Digitalisierung als Megatrend im globalen Strukturwandel
Digitalisierung wird nicht erst heute als Megatrend im globalen Strukturwandel diskutiert. Die Entwicklung reicht zurück bis hin zur Erfindung des Transistors in der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Seither haben mehrere Wellen der Digitalisierung Wirtschaft und Gesellschaft erfasst und zum Teil gravierend verändert. Mikroelektronik, Informatisierung, Wissensgesellschaft und Automation sind Begriffe, die diese Entwicklung charakterisieren. Heute steht eine neue Welle der Digitalisierung bevor, die einen enormen Beschleunigungsschub im globalen Strukturwandel auslösen könnte. Es wird von einer vierten industriellen Revolution gesprochen, eine Phrase, die das Erschütterungspotenzial der neuen Digitalisierungswelle eindringlich beschreibt.
Dabei wird diese neue Welle der Digitalisierung nicht etwa von einer einzigen neuen Basisinnovation getrieben, vielmehr handelt es sich um Weiterentwicklungen bestehender Technologien, teilweise mit disruptivem Charakter. Im Kern sind dabei vier Treiber mit den dahinter stehenden Technologien, die hier interagieren:
- Neue Technologien im Bereich der Erzeugung und Verarbeitung digitaler Daten, wie sie etwa in dem Stichwort Big Data zum Ausdruck kommen.
- Erweiterte Möglichkeiten der Vernetzung von Geräten, Maschinen, Anlagen und Menschen zu umfassenden, sich selbst steuernden Netzwerken.
- Sprunghafte Weiterentwicklungen in den Bereichen von Automation und Künstlicher Intelligenz mit enormen Rationalisierungspotenzialen für die industrielle Produktion.
- Neue Entwicklungen an der so genannten Kundenschnittstelle, die es erlauben, den Kunden direkt in die industriellen Wertschöpfungsketten zu integrieren.
Erst durch ihr Zusammenwirken entfalten diese Treiber ihr großes Veränderungspotenzial. Ob am Ende für diese Entwicklung der Begriff einer vierten industriellen Revolution gerechtfertigt sein wird, wird die Zukunft zeigen. Potenzial und Plausibilität hierfür ist vorhanden.
Kernelemente des deutschen Geschäftsmodells
Unabhängig davon, ob die neue Digitalisierungswelle eine neue industrielle Revolution auslösen wird oder einen eher evolutorischen Strukturwandel markiert – die deutsche Volkswirtschaft dürfte intensiv betroffen sein. Das so genannte Geschäftsmodell Deutschland wird unter enormen Anpassungsdruck geraten. Zwar kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine Volkswirtschaft mit ihren zahllosen unabhängigen Akteuren in ähnlicher Weise wie ein Unternehmen geschlossen einem bestimmten Geschäftsmodell folgt, zur Fokussierung der wesentlichen Strukturelemente mag eine solche Begrifflichkeit gleichwohl hilfreich sein.
Was sind in diesem Sinne nun die bestimmenden Faktoren des deutschen Geschäftsmodells?
Dreh- und Angelpunkt des deutschen Geschäftsmodells ist die starke industrielle Basis. Mit einem Wertschöpfungsanteil der Industrie von gut 22 Prozent liegt Deutschland deutlich oberhalb der Werte vergleichbarer Industrieländer. Hinzu kommt, dass der Industrieanteil in Deutschland in den letzten zwei Dekaden im Wesentlichen konstant geblieben ist, während in anderen Industrieländern die Deindustrialisierung weiter voranschritt. Viele hochentwickelte Industrieländer haben sich zu Dienstleistungsökonomien gewandelt, Deutschland ist im Kern ein Industrieland geblieben.
Ein unmittelbar mit dem Industrieanteil verwobener Tatbestand sind die immer noch geschlossenen und tief gestaffelten Wertschöpfungsketten, die den industriellen Fertigungsprozess kennzeichnen. Die deutsche Volkswirtschaft hat sich nicht auf wenige Elemente der Wertschöpfungskette spezialisiert, sondern beherbergt Unternehmen aus nahezu allen Branchen, die über Liefer- und Abnehmerbeziehungen engstens miteinander verknüpft sind. Dieses die gesamte Wertschöpfungskette umfassende Unternehmensnetzwerk ist ein weiterer prägender Erfolgsfaktor des Geschäftsmodells Deutschland.
Hinzu kommt, dass dieses Unternehmensnetzwerk nicht nur von einigen wenigen Großkonzernen geprägt ist, sondern gerade aus dem engen Zusammenspiel von leistungsfähigen Klein-, Mittel und Großunternehmen seine Stärke bezieht. Eine besondere Rolle spielen dabei die so genannten „Hidden Champions“ – häufig familiengeführte Weltmarktführer in spezifischen Nischenmärkten. Bei den Hidden Champions hat die deutsche Volkswirtschaft ein Alleinstellungsmerkmal, denn nahezu jedes zweite dieser Unternehmen hat seinen Stammsitz in Deutschland.
