Bei allen Unstetigkeiten der internationalen Wirtschaftspolitik in der Bekämpfung der Verschuldungskrise hat sich immerhin ein gemeinsames Muster im Zeitverlauf als so stabil erwiesen, dass die meisten Kapitalmarktexperten es mittlerweile zum offenkundigen Hauptinstrument gekürt haben: Praktisch alle großen Notenbanken fahren eine Politik des leichten Geldes mit so großem Nachdruck und in so vielen Facetten, dass das Zinsniveau von Staatsanleihen über praktisch alle Laufzeiten deutlich gedrückt wird. Bei den als noch halbwegs „sicher“ geltenden Staaten wird damit oft sogar bei zehnjährigen Anleihen ein negativer Realzins generiert – wohlgemerkt vor einer Kapitalbesteuerung hinsichtlich Ertrag und Substanz, die zur weiteren Sanierung der öffentlichen Haushalte auch noch erhöht bzw. eingeführt werden soll. Im Ergebnis wird jedenfalls die Schuldenlast real entwertet und der Quotient zwischen Staatsverschuldung und BIP verbessert sich sowohl durch den negativen Realzins als auch das reale Wachstum, das zudem noch vom niedrigen Zinsniveau profitieren soll.
Dieses Vorgehen ist keineswegs neu. Nach dem 2. Weltkrieg wurde es insbesondere von den USA langfristig eingesetzt und später von den Ökonomen Edward S. Shaw und Ronald I. McKinnon mit dem bis heute gebräuchlichen Titel „Financial Repression“ bezeichnet. Neben dem beschriebenen ökonomischen Basiseffekt erscheint dieses Instrument auch deshalb attraktiv, weil es in seiner indirekten Wirkung schlechter durchschaut wird und zudem von der Notenbank zu verantworten ist – mit anderen Worten: Die Politik muss keine wählerunfreundlichen Grausamkeiten in Gang setzen. Außerdem haben die Inhaber von Buchforderungen in den letzten Jahrzehnten tendenziell recht gut abgeschnitten und geben mit die Sondersteuer in Form einer schleichenden Enteignung halt nur einen Teil ihrer Performance wieder ab. Und überhaupt: Andere Alternativen, sofern überhaupt vorhanden, weisen wohl noch größere Probleme auf.
Als größtes Problem der Financial Repression gilt jedenfalls die Kontrollierbarkeit der Inflation, die bei jeder Form von Geldschwemme immer als Menetekel an der Wand steht. Immerhin ist es den großen Notenbanken, die Spielarten von Financial Repression seit den fünfziger Jahren angewandt haben, bislang gelungen, das Niveau der Inflation deutlich unterhalb einschlägiger Schreckensszenarien einzubremsen. Man könnte also einigermaßen zuversichtlich sein, dass es auch diesmal bei überschaubaren Geldentwertungseffekten bleibt und es spricht sogar einiges dafür, dass das Inflationsniveau für die Financial Repression weniger bedeutsam ist als sonst: Gerade in der aktuellen Situation entsteht die gewünschte Wirkung ja nicht über höhere Inflationsraten, sondern historisch einmalig niedrige Nominalzinsen.
Da es in der Ökonomie keinen Free Lunch gibt, tut man gut daran, nach den dadurch bedingten Gefahren zu suchen. Sie werden schon länger durch das Lamentieren der Lebensversicherungen adressiert, die sich kaum instande sehen, ihren Neukunden halbwegs attraktive Verzinsungen zu garantieren, bzw. Schwierigkeiten bei der Einhaltung bestehender Verzinsungsgarantien befürchten. Probleme eines, wenngleich wichtigen, Vorsorgeinstruments wie der Kapitallebensversicherung wären angesichts der positiven Wirkungen von Financial Repression nun gut hinzunehmen, wenn sie nicht symptomatisch für den gesamten Finanzsektor wären. Genau dies ist aber der Fall.
In der letzten Aprildekade wurden denn auch aus allen Bereichen des deutschen Bankensystems Vorbehalte gegenüber der Niedrigzinspolitik geäußert und erste negative Effekte auf die Ertragszahlen berichtet. Dies mag auf den ersten Blick überraschen, denn da die Banken nicht nur bei den Kreditzinsen belastet, sondern auch bei den Einlagenzinsen entlastet werden, erscheint der Nettoeffekt eher bescheiden. Auf den zweiten Blick erkennt man aber, dass dies trügt: Neben der geringeren Verzinsung des Eigenkapitals, die bei sinkenden Zinsen stets eintritt, kommt es zu einem spezifischen Niveaueffekt, weil die Einlagenzinsen nicht unter bestimmte Schwellen abgesenkt werden können, ohne einen weitgehenden Abzug der Sparer zu riskieren. In der Konsequenz lagen bzw. liegen Einlagenzinsen in der jüngeren Vergangenheit bis heute oft über den Refinanzierungssätzen bei der EZB; vgl. hierzu bereits http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=9899. Damit wird die sogenannte Passivmarge der Bank de facto eliminiert bzw. sogar negativ. Da die Aktivmarge aber nicht steigt (wie sollte sie auch, wenn EZB und Politik darauf drängen, dass das billige Geld über Kredite in der Realwirtschaft ankommen soll; vgl. ebd.) und die Fristentransformation erschwert wird; vgl. http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=11485, fällt die gesamte Zinsmarge, die das wirtschaftliche Rückgrat kleiner bis mittlerer Geschäftsbanken hierzulande darstellt, zwangsläufig unter langfristig durchhaltbare Mindestwerte.
Der Preis, der bei niedrigen Inflationsraten für Financial Repression zu zahlen ist, liegt also in einer mittel- bis langfristigen Auszehrung des Finanzsektors, genau genommen desjenigen Teils dieses Sektors, der auf eine hinreichende Zinsspanne angewiesen ist. Dazu gehören insbesondere die meisten Banken, welche die Krise ohne Staatshilfe überwunden haben und die wichtigsten Finanzpartner für Privatanleger und mittelständische Kreditnehmer sind. Sollen sie nicht mittel- bis langfristig die Opfer zwangsverordneter Niedrigzinsen werden, müsste c.p. die Inflationsrate zumindest so weit steigen, dass bei paralleler Steigerung der Nominalzinsen auskömmliche Margen zu erzielen sind.
Das „Niveauproblem“ ist also zweiseitig und entsprechend noch schwerer zu lösen als bislang mit Blick auf drohende Hyperinflationen diskutiert. Umso spannender bleibt die Frage, wie nicht nur, aber auch nicht zuletzt die EZB es lösen wird.
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Eine Antwort auf „Inflation versus Gefährdung des Finanzsektors
Das zweiseitige Niveauproblem der Financial Repression“