziert werden. Sinkende Nominalzinsen an den Märkten könnten aber die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass sich diese Länder in Zukunft wieder an den privaten Kapitalmärkten – zu tragfähigen Zinsen – (re-)finanzieren können. Eine höhere Inflation in Deutschland im Verhältnis zu den Krisenländern könnte ferner in deren Interesse liegen, da der deutsche Wettbewerbsvorteil auf diese Weise abgebaut würde.

Für die Zinsentwicklung in Deutschland sind insbesondere zwei Gründe verantwortlich: Zum einen führt die Suche nach einem „sicheren (Anlage-)Hafen“ zu hoher Nachfrage nach deutschen Staatsanleihen und damit zu sinkenden Renditen. Auf der anderen Seite verhindert der Liquiditätseffekt eines immer weiter zunehmenden Geldangebots (zunächst), dass – wie Abbildung 2 zeigt – die Zinsen (insbesondere am langen Ende) nicht wieder steigen. Ohne die diversen Krisen seit Herbst 2008 wäre die Rendite deutscher Staatsanleihen mithin deutlich höher. Die französische Investmentbank NATIXI[3] hat für verschiedene Länder die Differenz zwischen der „normalen“ und der aktuellen Rendite von Staatsanleihen und den daraus resultierenden Vorteil für den Staat im Jahre 2012 ermittelt. Danach profitiert der deutsche Staat mit immerhin 36 Milliarden US-Dollar (etwa ein Prozent des BIP). Die USA sind der größte Gewinner und kommen in diesem Jahr auf eine Ersparnis von fast 390 Milliarden US-Dollar, was etwa 2,5 Prozent des BIP entspricht. Großbritannien spart in diesem Jahr rund 32 Milliarden US-Dollar (1,3 Prozent des BIP) und Frankreich 11 Milliarden US-Dollar (0,4 Prozent des BIP).

expansive Geldpolitik
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Die „Leidtragenden“ dieser Politik sind hingegen diejenigen Gläubiger, die ihr Geld in (deutschen) Staatsanleihen investiert haben. Sie trifft die finanzielle Repression wie eine Steuer. In manchen Zeitungsartikeln wird auch von „Enteignung der Sparer“ gesprochen. Finanzielle Repression kann aber nur dann wirken, wenn den Anlegern keine Ausweichmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Für Staatsanleihen trifft dies weitgehend zu, weil fast alle großen Notenbanken weltweit eine ähnlich expansive oder gar noch laxere Geldpolitik als die EZB betreiben. Hinzu kommt, dass manche institutionellen Anleger aufgrund von Regulierungsvorschriften auf Staatsanleihen einer bestimmten Güte als Anlageinstrumente beschränkt sind. Anderenfalls blieben etwa Aktien als Ausweichmöglichkeit. Die finanzielle Repression führt ferner dazu, dass es zu einer Fehlallokation des Kapitals kommt und die verminderten Kapitalerträge könnten die private Nachfrage mindern. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass die immer weiter zunehmende Liquidität und der zinsbedingte Verschuldungsanreiz – ähnlich wie im Vorfeld der Subprimekrise – zu einer verstärkten Blasenbildung in den verschiedensten Bereichen der Volkswirtschaften führt.[4]

„Financial repression“ wird jedoch nicht nur durch geldpolitisch bedingte niedrige Zinsen ausgelöst, sondern auch durch staatliche Regulierungen,  die private Ersparnisse in übermäßiger Weise in die Finanzierung staatlicher Defizite lenken. Hierzu gehört zweifelsfrei die Privilegierung von (europäischen) Staatsanleihen im Rahmen der Banken- (Basel II und III) und Versicherungsregulierung (Solvency II). In beiden Fällen brauchen institutionelle Anleger von ihnen gehaltene Staatsanleihen nicht mit entsprechendem Eigenkapital zu unterlegen, um Risikovorsorge zu betreiben – angeblich, weil Staatsanleihen ach so sicher sind. Verstärkt wird dieser Effekt noch durch die andauernde Akzeptanz von Staatsanleihen der Krisenländer als „Sicherheiten“ durch die EZB im Rahmen ihrer geldpolitischen Aktionen. Mancher Politiker argumentiert sogar, die Rettung der Krisenländer wäre notwendig, um das Vertrauen in die Staatsanleihen wieder herzustellen und damit die Eigenkapitalprivilegierung zu rechtfertigen. Realitätsnäher wäre es hingegen, in beide Regulierungsvorschriften eine mit dem entsprechenden Risiko gewichtete Eigenkapitalunterlegung von Staatsanleihen einzuführen – eine Maßnahme, die aufgrund der relativ langen Übergangszeiten auch für die Banken und Versicherungen ohne größere Probleme umzusetzen wäre. Bis dahin greift allerdings die finanzielle Repression über die zuvor beschriebenen Kanäle.