Ein weiterer Erfolgsfaktor der deutschen Wirtschaft im globalen Wettbewerb ist ihre Fähigkeit, industrielle Hardware mit komplementären Dienstleistungen zu kompletten Systemlösungsangeboten zu kombinieren. Unternehmen, die solche „hybriden“ Geschäftsmodelle praktizieren, nehmen den ganzen Lebenszyklus eines Industrieproduktes in Visier. Dort wo die globale Nachfrage sich verstärkt auf solche Systemlösungspakete fokussiert, haben deutsche Unternehmen entsprechend erfolgreiche Angebote entwickelt.
Auch wenn die deutsche Wirtschaft die ganze Branchenpalette entlang der Wertschöpfungskette repräsentiert, so gibt es doch ein eindeutiges Spezialisierungsmuster der deutschen Industrie bestehend aus leistungsfähigen Investitionsgütern und hoch produktiven Vorleistungsprodukten. Mit diesem Spezialisierungsmuster traf die deutsche Industrie ziemlich genau das globale Nachfrageprofil, wie es sich im Zuge des weltweiten Strukturwandels, angetrieben durch erwähnte Megatrends, entwickelte und erwarb sich so den Ruf eines „Ausrüsters der Welt“.
Überhaupt haben sich die deutschen Industrieunternehmen wie in kaum einer anderen Volkswirtschaft konsequent auf die sich aus der Globalisierung ergebenden Marktchancen ausgerichtet. Die Einbindung deutscher Unternehmen in die internationale Arbeitsteilung und damit deren Hinwendung zur Globalisierung ist sehr ausgeprägt. Alle relevanten Märkte werden dabei ins Visier genommen, sei es über Exportstrategien oder über Produktionen und Kooperationen – auch in Forschung und Entwicklung – vor Ort.
Genauso intensiv wie die Hinwendung deutscher Unternehmen zur Globalisierung ist deren Fokussierung auf Innovation. Die Unternehmen wissen sehr genau, dass sie ihre Erfolge im globalen Wettbewerb nur mit intensiver Forschung und Entwicklung (FuE) sowie der Umsetzung der dabei gewonnenen Ergebnisse in marktfähige Innovationen sichern können. Deutsche Unternehmen unterliegen gewissermaßen einem innovatorischen Imperativ und sie nehmen diesen Imperativ offensiv an.
Kundennähe ist ein weiteres Erfolgskriterium des deutschen Geschäftsmodells, wobei die Industrie spezifische Stärken im Kontakt zu den Unternehmenskunden entwickelt hat. Dieses Kriterium hängt eng mit dem Spezialisierungsmuster der deutschen Industrie auf Investitions- und Vorleistungsgüter zusammen. Viele Unternehmen bilden mit ihren Businesskunden regelrechte Netzwerke, in denen die Kooperation bis in den FuE-Bereich hineingeht.
Eine weitere Stärke haben die Unternehmen aus den spezifischen Rahmenbedingungen am Standort Deutschland entwickelt. Deutschland ist ein Hochkostenstandort und dies zwingt die Unternehmen zu höchster Effizienz in den Produktionsprozessen. Rohstoffe sind in Deutschland knapp, Energie zunehmend teuer ebenso wie qualifiziertes Humankapital. Nur mit hoher Ressourcenproduktivität kann Deutschland unter solchen Produktionsbedingungen seine industriellen Spitzenpositionen erhalten.
Last but not least sei die Bedeutung des Faktors Arbeit für den Erfolg des deutschen Geschäftsmodells thematisiert. Zuverlässigkeit und Sicherheit der Produkte, der hohe Innovationsgehalt industrieller Erzeugnisse aus deutscher Produktion, allgemein die hohe Qualität der angebotenen Güter lassen sich nur mit hoch qualifizierten Belegschaften sichern, wobei der Qualifikationsmix aus akademischen Fachrichtungen und in der dualen Berufsausbildung erworbenen Fertigkeiten eine besondere Rolle spielt.
Die zehn genannten Erfolgsfaktoren des Geschäftsmodells Deutschland erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sie sind in ihrer jeweiligen Bedeutung auch nicht gleich gewichtig. Aber zusammen genommen und in ihrer wechselseitigen Ergänzung und Verstärkung erklären diese Faktoren doch zum großen Teil den Erfolg der deutschen Volkswirtschaft im globalen Strukturwandel.
