Der Chefvolkswirt
Industriepolitik in der Sozialen Marktwirtschaft

Blickt man im Sommer 2012 auf die wirtschaftspolitischen Agenden rund um den Globus, so rangiert hinter der Wachstums- und der Konsolidierungspolitik die Industriepolitik auf einem der vorderen Plätze. Dies gilt nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa und in anderen industrialisierten und sich industrialisierenden Ländern in allen Teilen der Welt.

Was sind die Triebkräfte und Motivationen hinter dieser neuen Aktualität der Industriepolitik? Sind es die realwirtschaftlichen Einbrüche im Zuge der noch immer nicht überwundenen globalen Finanz- und Wirtschaftskrise? Ist es eine neue Schlüsselrolle der Industrie bei der Bewältigung der globalen Herausforderungen einschließlich der Überwindung der Krise? Oder ist die Wiederbelebung der Industriepolitik der Tatsache geschuldet, dass der Staat im Zuge der jüngsten Krise weltweit an Bedeutung gewonnen hat und sich nach der Krise nicht wieder freiwillig zurückzieht?

Industrie erlebt weltweit eine Renaissance

Aus einer industriellen Perspektive heraus war es eine geradezu historische Erfahrung, wie der Funke der jüngsten Finanzkrise auf die Realwirtschaft übersprang und dort schwerste Schäden anrichtete. Die weltweite Nachfrage nach Industriegütern brach in unglaublicher Geschwindigkeit und Dimension ein. Folge war, dass gemessen am Rückgang des realen Bruttoinlandsproduktes (BIP) nicht etwa die finanzmarktbasierten Volkswirtschaften wie etwa die USA und Großbritannien am stärksten von der Krise betroffen waren, sondern vielmehr hochindustrialisierte Volkswirtschaften wie Deutschland und Japan. Beim Weg aus der Krise zeigten dann jedoch gerade die Ökonomien mit einer starken industriellen Basis die beste Entwicklung. Die globale Nachfrage erholte sich schnell wieder, Erzeugung und Handel mit Industriegütern nahmen rasch zu und industrielle Produktionskapazitäten wurden besser ausgelastet, bald sogar schon wieder erweitert.

Allen voran im Industrieland Deutschland wurde die Krise schnell abgehakt. Deutsche Unternehmen konnten an den Weltmärkten rasch wieder ihre komparativen Wettbewerbsvorteile ausspielen. Schlanke Kostenstrukturen, innovative, wettbewerbsfähige Produkte und eine konsequente globale Aufstellung bilden die Basis für die anhaltenden Weltmarkterfolge deutscher Industrieunternehmen. Mit ihrem Spezialisierungsmuster auf wettbewerbsfähige Vorleistungs- und innovative Investitionsgüter kommt die deutsche Industrie den wichtigsten Megatrends, die den globalen Strukturwandel antreiben, nahezu perfekt entgegen. Zwei Drittel des fulminanten Wachstums der deutschen Volkswirtschaft in den Jahren 2010 (+3,7 Prozent) und 2011 (+3,0 Prozent) wurden in der Industrie generiert. Bezieht man die industrienahen Dienstleistungen in die Betrachtung mit ein, schält sich das industriebasierte Profil der deutschen Volkswirtschaft noch schärfer heraus. Industrie und industrienahe Dienstleistungen bilden zusammen einen Kernsektor, der für ein knappes Drittel der Wertschöpfung in Deutschland steht.

Die Industrie erlebt aber nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Weltwirtschaft insgesamt eine Renaissance. Grund hierfür sind vor allem die schnell wachsenden und sich industrialisierenden Schwellenländer. Diese bauen schneller industrielle Kapazitäten auf und gewinnen schneller Anteile an der globalen Wertschöpfung hinzu, als diese in den alten Industrieländern abgebaut werden. Im Ergebnis dieses globalen Strukturwandels steigt der Industrieanteil am Welt-BIP deutlich an. Auch das Wachstum der Weltwirtschaft verlagert sich immer stärker hin zu den Schwellenländern und dort insbesondere zum industriellen Sektor. Die Industrie treibt im Weltmaßstab zunehmend Wertschöpfung, Wachstum und Beschäftigung an.

Industriepolitik steht wieder auf der Agenda

Der Bedeutungszuwachs der Industrie für Wertschöpfung und Beschäftigung hat unmittelbar zu einer stärkeren politischen Aufmerksamkeit für die Industrie geführt. Auch Deutschland blieb industriepolitisch nicht inaktiv. Im Herbst 2010 legte das Bundeswirtschaftsministerium unter dem Titel „Im Fokus: Industrieland Deutschland“ ein umfassendes industriepolitisches Gesamtkonzept vor. Weitere industriepolitische Impulse gehen von der Diskussion um die Elektromobilität und insbesondere von der von der Bundesregierung 2011 beschlossenen Energiewende aus. Im Februar 2012 legten dann sowohl die Fraktionen der Regierungsparteien als auch die SPD-Fraktion dem Deutschen Bundestag Anträge für neue industriepolitische Impulse vor, die derzeit noch beraten werden. Insgesamt deuten all diese Initiativen darauf hin, dass in Deutschland bei allen relevanten politischen Kräften ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Bedeutung der Industrie und die Notwendigkeit industriepolitischen Handelns vorherrscht.