Fußnoten

[1] Der Ausdruck wurde im Zusammenhang mit den Bedingungen an Finanzmärkten in Entwicklungsländern von McKinnon (Money and Capital in Economic Development, Washington D.C., 1973) und Shaw (Financial Deepening in Economic Development, New York 1973) geprägt.

[2] Reinhart, C. und B. Sbrancia, The Liquidation of Government Debt, NBER Working Paper 16893, März 2011, Abstract.

[3] Vgl. NATIXIS: Financial repression is a tax that should be taken into account to calculate the real level of the tax burden. August 2012. Abrufbar hier.

[4] Vgl. hierzu etwa Schnabl, G., Schleichende Verstaatlichung als Folge der Geldpolitik, Neue Zürcher Zeitung vom 23. 8. 2012, S. 12.

3 Antworten auf „Finanzielle Repression – (Geld-)Politik im Interesse der europäischen Krisenstaaten?“

  1. Was sind die Alternativen zur Politik finanzieller Repression und einer Ausweitung der Geldmenge, um einem wirtschaftlichen Abschwung und Deflation entgegenzuwirken? Die Zentralbank könnte direkt risikoreichere Anleihen des Privatsektors kaufen und damit die Problematik teilweise unfunktionaler Banken umgehen. Auf diese Art und Weise würde die Zinsstruktur nicht so stark zugunsten vermeintlich „sicherer“ Anleihen verzerrt wie es im Moment der Fall ist. Problematisch wäre dies möglicherweise vor dem Hintergrund der geringeren Liquidität dieser Anleihen und der mangelnden Kompetenz der Zentralbank diese auszwählen.
    Eine andere Möglichkeit wäre, die steigende private Nachfrage nach sicheren Anleihen über Besteuerung zu reduzieren, damit die Güternachfrage zu steigern und höhere Zinsen zu ermöglichen. Denkbar wäre hierbei eine Vermögens- oder Erbschaftssteuer und eine Umverteilung zugunsten von Bevölkerungsschichten, die eine höhere Konsumneigung aufweisen. Alternativ könnten auch staatliche Investitionen in Bildung, Infrastruktur erfolgen.

  2. sollte die politik vielleicht doch endlich mal den mut aufbringen, und die fehler der vergangenheit (euro-einführung) zugeben? soweit wird es wohl nicht kommen…nötig erscheint dennoch, 2 schritte zurück zu machen, um wieder 3 nach vorne machen zu können. wohlstandsverluste scheinen dabei unvermeidlich.

    ob wir überhaupt inflation > 2,5% p.a. sehen werden, bleibt abzuwarten. wenn das derzeitige system kollabieren sollte, wohl eher nicht. zudem haben die protagonisten von EZB & Co. wohl auch kein interesse daran, ihre eigenen vermögenswerte wegzuinflationieren.

    ob dabei aktien oder aktienfonds inflationsschutz bieten – wie von vielen banken behauptet – wage ich zudem anzuzweifeln. wenn bspw. bei 5% inflation p.a. nach 10 jahren mit ca. 50% geldentwertung zu buche schlagen, kann einem niemand verbindlich zusagen, dass auch der aktienmarkt um mind. 50% höher notiert.

    alles hat ein ende, nur die wurst hat zwei…

  3. Also ich würde schon davon ausgehen, dass der Aktienmarkt eine inflationäre Entwicklung größtenteils kompensieren würde. Allerdings stellt sich die Frage nach der Besteuerung der fiktiven Kapitalerträge, die damit einhergehen, welche eigentlich einen Inflationsausgleich darstellen. Selbstgenutzte Immobilien wären da eine sicherere Anlage. Da sie nicht veräußert werden, bleibt der Kapitalertrag steuerfrei und sie können mit einem nahezu realzins-freien Darlehen finanziert werden, was im Falle einer Inflation noch stärker entwertet wird. Bei näherem Interesse können sie mit einem Klick auf meinen Namen (verlinkter Blog) mehr erfahren.

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