In öffentlichen Diskussionen ist das Thema Steuern immer wieder zu finden. Unterschiedliche Positionen werden von echten oder vermeintlichen Experten mit einer solchen Selbstverständlichkeit vertreten, dass der verblüffte Zuhörer jenseits ureigenster Betroffenheit wenig Chancen hat, dem Eindruck des „anything goes“ zu entrinnen.
Die Gründe für dieses Tohuwabohu sind vielfältig und nicht bis in den letzten Winkel zu erforschen. Indessen lassen sich immerhin einige elementare Bezüge finden, die als Beurteilungskriterium infrage stehender Argumente und/oder Positionen gute Dienste leisten können – anders formuliert: Bestimmte Irrtümer erfreuen sich einer so stetigen Beliebtheit, dass man sie beinahe als „Klassiker“ bezeichnen kann.
Die drei Basen steuerlicher Effekte
Zumindest in der öffentlichen Gerechtigkeitsdiskussion laufen die meisten Diskussionen über die Höhe des Steuersatzes bzw. dessen Progression. Tatsächlich ist dieser Satz aber nur eine von drei Dimensionen, welche die Belastungswirkung von Steuern ausmachen:
- Was soll in welchem Umfang besteuert werden (→ „Bemessungsgrundlageneffekt“)?
- Wann erfolgt die Erfassung der ensprechenden Bemessungsgrundlage für die Besteuerung (→ „Zeiteffekt“)?
- Mit welchem Prozentsatz wird diese Bemessungsgrundlage dann im Erfassungszeitpunkt von der Steuer belegt (→ „Tarifeffekt“)?
Im Gegensatz publikumswirksamen Gerechtigkeitsdiskussionen spielt sich in der Praxis und durchaus auch in der theoretischen Diskussion der weit überwiegende Teil der Auseinandersetzungen im Bereich von Bemessungsgrundlagen- und Zeiteffekten ab. Noch wichtiger ist allerdings, dass man gerade im normativen Bereich regelmäßig Diskussionen nicht losgelöst von diesen beiden Aspekten führen kann, wie beispielsweise auch ein Blick auf den nächsten populären Irrtum zeigt.
Die zwei Arten der Einkünfteermittlung
Ein besonders schwerwiegender Fehler in solchen Diskussionen besteht darin, dass man Steuersatzvergleiche zwischen Rückflüssen von Humankapital, denn nichts Anderes stellen Arbeitseinkünfte ökonomisch dar, einerseits sowie von Sach- und Finanzkapital andererseits ohne eine geeignete Adjustierung vornimmt. Ich habe diesem Problem aus damals gegebenem Anlass bereits einen Beitrag gewidmet; vgl. http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=10900, so dass ich mich an dieser Stelle kurz fassen kann: Die Bemessungsgrundlage für Einkünfte aus Humankapital wird praktisch durchgängig über eine Überschussrechnung ermittelt, während bei Sach- und Finanzkapital ein Vermögensvergleich vorgenommen wird.
Das Grundproblem lässt sich recht einfach skizzieren: In einer Marktwirtschaft besteht der Wert von Vermögensgegenständen, die nicht zwangsläufig dinglicher Natur sein müssen, in der Summe der durch diese Vermögensgegenstände zukünftig fließenden Überschüsse, wobei diese Überschüsse abgezinst auf den jeweiligen Bewertungsstichtag in die Rechnung eingehen. Allein durch den Ablauf von Zeit wird nun diese Abzinsung immer mehr rückgängig gemacht, so dass der Wert des Vermögens entsprehend wächst, ohne dass sich an den zukünftigen Überschüssen etwas verändert haben muss. Kommt es zur Realisation von solchen Vermögenszuwächsen, wird also bereits ein Teil der zukünftigen Überschussbesteuerung vorweggenommen – anders als beim Humankapital, das erst besteuert wird, wenn der Überschuss tatsächlich zustande kommt, d.h. um Werbungskosten gekürzte Löhne, Gehälter oder anderweitige Bezüge. Man könnte die Gleichbehandlung bei beiden Einkünfteermittlungen nun dadurch gewährleisten, dass man beim Vermögensvergleich die Verzinsung steuerfrei stellt, doch das scheint momentan politisch kein Thema zu sein.
