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Paul Kirchhof: Deutschland im Schuldensog

Bücher zur Staatsschuldenkrise gibt es mittlerweile reichlich. Meist haben sie eine kurze Halbwertszeit, weil neue unliebsame Fakten andere Realitäten schaffen oder einflussreiche Institutionen und Personen folgenreiche Entscheidungen fällen. Das neueste Buch des Steuerrechtlers Paul Kirchhof dürfte hingegen so schnell nichts von seiner Aktualität verlieren. In „Deutschland im Schuldensog“ wird die Krise der Europäischen Währungsunion juristisch aufgearbeitet, ohne den Blick auf ökonomische Zusammenhänge zu verlieren.

Die Hauptursache für die Schuldenkrise sieht Kirchhof in der fortwährenden Rechtsverletzung. Er bezeichnet die staatlichen Fehlbeträge grundrechtlich als „Provokation“ (S. 167). Die offenen Schulden seien durch eine stetige Verletzung des deutschen Verfassungsrechts entstanden. „Wären die Vorgaben des Grundgesetzes befolgt worden, gäbe es die Schuldenkrise in Deutschland nicht“ (S. 65). Ende der 1960er Jahre wurde die antizyklische Budgetpolitik gesetzlich verankert. In schlechten Zeiten sollte der Staat die Konjunktur auf Pump stützen und, soweit die Theorie, die Kredite in Jahren mit sprudelnden Steuereinnahmen zurückzahlen. „Die Politik hat aber in einer Art `Dauerrechtsverletzung“˜ diese Vorgaben missachtet, weil auch in Zeiten guter Konjunktur keine Kredite zurückgezahlt wurden“ (S. 33 f.), schreibt Kirchhof.

Rücktritt wegen acht Milliarden Euro neuer Schulden

Im Mai 1971 trat der damalige Finanzminister Alex Möller (SPD) zurück, weil er einen Anstieg der deutschen Gesamtschulden von rund 72 auf knapp 80 Milliarden Euro nicht verantworten wollte. Wenn die Nachfolger Möllers in den folgenden Jahrzehnten im Durchschnitt jährlich nicht mehr als diese acht Milliarden Euro an neuen Schulden aufgenommen hätte, wäre Deutschland heute der große Musterknabe. Tatsächlich beträgt alleine der explizite Schuldenstand mittlerweile über zwei Billionen Euro, was knapp 25.000 Euro je Einwohner bedeutet.

Deutschland ist damit in der EU im Mittelfeld. Länder wie Griechenland, Italien und Irland müssen höhere Pro-Kopf-Schuldendienste tragen; Spanien, Portugal und Frankreich haben eine geringere Pro-Kopf-Verschuldung. Die Zinsverpflichtungen betrugen 2010 in Deutschland trotz des niedrigen Zinsniveaus 64,6 Milliarden Euro und waren damit – nach Arbeit und Soziales – der zweitgrößte Posten im Bundeshaushalt.

Die Feudalherrschaft der Rettungsschirme

Deutschland und die anderen EU-Staaten haben nicht nur nationale, sondern auch europäische Schuldenhürden gerissen. Wer sich diese fortlaufenden Rechtsverstöße bei den Schuldengrenzen vor Augen hält, darf sich eigentlich nicht wundern, dass es die EU-Staaten auch bei der Bekämpfung des überbordenden Staatsdefizits nicht so genau nehmen. So schreibt Kirchhof: „Die Rettungsschirme kombinieren – ähnlich einer modernen Art der Feudalherrschaft – Wirkungen der Freiheitsrechte und der Sozialisierung“ (S. 39). Als das Buch im August erschienen ist, waren diese noch vorübergehender Natur. Mittlerweile ist der Europäische Stabilitätsmechanismus als dauerhafter Rettungsmechanismus fest installiert.