Auswirkungen der Digitalisierung auf das Geschäftsmodell Deutschland
Mit seinem auf Industrie und Innovation orientierten Spezialisierungsprofil hat sich Deutschland erfolgreich auf den globalen Strukturwandel eingestellt und in Form von Wachstums- und Beschäftigungsgewinnen davon profitiert. Die fortschreitende Digitalisierung, auch als „vierte industrielle Revolution“ bezeichnet, wird dem globalen Strukturwandel einen neuen Schub verleihen. Sie ist eine wahrhaft strukturprägende Basisinnovation, die nicht durch eine einzelne völlig neue Technologie getrieben wird, sondern vielmehr durch konsequente Weiterentwicklungen bereits bestehender Technologien gekennzeichnet ist. Erst durch die intelligente Kombination dieser verschiedenen Technologielinien entsteht ihre tief greifende, alle Lebensbereiche erfassende Wirkmächtigkeit. Das Handling großer Datenmengen (Big Data), Cloud Computing, die Vernetzung von Wertschöpfungsketten zu cyber-physischen Systemen und neue Mensch-Maschine-Architekturen auf Basis von Quantensprüngen bei der Künstlichen-Intelligenz-Entwicklung spielen dabei eine wesentliche Rolle.
Im Folgenden soll herausgearbeitet werden, wie sich die Digitalisierung auf die einzelnen Bestimmungsfaktoren des deutschen Geschäftsmodells auswirken könnte. In sektoraler Betrachtung steht die Industrie im Fokus des deutschen Geschäftsmodells. Die Digitalisierung wird letztlich zwar alle Wirtschaftszweige erfassen, die Industrie wird jedoch aller Voraussicht nach schneller und umfassender von digitalen Strukturveränderungen geprägt sein. Der Begriff „Industrie 4.0“ bringt dies auf den Punkt. Alle Elemente und Schritte des industriellen Produktionsprozesses werden zu einer „Smart Factory“ vernetzt und in Echtzeit gesteuert. Aber nicht nur die industriellen Produktionsprozesse, auch die Produkte der Industrie und deren Märkte werden voll von der Digitalisierung erfasst – der Begriff „Internet der Dinge“ bringt dies zum Ausdruck. Damit bietet die Digitalisierung der deutschen Industrie ein doppeltes Chancenportfolio. Einerseits ergeben sich enorme Rationalisierungspotenziale für eine effizientere, kostengünstigere, schnellere und flexiblere Produktion, andererseits eröffnen sich völlig neue Märkte für industriebasierte Produkte und Lösungspakete.
Die geschlossenen Wertschöpfungsketten, die heute noch ein Erfolgskriterium des deutschen Geschäftsmodells sind, werden dabei gewaltig unter Anpassungsdruck geraten. Zulieferer- und Abnehmerbeziehungen entlang der Wertschöpfungskette werden sich grundlegend wandeln. Nicht nur in sektoraler, sondern auch in regionaler Hinsicht werden sich infolge der erweiterten Vernetzungspotenziale und der völlig neuen Möglichkeiten zur Strukturierung von Produktionsprozessen gravierende Verschiebungen ergeben. Auch der Zeitfaktor wird eine Rolle spielen. Bisher wurden Wertschöpfungsketten eher sukzessive weiterentwickelt, die Digitalisierung bringt starke disruptive Elemente mit sich. Produktionsstrukturen, die über Dekaden gewachsen sind, können im Zuge der Digitalisierung von heute auf morgen infrage gestellt werden. Anpassungsgeschwindigkeit wird im digitalen Zeitalter zum Schlüssel der Zukunftsbewältigung.
Dieser „temporalen“ Herausforderung müssen sich alle Unternehmen stellen, ob klein, ob groß, ob als Kapitalgesellschaft oder als Familienunternehmen geführt. Heute bildet das tief gestaffelte und eng verbundene Unternehmensnetzwerk aus global orientierten Großunternehmen und zahllosen leistungsfähigen Klein- und Mittelbetrieben das unternehmerische Rückgrat des deutschen Geschäftsmodells. Im Zuge der Digitalisierung wird dieses Unternehmensnetzwerk neu geknüpft werden (müssen). Nicht alle – heute noch leistungsfähigen – Elemente dieses Netzwerks werden den Herausforderungen des digitalen Strukturwandels gewachsen sein, nicht alle beteiligten Unternehmen werden die nötige „digitale Reife“ entwickeln können. Hinzu kommt, dass völlig neue Player aus ganz anderen Wirtschaftsbereichen die industriellen Wertschöpfungsketten verändern und sogar aufbrechen werden. Dass beispielsweise Internetunternehmen wie Google sich anschicken, in den Automobilbau einzusteigen, hätte noch vor wenigen Jahren bestenfalls ein Stirnrunzeln erzeugt, heute ist dies absehbare Realität.