Angespornt durch die erfolgreiche deutsche Industrie und aufgerüttelt durch die schwache Performance der französischen Industrie war es in Europa vor allem Frankreich, das sich auf alte Traditionen von „planificacion“ und „Industriepolitik à  la francaise“ zurück besann. Großbritannien, das über lange Jahre seinen Industriesektor zu Gunsten des Finanzstandortes London systematisch vernachlässigt hatte, versuchte mit einem industriepolitischen Konzept „New industry, new jobs“ seine geschrumpfte industrielle Basis zu reanimieren. Auch die Europäische Kommission erkannte die Schüsselrolle der Industrie für Wachstum und Beschäftigung und legte im Spätherbst 2010 unter dem Titel „Eine integrierte Industriepolitik für das Zeitalter der Globalisierung – Vorrang für Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit“ eine Skizze für eine europäische Industriepolitik vor. Auch in der aktuellen Diskussion um eine Belebung des Wachstums und eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit in Europa spielt die Industrie eine Hauptrolle.

Auch außerhalb Europas gewann Industriepolitik an Stellenwert. Die USA stellten nach der Krise fest, dass ihre industrielle Basis bereits zu schmal geworden war, um der amerikanischen Volkswirtschaft kräftige Wachstumsimpulse zu geben. Als Reaktion wurde das Ziel einer Re-Industrialisierung formuliert, die amerikanischen Güterexporte sollen sich innerhalb von 10 Jahren verdoppeln. Russland versucht, seine Abhängigkeit von Rohstoffexporten zu vermindern und formulierte eine industriepolitische Strategie zur Entwicklung nationaler Champions in strategisch wichtigen Industriesegmenten. Allen voran aber betreibt China eine konsequente Politik der Industrialisierung, um das Land im Eiltempo auf das Niveau der klassischen Industrieländer und darüber hinaus zu heben. Der aktuelle 5-Jahres-Plan demonstriert nachdrücklich, mit welcher Konsequenz das bevölkerungsreichste Land der Welt seine industrielle Basis entwickelt.

Was ist eigentlich Industriepolitik?

Industriepolitik hat also wieder Hochkonjunktur. Kaum ein Begriff aus der wirtschaftspolitischen Debatte ist jedoch so viel- bzw. nichtssagend wie der der Industriepolitik. Wie grenzt sich nun Industriepolitik inhaltlich und instrumentell von der allgemeinen Wirtschaftspolitik und der Ordnungspolitik ab? Im Kern geht es bei dieser Abgrenzung um die Aufgabenteilung zwischen Staat und privater Wirtschaft. Was sind die Aufgaben, die in einer marktwirtschaftlichen Ordnung vom Staat übernommen werden müssen, welche Rolle haben die privaten Wirtschaftssubjekte? Dem Staat kommt in einer Marktwirtschaft vornehmlich die Aufgabe zu, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass die Marktkräfte sich entfalten können und eine effiziente Allokation knapper Ressourcen gewährleistet ist. Daneben hat der Staat wichtige Aufgaben bei der Schaffung der infrastrukturellen Voraussetzungen für privates Wirtschaften. Dies betrifft, um nur die wichtigsten Infrastrukturbereiche zu nennen, die Verkehrs-, die Telekommunikations-, die Forschungs-, die Bildungs- und die Energiepolitik.

Industriepolitik geht jedoch über das Setzen von Rahmenbedingungen und die Bereitstellung von Infrastrukturen hinaus. Selektivität ist letztlich das prägende Merkmal jeder Art von Industriepolitik. In aller Regel geht es um die Auswahl bestimmter Sektoren, Märkte oder Technologien, die der Staat gezielt fördern will. Nur selten bekennt sich praktische Industriepolitik zu dieser Selektivität. Entweder sucht sie Zuflucht zu verbrämenden und verschleiernden Begrifflichkeiten, etwa durch Hinzufügung des schmückenden Zusatzes „ökologisch“. Allgemeine wirtschaftliche Rahmenbedingungen mutieren in dieser Spielart von Industriepolitik dann sehr schnell zu „Rahmenbedingungen der Förderung“. Oder Industriepolitik bekennt sich offen zur Selektivität, dann aber stets mit der Attitüde, das Gute und Zukunftweisende zu selektieren. Auch hierfür ist die ökologische Industriepolitik ein gutes Beispiel.

Hinweis: Den ausführlichen Beitrag können Sie in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift WiSt 07/2012 nachlesen.

2 Antworten auf „Der Chefvolkswirt
Industriepolitik in der Sozialen Marktwirtschaft“

  1. „Großbritannien, das über lange Jahre seinen Industriesektor zu Gunsten des Finanzstandortes London systematisch vernachlässigt hatte, versuchte mit einem industriepolitischen Konzept „New industry, new jobs“ seine geschrumpfte industrielle Basis zu reanimieren.“

    Sehr geehrter Herr Haß,
    kann man wirklich sagen, dass „Großbritannien … seinen Industriesektor vernachlässigt hat“? War es nicht vielmehr so, dass sich die Unternehmer aus der Industrie zurückgezogen hatten, weil die dortigen Gewerkschaften wenig kooperationsbereit waren, während sie im Finanzsektor keine Rolle spielen? Jedenfalls haben viele englische Liberale die englischen Gewerkschaften ebenso heftig kritisiert, wie sie die deutschen gelobt hatten. Die Rückbildung der Industriebasis in GB wäre so gesehen nicht das Resultat falscher Politik, sondern eines Klassenantagonismus, der das Denken der englischen Gewerkschaftsführung beherrscht hatte.

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