Verantwortungs-Verluste

Die Frage, was Verantwortung sei, können wir in Anlehnung an den Heiligen Augustinus, mit dem Stoßseufzer beantworten: „Wenn du mich nicht fragst, dann weiß ich es, fragst du mich aber, so weiß ich es nicht!“

Verantwortung ist einer jener alltäglichen Begriffe, die wir mit großer Selbstverständlichkeit benutzen, ohne genau sagen zu können, was wir denn eigentlich genau meinen. Wir fühlen uns für alles Mögliche verantwortlich und wir machen andere für alles Mögliche verantwortlich. Manche dieser Verantwortungszuschreibungen sind erkennbar absurd, manche werden jedoch in ihrer Absurdität nicht erkannt und entfalten dann gern auch absurde politische Wirkungen.

Bürger-Verantwortung

Politiker erzählen uns, dass „wir“ für die Geschehnisse in einem großen Staat verantwortlich seien. Die Absurdität wird erkennbar, wenn sie es fertig bringen, auf Plakaten mit dem Slogan zu werben: „Auf jede Stimme kommt es an!“  In einer Welt, in der das einzelne Individuum insignifikant ist, kommt es eben nicht auf jede Stimme an. Es stimmt zwar, dass „wir“ abgestimmt haben, doch keiner von uns hat das kollektiv entstehende Ergebnis im engeren Sinne „gewählt“.  Der Wähler, der den Bundeskanzler oder in unserem Falle die Bundeskanzlerin wählt, vollzieht eigentlich nur die Handlung, sein Kreuz an einer bestimmten Stelle auf dem Wahlzettel zu machen. Der Wähler hat die obsiegende Person nicht so ausgewählt, wie eine Praline von ihm mit einem Handgriff aus einem Kasten ausgewählt und aus dem Kasten herausgenommen wird. Der Wähler darf deshalb fairerweise auch für die Wahl der Kanzlerin nicht so verantwortlich gemacht werden wie für die Auswahl einer bestimmten Praline (Auch nicht im Falle der Pralinensorte „sweet mutti“!).

Es ist nicht ganz leicht, zu unterscheiden zwischen einer „guten“  und einer „verantwortlichen“ Handlung. Das Prädikat „verantwortlich“ ist weitgehend zu einem Ausdruck allgemeiner Akklamation verkommen. Man benutzt es als eine Art Gütestempel, um den eigenen Beifall auszudrücken. Das Wort unverantwortlich dient entsprechend dazu, das Missfallen auszudrücken. Daran ist zunächst nichts Bedenkliches. Es entspricht in einer lebenden Sprache dem Lauf der Dinge,  dass bestimmte Begriffe nur im Kontext ihrer Verwendung und mit Bezug auf den Sprecher selber ihre volle Bedeutung erhalten. Die Worte, die wir verwenden, beschreiben jedoch nicht nur die Realität, sondern sind selber wesentlicher Bestandteil unserer sozialen Realität. Insbesondere Politik wird mit Worten gemacht. Und der Verantwortungsbegriff spielt in diesem Zusammenhang eine häufig unheilvolle Rolle, die man nicht unterschätzen sollte.

Wer etwa in der Öffentlichkeit nach mehr Verantwortung ruft oder den Niedergang des Verantwortungsbewußtseins beklagt, der kann auf Beifall rechnen.  Jedermann wird andere gern dafür verantwortlich machen, das zu tun, was er selbst gerne getan sehen möchte. Unterschwellig nimmt er in Anspruch, dass gerade seine Sicht auf die Dinge die moralisch verbindliche sei. Eigentlich ruft er aber nur mir nach!

Die zu Grunde liegende Auffassung, dass es doch eigentlich klar sei, wohin die Reise zu gehen habe und dass der Reisende zur Rechenschaft zu ziehen ist, wenn er vom Weg abweicht,  setzt unterschwellig eine Einmütigkeit voraus, die in moralischen Angelegenheiten überhaupt nicht besteht. Die einen machen die politische Führung dafür verantwortlich, nachhaltig zu wirtschaften und die anderen dafür, mehr Arbeitsplätze zu sichern. Selbstverständlich können die beiden Ziele manchmal kongruent sein, doch sind sie es häufig nicht. In den Konfliktfällen lässt man diejenigen, die man verantwortlich machen möchte, allein. Dass die Verfolgung des einen Ziels nur auf Kosten der Verfolgung des anderen möglich ist, wird nicht ernst genommen. In einer Welt der Knappheit sind jedoch entstehende Schattenpreise ein hervorstechendes Merkmal aller unserer Entscheidungen. Sie zu leugnen, zu verschleiern oder zu kaschieren, ist „unverantwortlich“. Wir sollten uns klar machen, was wir tun und kohärente Überlegungen zu dessen Rechtfertigung anstellen.