Die im deutschen Geschäftsmodell angelegte Fähigkeit, industrielle Hardware mit intelligenter Dienstleistungssoftware zu leistungsfähigen Systemlösungsangeboten zu kombinieren, könnte sich im digitalen Zeitalter als wertvolles Asset erweisen. Die fortschreitende Digitalisierung dürfte die „Entmaterialisierung“ der Produktion weiter vorantreiben. Der Softwareanteil in servo-industriellen Wertschöpfungsprozessen dürfte gegenüber dem Hardwareanteil zunehmen. Hybride Geschäftsmodelle, die diesem Wandel in der Komposition der Wertschöpfung Rechnung tragen, dürften an Bedeutung gewinnen. Der Gegensatz zwischen Industrie und Dienstleistungen wird im Zuge der Digitalisierung weiter verschwinden. Heute spielen die industrienahen Dienstleistungen noch eine die industrielle Produktion begleitende oder ergänzende Rolle. In Zukunft könnten diese Dienstleistungskomponenten in manchen Wertschöpfungsprozessen sogar die dominierende Rolle übernehmen, beispielsweise bei so genannten „autonomen Fahrzeugen“, die möglicherweise stärker von der Steuerungssoftware als von den materiellen Komponenten eines Automobils determiniert werden.
Das Spezialisierungsmuster der deutschen Industrie auf innovative Investitions- und leistungsfähige Vorleistungsgüter und die dadurch bedingte Fokussierung auf das Geschäft mit Unternehmen steht durch die unter „Industrie 4.0“ firmierenden Technologiesprünge unter hohem Veränderungsdruck. Es wird kaum ein Investitionsgut, keine Maschine oder Anlage geben, die nicht von der Digitalisierung erfasst wird. Vieles spricht dafür, dass der Digitalisierungsgrad dieser Güter, das heißt Ihre Fähigkeit, autonom miteinander zu kommunizieren und zu interagieren, zukünftig zum entscheidenden Wettbewerbsparameter wird. Die größten Chancen auf den sich rapide wandelnden Märkten werden die Unternehmen haben, die nicht nur in ihren eigenen Produktionsprozessen die Vorteile der Digitalisierung und der Vernetzung zu nutzen wissen, sondern die auch in ihren Produktangeboten, in ihren Geschäftsmodellen voll auf die Digitalisierung setzen und so auch ihre Kunden an den Vorteilen des digitalen Wandels partizipieren lassen. Losgröße 1, das heißt die kostengünstige Produktion kundenindividueller Produkte und Lösungen wird greifbare Realität. Bei dieser „Digitalisierung der Kundenschnittstelle“ wird den bisher hardwareorientierten deutschen Unternehmen scharfe Konkurrenz aus der Internetwirtschaft erwachsen. Unternehmen wie Google, Apple und Amazon beispielsweise, die bisher in der industriellen Wertschöpfungskette kaum eine Rolle spielten, werden mit zum Teil völlig neuen Geschäftsmodellen Teile der Wertschöpfung für sich beanspruchen.
Die Digitalisierung wird die Welt weiter zusammenwachsen lassen. Information in Echtzeit wird global verfügbar, die Vernetzung von Menschen, Maschinen und Produkten im so genannten „Internet der Dinge“ umspannt die ganze Welt. Entsprechend werden sich im Zuge der Globalisierung die Wertschöpfungsnetzwerke neu aufstellen. Dabei können bisherige Globalisierungstrends nicht einfach fortgeschrieben werden, durch den digitalen Wandel ergeben sich teilweise völlig neue Perspektiven. Gravierende Veränderungen könnten sich beispielsweise für den globalen Handel ergeben. Neue Technologien wie der 3D-Druck (siehe Kapitel 3.) ermöglichen eine Reintensivierung der Produktion vor Ort, die Notwendigkeit zum Export und Transport materieller Güter nimmt dadurch ab. Auch die enormen Produktivitätspotenziale, die mit der Digitalisierung der Produktion einhergehen, dürften die globale Aufstellung von Wertschöpfungsnetzwerken gravierend verändern. Produktionen, die bisher aus Kostengründen an einem Hochkostenstandort nicht mehr rentabel werden, könnten nun wieder über die Rentabilitätsschwelle gehoben werden.