Kirchhof verurteilt Staatshilfe ohne Gegenseitigkeit aufs Schärfste: „Wenn der deutsche Staat in Rettungsschirmen und Gewährleistungsversprechen gegenwärtige oder zukünftige Haushaltsmittel einsetzt, um andere Staaten oder Unternehmen zu stützen, so verändert er die Wirkungen privatwirtschaftlichen Erwerbs, staatlicher Besteuerung und staatlicher Budgetpolitik grundlegend (S.157). […] Staatliches Handeln ist ursprünglich auf rechtliches Regeln, nicht auf Gegenseitigkeit angelegt. Der Staat handelt einseitig – hoheitlich, nicht wie Vertragsparteien im gegenseitigen Entgegenkommen unter gleichmächtigen Partnern“ (S. 160).

Rechtsbruch gestern! Rechtsbruch heute! Rechtsbruch morgen? Für die Zukunft besteht noch Hoffnung. Der Süden Europas reformiert nach Kräften, der Norden übt sich als Vorbild. „Die Neuverschuldung ist nunmehr – erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte – grundsätzlich verboten (S. 93)“, schreibt Kirchhof. Diesem Gebot entspreche der Bund – so die ausdrückliche Regelung – wenn die Einnahmen aus Krediten 0,35 Prozent im Verhältnis zum nominalen BIP nicht überschreite. Für Länder gilt ab 2020 sogar ein Nullneuverschuldungs-Gebot. Auch auf europäischer Ebene haben sich die Staaten – mit Ausnahme von Großbritannien und Tschechien – im Fiskalpakt unter anderem zu einem materiellen Haushaltsausgleich verpflichtet.

Staatsschuldenkrise ist kein historisch einzigartiges Ereignis

Ein „konzeptionelles Sparen“, wie Kirchhof sein Rezept nennt, dürfte für dieses hehre Ziele alleine nicht reichen. Die massive Rückführung der Schulden ohne Sondermaßnahmen scheint ein beinahe unmögliches Unterfangen. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter empfiehlt für den Patienten Deutschland den zweckgebundenen Einsatz des Solidaritätszuschlages zur Schuldentilgung. Zudem schlägt der Steuerrechtler eine substanzielle Finanztransaktionssteuer vor. Kirchhof zieht auch eine einmalige Vermögensabgabe in Erwägung, kommt letztlich jedoch zu dem Schluss, dass die Staatsschuldenkrise kein historisch einzigartiges Ereignis sei, das eine einmalige Vermögensabgabe rechtfertige, sondern eine langfristige Verfassungsverletzung, die eine Rückkehr in die Verfassungslegalität fordere (S. 185).

Anders verhält es sich bei der Erbschaft- und Schenkungssteuer, die, so schreibt Kirchhof, sich rechtfertige, weil die Rechtsgemeinschaft einen wesentlichen Anteil an dem ererbten oder geschenkten Zuwachs an Leistungsfähigkeit habe. „Die staatliche Garantie von Sicherheit und Ordnung, von innerem und äußerem Frieden gewährleistet, dass der Erbe seine Erbschaft unbekümmert entgegennehmen und langfristig nutzen kann“ (S. 196). Kirchhofs Gang durch den deutschen Steuer- und Subventionswald ist interessant und reich an Argumenten.

Dies gilt weniger, auch das sollte nicht unerwähnt bleiben, für die doch sehr pauschale Kritik an den „anonymen Mächten des Finanzmarktes“, die sich durch das gesamte Buch hindurchzieht. An diesen Stellen fehlen jeweils die Diagnose-Therapie-Ansätze. Die Anonymität kann den (Finanz-)Märkten jedenfalls nicht zur Last gelegt werden. Denn die unsichtbare Hand ist eine wesentliche Voraussetzung für effiziente Märkte. Es bedarf in diesem Zusammenhang eigentlich keiner besonderen Erwähnung, dass bislang noch keiner zum Schuldenmachen gezwungen wurde.

Hinweis: Deutschland im Schuldensog – Der Weg vom Bürgen zurück zum Bürger von Prof. Paul Kirchhof ist beim C.H. Beck-Verlag in München erschienen.

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