Tragische Beispiele

Bin „ich“ verantwortlich für den Untergang der Flüchtlinge vor Lampedusa, wenn ich nichts unternehme? Doch wohl kaum. Sind “wir“ für diesen Unfall verantwortlich? Wer bitte ist verantwortlich genau wofür?

Viele Verantwortungszuschreibungen scheinen bei näherer Betrachtungen maßlos übertrieben.  Jeder einzelne von uns ist allenfalls dafür verantwortlich, Meinungen  und allgemeine moralische Tugenden in sich zu kultivieren, die ihn dazu motivieren, seinen an sich vernachlässigbaren kausale Einfluss jeweils überlegt Richtung wirken zu lassen.

Müssen wir die Neigung in uns entwicklen, die Stimmabgabe im Zweifel so zu vollziehen, dass das Kreuzchen bei dem Kandidaten gemacht wird, der weitere Tote verhindert? Leider wissen wir nicht, wie man zusätzliche Sterbefälle vor Lampedusa am besten verhindert. Werden mehr Tote dadurch verhindert, dass man die Flüchtlinge noch restriktiver behandelt und sie so schnell wie möglich in ihrer Heimatländer zurücküberstellt, so dass weniger Personen allererst den Versuch des illegalen Grenzübertritts unternehmen? Oder geschieht das eher dadurch, dass man sich besonders milde und nachsichtig zeigt und Flüchtlinge nicht nur aus unmittelbarer Gefahr des Ertrinkens rettet, sondern präventiv, Gefahren für die Flüchtlinge verhindert?

Wenn die EU nicht wirklich alle Flüchtlinge aufnehmen und die Grenzen weiterhin gegenüber beliebiger Zuwanderung sichern will, werden immer bestimmte Personen die Risiken eines illegalen Grenzübertritts in Kauf nehmen. Vor diesem Hintergrund wird sofort klar, dass es eigentlich nicht um die Rettung von Menschenleben – jedenfalls nicht allein um die Rettung von Menschenleben – in Seenot geht, sondern um umfassendere Fragen, die nicht aus der unmittelbaren Bedrohung  des Lebens entstehen, die wir vor der italienischen Mittelmeerinsel erleben. Die Aufregeung angesichts der Schicksale von Ertrinkenden kann man nur zu gut nachvollziehen. Aber diejenigen, die Menschenleben nicht gefährden wollen, sind nicht vernünftig, wenn sie nur die direkten Folgen alternativer Reaktionen betrachten.

Verantwortliche Politik

Wenn der britische Premier zum Ausdruck bringt, die Binnenwanderung in der EU durch Einschränkung der Wohlfahrtsansprüche von Zuwanderern zu reduzieren, dann reagiert er auf ein internes Zuwanderungsproblem. Wenn er durch Einschränkung des Bezugsrechts von Ausländern EU-Recht brechen sollte, dann ist etwas falsch mit dem EU-Recht. Die Tatsache, dass irgend welche Bürger Bulgariens oder Rumäniens davon profitieren könnten, wenn sie britische Sozialhilfe erhalten, kann diese Zahlungen kaum rechtfertigen. Denn ein paar Pfund zusätzlich würde jeder von uns gern nehmen, aber deshalb würden wir dennoch nicht glauben, dass die Briten allen Menschen in der EU etwas zahlen müßten (jedenfalls, wenn sie bedürftig sind). Wenn es die Bedürftigkeit ist, dann wäre die Hilfe für Zuwanderer aus die Nicht-EU-Ländern noch dringlicher. Wenn wir aber einen klaren Unterschied zwischen EU- und anderen Bürgern machen, dann müssen wir bitte auch etwas dafür tun, dass die Privilegien der EU-Bürger gegenüber den Nicht-EU-Bürgern erhalten bleiben. Was immer wir dann tun sollten, es ist für Lampedusa und ähnliche Scheußlichkeiten mitverantwortlich. Mir scheint, wir sollten zu dieser Verantwortung stehen und nüchtern unsere Optionen betrachten. Es waren nicht wir, die die Strolche an Afrikas Regierungen brachten – hoffe ich jedenfalls.

 

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