Höchste Effizienz in den Produktionsprozessen, Produkte, die mit den Ressourcen Energie, Umwelt und Rohstoffen schonend umgehen, sind eines der Erfolgskriterien des deutschen Geschäftsmodells. Die Digitalisierung eröffnet hier völlig neue Möglichkeiten. Allerdings erfordert die Nutzung dieser Möglichkeiten enorme Anstrengungen in den Bereichen Forschung, Entwicklung und Innovation. Mit einem Anteil der FuE-Ausgaben am BIP von knapp drei Prozent gehört Deutschland heute zu den weltweit führenden Forschungsstandorten. Um die Stellung der deutschen Volkswirtschaft im globalen Innovationswettbewerb zu halten, müssen Forschung und Entwicklung stärker auf die Digitalisierung ausgerichtet werden. Heute ist die deutsche Industrieforschung noch sehr stark hardwareorientiert, grundlegende Innovationen im Softwarebereich kommen vorrangig aus anderen Ländern. „Industrie 4.0“ bietet hier die Chance, aber auch die Notwendigkeit, industrielle Spitzenpositionen auch im digitalen Zeitalter zu halten.
Die Digitalisierung wird auch vor der Arbeitswelt nicht Halt machen. Im Gegenteil, die Arbeitswelt gehört wohl zu den Lebensbereichen, die vom digitalen Strukturwandel am stärksten erfasst werden. Gleichzeitig verbinden sich hier die größten gesellschaftlichen Befürchtungen und Ängste mit den anstehenden Veränderungen. Die Veränderungen werden groß sein, ebenso groß ist die Unsicherheit, welcher Art diese Veränderungen sein werden und wie die Beschäftigten davon betroffen sein werden. Ausdruck dieser Unsicherheit sind auch die vorliegenden Studien über die Arbeitsmarkteffekte der Digitalisierung, deren Spektrum von erschreckenden Horrorszenarien über millionenfache Arbeitsplatzverluste bis hin zu rosaroten Visionen einer heilen digitalen Arbeitswelt reichen. Hier können all diese Argumentationen nicht nachgezeichnet werden, es soll nur eines in Erinnerung gerufen werden: Schon oft ist im Zuge des strukturellen Wandels das Ende der Arbeit ausgerufen worden, bisher ist dies nie eingetreten. Gerade die deutsche Entwicklung der letzten 15 Jahre zeigt, wie eine Volkswirtschaft durch konsequente Anpassung an den globalen Wandel auch am Arbeitsmarkt zum Gewinner werden kann. Und so dürfte es auch in der Digitalisierung sein. Ohne Zweifel ist das Rationalisierungs- und damit Freisetzungspotenzial des digitalen Wandels enorm. Aber ebenso enorm sind die Beschäftigungschancen durch neue Produkte, Märkte und Geschäftsmodelle. Es ist wie immer im Strukturwandel: Er wird nur dann zum Problem, wenn das Wegfallende nicht durch Neues ersetzt wird.
Ist Deutschland für die Digitalisierung gerüstet?
Der weitere Erfolg des deutschen Geschäftsmodells im digitalen Zeitalter wird entscheidend davon abhängen, inwieweit es der deutschen Volkswirtschaft gelingt, sich auch dieser neuen Facette des globalen Strukturwandels nicht nur anzupassen, sondern sie auch maßgeblich mitzugestalten. An der Digitalisierung wird sich die Zukunftsfähigkeit des deutschen Geschäftsmodells entscheiden. Die Digitalisierung wird keine analogen Nischen übrig lassen, alles, was digitalisiert werden kann, wird über kurz oder lang auch digitalisiert werden. Die Digitalisierung bietet dabei wie jede Innovation Chancen und Risiken. Gelingt die volle Adaption der Digitalisierung, bietet das deutsche Geschäftsmodell beste Voraussetzungen, um das digitale Chancenportfolio voll zu entfalten. Fällt die deutsche Wirtschaft dagegen im Digitalisierungswettbewerb zurück, ist das Rückschlags- und Gefährdungspotenzial für die deutsche Volkswirtschaft als besonders hoch einzuschätzen.
Das in den letzten 15 Jahren entwickelte deutsche Geschäftsmodell mit seinen entscheidenden Erfolgskriterien – die starke industrielle Basis, die geschlossenen Wertschöpfungsketten, das leistungsfähige Unternehmensnetzwerk und die konsequente Orientierung auf Globalisierung und Innovation, um nur die wichtigsten zu nennen – hat unter Beweis gestellt, dass es mit rapidem, ja sogar beschleunigtem Strukturwandel nicht nur umgehen, sondern von ihm profitieren kann. Es gibt keinen logischen Grund, warum dies sich im Zeitalter des digitalen Wandels nicht fortsetzen könnte. Sicher werden die Internetwirtschaft und damit Volkswirtschaften, die hier führende Positionen einnehmen, im digitalen Zeitalter eine größere Rolle spielen. Aber um marktgerechte Produkte und Lösungen für die Kunden in den sich wandelnden Märkten anbieten zu können, wird man auch in der digitalen Welt leistungsfähige Industrieunternehmen mit der entsprechenden Fertigungskompetenz brauchen.
Deutschland hat dabei jede Chance, sich zum begehrten Kooperationspartner zu entwickeln und so seine führende Rolle als Ausrüster der Welt zu behaupten.
Diese denkbare Entwicklung markiert jedoch ein Chancenportfolio und keine zwangsläufige Entwicklung. Der wirtschaftliche Erfolg im digitalen Zeitalter wird der deutschen Volkswirtschaft nicht in den Schoß fallen, er muss wie bisher auch erarbeitet werden. Dabei gilt es, Stärken des deutschen Geschäftsmodells im Hinblick auf die Digitalisierung konsequent weiterzuentwickeln, aber auch erkennbare Schwachstellen ebenso konsequent abzubauen. Sechs solcher potenziellen Schwachstellen, die zugleich unternehmerische und politische Handlungsnotwendigkeiten indizieren, sollen im Folgenden ohne Anspruch auf Vollständigkeit thematisiert werden.
Die Hardwareorientierung der deutschen Industrie und damit des deutschen Geschäftsmodells war bisher ein Erfolgsgarant, weil an den Weltmärkten genau die Hardware nachgefragt wurde, die die deutsche Industrie im Angebot hatte. Im Zuge der Digitalisierung dürfte Software als in Hardware manifestierter Intelligenz in den sich neu aufstellenden Wertschöpfungsnetzwerken eine stärkere Rolle spielen. Um nicht zum reinen Hardware-Zulieferer degradiert zu werden, sondern Steuerungskompetenz über den gesamten Wertschöpfungsprozess zu behaupten, muss die deutsche Industrie mehr Softwarekompetenz entwickeln. Nur so wird man in sich formierenden Kooperationsverbünden den US-amerikanischen Softwaregiganten zumindest annähernd auf Augenhöhe begegnen können. Mehr deutsche Softwarekompetenz impliziert vor allem neue Schwerpunktsetzungen in Forschung und Entwicklung, nicht nur in den beteiligten Unternehmen, auch in der öffentlichen Forschungslandschaft.
Das Internet der Dinge, die Echtzeit-Vernetzung von Produkten, Geräten, Maschinen, Anlagen und Prozessen, umfasst sowohl Unternehmens- als auch Endverbrauchermärkte. Mit Ausnahme vielleicht der Automobilindustrie basiert der bisherige Erfolg des deutschen Geschäftsmodells ganz überwiegend auf der guten Positionierung auf den Unternehmensmärkten. Im Business-to-Business-Geschäft liegt die Stärke deutscher Industrieunternehmen auf den Weltmärkten. Diese Fokussierung auf Unternehmenskunden könnte im digitalen Zeitalter ein Nachteil sein. Zwar werden sich gerade auch auf den Unternehmensmärkten gravierende Veränderungen und damit Chancen durch die Digitalisierung ergeben, nur diese ins Visier zu nehmen hieße jedoch, auf weite Teile des Chancenportfolios der Digitalisierung zu verzichten. Die deutschen Unternehmen müssen den Endverbraucher wieder stärker beachten, ohne dabei die Unternehmenskunden zu vernachlässigen. Auch für die gesellschaftliche Akzeptanz von Industrie und technischem Fortschritt wäre dies wichtig, denn diese macht sich weniger an der Effizienz industrieller Produktionsprozesse, als vielmehr an konkreten Produkten und Lösungen fest, die dem Konsumenten unmittelbaren Nutzen stiften.
Die Taktfrequenz der digitalen Welt wird deutlich höher sein als die aus der analogen Welt bekannte. Anpassungsgeschwindigkeit und -flexibilität werden zur Schlüsselgröße für den wirtschaftlichen Erfolg. Bislang zeichneten sich deutsche Unternehmen vor allem durch die sukzessive Weiterentwicklung bestehender Produkte und Prozesse bis hin zur Perfektion aus. Das schnelle Aufgreifen und Umsetzen neuer Ideen und Konzepte ist dagegen nicht durchgängig in der deutschen Wirtschaft anzutreffen. Lang ist die Liste bedeutender Innovationen, deren wissenschaftlich-technische Grundlagen in Deutschland gelegt, deren Umsetzung am Markt aber von anderen Ländern aus erfolgte. Hier ist ein Umdenken erforderlich. Die industrielle Produktion muss sich zumindest tendenziell dem Veränderungstempo der Internetwirtschaft anpassen. Nur die Industrieunternehmen werden sich als gleichrangige Kooperationspartner der führenden Internetunternehmen etablieren können, die in punkto Geschwindigkeit die gleiche Sprache sprechen.
So bravourös die deutschen Unternehmen den globalen Strukturwandel bisher gemeistert haben, so sehr stellt sich die Frage, wie gut die Unternehmen auf die digitalen Herausforderungen vorbereitet sind. Aktuelle Befragungen und Studien[1] belegen hier eindeutige Defizite. Zwar befassen sich fast alle Unternehmen mit der Digitalisierung, nur 70 Prozent sehen darin jedoch eine große Herausforderung. Zwar stehen drei Viertel der Unternehmen der Digitalisierung positiv gegenüber, bei den kleinen und mittleren Unternehmen dagegen lehnen 20 Prozent die Digitalisierung ab. Ein gutes Drittel der deutschen Unternehmen haben bisher keine Digitalstrategie. Potenzial für das eigene Unternehmen sehen die meisten Unternehmen vorrangig in möglichen Effizienzsteigerungen in der Produktion, weniger dagegen in neuen Produkten, Märkten und Geschäftsmodellen. Diese nur sehr bruchstückhaften Ergebnisausschnitte geben ernst zu nehmende Indizien für eine Lücke in der „digitalen Reife“ deutscher Unternehmen. Sowohl die Chancen als auch die Risiken der Digitalisierung werden von nicht wenigen Unternehmen unterschätzt.
Wie kaum ein anderer Wirtschaftszweig werden die Internetwirtschaft und damit die Digitalökonomie von jungen und neu gegründeten Unternehmen geprägt. Alle großen Internetfirmen, ob Google, Amazon oder Facebook sind relative Newcomer in der globalen Unternehmenslandschaft. Was erfolgreiche Neugründungen anbelangt, ist die deutsche Unternehmenslandschaft relativ starr, das Gründungsgeschehen in Deutschland ist im internationalen Vergleich deutlich unterdurchschnittlich. Insbesondere Start-ups aus dem Technologiebereich tun sich bei uns schwer, die nötige Finanzierung zu finden. Dies gilt insbesondere für frühe Unternehmensphasen, in denen der wirtschaftliche Erfolg noch unsicher und die technischen Risiken noch hoch sind. Von einem echten Venture-Capital-Markt, der etwa dem der USA entsprechen würde, kann in Deutschland im Grunde nicht gesprochen werden, was weniger mit steuerlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen, als mit der bei hiesigen Geldgebern ausgeprägten Risikoaversion zusammenhängt. Diese mentale Innovationsbremse am Standort Deutschland muss dringend überwunden werden, sonst suchen sich gute technische Ideen aus Deutschland ihre Finanzierung und damit ihren Standort anderswo.
Das volle Potenzial der Digitalisierung wird sich nur entfalten können, wenn die technische Netzinfrastruktur ständig auf dem neuesten Stand gehalten wird. Dies gilt sowohl für die technische Leistungsfähigkeit als auch für die notwendige Anwendungssicherheit. Datensicherheit ist in Deutschland ein besonders sensibles Thema, bei Bürgern wie bei Unternehmen. Politik und Wirtschaft sind gut beraten, dies bei ihren Digitalisierungsstrategien zu berücksichtigen, nicht zuletzt, weil Sicherheitslösungen auch Märkte definieren. Bei der technischen Infrastruktur für das digitale Zeitalter liegt Deutschland zurück. Schnelle und zuverlässige Breitbandnetze – ob leitungsgebunden oder mobil – sind die Lebensadern der modernen Digitalökonomie. Ihr Ausbau muss energisch vorangetrieben werden. Anlagebereites Investitionskapital ist in Deutschland reichlich vorhanden, es muss nur mobilisiert werden- eine in einem Nullzinsumfeld allerdings nicht triviale Aufgabe.
Hinweis: Der Blogbeitrag geht zurück auf einen Vortrag des Verfassers auf dem 3. Würzburger Ordnungstag am 7. Oktober 2015 in Frankfurt und ist inhaltlich weitgehend deckungsgleich mit einem Beitrag des Verfassers für die Studie „Digitalökonomie – Strategie 2030“ des HWWI und der Berenberg Bank vom August 2015.
[1]Roland Berger Strategy Consultants, Bundesverband der Deutschen Industrie, Die digitale Transformation der Industrie, München und Berlin 2015. Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (BITKOM), Umfrage zum Stand der Digitalisierung in Deutschland, Berlin 2015.
Blog-Beiträge zum „Geschäftsmodell Deutschland“
Manfred Wittenstein: Geschäftsmodell Deutschland – Ein Auslaufmodell?
Norbert Berthold: Steht das „Geschäftsmodell Deutschland“ auf der Kippe? Euro-Rettungsschirme sind „struktureller Merkantilismus“
Matthias Kullas und Bert van Roosebeke: Das „Geschäftsmodell Deutschland“ in der Kritik
Eine sehr gelungene und interessante Zusammenschau. Die Digitalisierung der Wirtschaft und Ihrer Geschäftsmodelle schreitet in der Tat mit großen Schritten voran. „Industrie 4.0“ ist in aller Munde. Und völlig zweifelsfrei steckt in dieser Entwicklung gerade für hochentwickelte Volkswirtschaften enormes Potenzial. Die von Herrn Dr. Haß aufgeführten Kernelemente des deutschen Geschäftsmodells zeigen, dass die deutsche Volkswirtschaft auf der einen Seite gut gerüstet ist und Chancen hat, als Gewinner aus der beschriebenen Entwicklung hervorzugehen und globaler Leitanbieter zu sein. Andererseits stehen ebendiese Kernelemente auch für die potenzielle negative Betroffenheit, wenn man das international ausgetragene Rennen um die neue Effizienz und Effektivität verliert.
Die Dynamik ist unübersehbar, überall – auf staatlicher, verbandspolitischer und betrieblicher Ebene – wird fleißig diskutiert (und durchaus auch daran gearbeitet!) über Fragen der Geschäftsmodellinnovation, der Fertigungstechnologien und -prozesse, der rechtlich-institutionellen Gegebenheiten, der Datensicherheit, der Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiter (Stichworte: „Internet of things“, „Big Data“, „neue Arbeitswelten“, „Mensch-Maschine-Schnittstellen“, „Digitalkompetenz“) und so weiter. Doch eindeutig zu kurz in der Befassung kommt der Themenkomplex rund um die Fragestellung „Welche neuen Herausforderungen ergeben sich für das Management, das Führen auf Top-Level in einem solchen Umfeld?“ Wir beschäftigen uns in St. Gallen seit vielen Jahren mit Führungsfragen in einem dynamischen Umfeld (vgl. z.B. Bleicher, 1991 „Zeitschere“), und gerade aktuell erfahren unsere diesbezüglichen Forschungsarbeiten unter der Überschrift „Führung 4.0“ eine ganz besondere Beachtung.
Nicht dass wir nun plötzlich eine völlig neue Form der Führung bräuchten. Vielmehr ist es doch so, dass schon seit längerem die klassische Führung über hierarchische Mechanismen immer weniger funktioniert. Mehr und mehr müssen Führungskräfte außerhalb ihres durch die Aufbauorganisation zugewiesenen Verantwortungsbereichs für Ziele, Orientierung und auch Konsequenz sorgen. Das ist eine schon lange andauernde Entwicklung, die durch „Industrie 4.0“ allerdings eine zusätzliche Dynamik erfährt. Vernetzung, Geschwindigkeit, die Gleichzeitigkeit und Wechselwirkung von Ereignissen, Digitalisierung, das Verheiraten unterschiedlicher Technologien und Disziplinen, unternehmensübergreifende Kooperationen – nur einige Begriffe, die jedoch zeigen: die Anforderungen an Führung steigen, die Komplexität nimmt zu. Daher nochmal: „Wie führt man eigentlich in zunehmend digitalisierten Welten, die sich noch dazu dadurch auszeichnen, dass ein immer größer werdender Anteil der zu führenden Personen(gruppen) außerhalb des direkten Verantwortungsbereichs und außerhalb der eigenen bzw. unternehmensspezifischen Know-how-Felder liegt?“
Meine These: Wer hier die besten Antworten findet, wird das Rennen gewinnen – auf betrieblicher, aggregiert auch auf volkswirtschaftlicher Ebene. Der Unternehmer führt zum Erfolg oder Misserfolg, seine Fähigkeiten und Möglichkeiten sind die bestimmenden Größen. Selbstverständlich ist es ureigene Herausforderung der Unternehmen und deren Führungskräfte, hier nach gangbaren Wegen zu suchen. Aber man muss sie schon lassen, das heißt es müssen die rechtlich-institutionellen Gegebenheiten den Raum bieten, flexibel und anpassungsfähig zu sein auf der unbekannten Wegstrecke hinein in die womöglich erfolgreiche Zukunft. Um die Fähigkeiten der Unternehmen in Deutschland mache ich mir weniger Sorgen. Um deren Möglichkeiten schon eher.
Hinweis zu diesem Kommentar: Der Kommentar zu diesem Blogbeitrag entstand im Rahmen der Oktober-Beiratstagung der Gesellschaft für Integriertes Management St. Gallen (GIMSG) zum Thema „Industriestandort Deutschland“ und stellt gleichzeitig einen Auszug aus aktuellen Vorlesungsunterlagen des Verfassers an der Universität St. Gallen (Unisg) dar.