Natürlich hängt die Wirkung der Benachteiligung von Sach- und Finanzkapital von der Höhe des jeweiligen Zinssatzes ab und bereits seit einigen Jahren befinden wir uns in einer künstlich herbeigeführten Minizinsphase, aber das ist ein temporäres Phänomen, das nichts an dem grundlegenden Irrtum ändert.
Mehrere Besteuerungsebenen
Im Zuge steuerlicher Belastungsdiskussionen werden mitunter Verweise auf weitere fiskalische Zugriffe neben der Einkommensteuer gemacht. Insbesondere die Mehrwertsteuer, die den letzten Konsumenten eines Gutes oder einer Dienstleistung trifft, wird hier immer wieder betont, weil sie die von einem ursprünglich verdienten Euro ökonomisch verwertbare Substanz zusätzlich schmälert. Während diese „Anschlussbesteuerung“ nach der Einkommensteuer also zumindest teilweise adressiert wird, wird die „Vorwegbesteuerung“ vergleichsweise selten angesprochen.
Diese betrifft insbesondere die Spaltung der Besteuerungsebenen, wenn Einkommen originär über juristische Personen erzielt wird. Da ökonomisch nur die natürlichen Personen, die hinter diesen juristschen Personen stehen (v.a. die Gesellschafter bei einer eG, GmbH oder AG), für die steuerliche Belastungswirkung interessant sind, müssen sowohl die Ebene des Unternehmens als auch diejenige der Unternehmenseigner für die Ermittlung der steuerlichen Belastung zusammen betrachtet werden. Betrachtet man beispielsweise den Aktionär, der 100 Aktien eines DAX-Werts hält, so sind einerseits die Körperschaftssteuer (zuzüglich Solidaritätszuschlag) und die Gewerbesteuer (internationale Bezüge seien der Einfachkeit halber an dieser Stelle vernachlässigt) sowie andererseits die Abgeltungsteuer (zuzüglich Solidaritätszuschlag) zu berücksichtigen.
Ein fiskalischer Vergleich zwischen Arbeits- und Kapitaleinkommen auf der Basis von einfachen Steuersatzvergleichen, ist also offensichtlich fehlprogrammiert, aber darauf wurde in diesem Blog ebenfalls schon hingewiesen, vgl. http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=14925, so dass wir uns dem nächsten Problem steuerlicher Diskussionen zuwenden können.
Ertrag-, Substanz- und Verkehrsteuern
Gerade in der jüngeren Vergangenheit wurde in der politischen Arena die Besteuerung von Vermögenssubstanz immer wieder thematisiert. Hinzu kommt die aktuelle Befassung des Bundesverfassungsgerichts mit der völlig verunglückten letzten Revision der Erbschaftsteuer.
Insbesondere von Politikern werden hier oft alle möglichen Aspekte mit großer Hemmmungslosigkeit ins Feld geführt, vgl. http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=10573, aber leider der ökonomisch vermutlich wichtigste nur vergleichsweise selten in den Mittelpunkt gestellt. Vermutlich aufgrund der steuerrechtlichen Trennung von Ertrag-, Substanz- und Verkehrsteuern wird der Blick auf die letztendlich resultierende Gesamtwirkung verstellt, was ja bereits im vorherigen Abschnitt angesprochen wurde. Dabei ist insbesondere der Zusammenhang zwischen Ertrag und Substanz in einer Marktwirtschaft – wie ebenfalls bereits dargestellt – unmittelbar, denn Substanz, also Vermögen, erhält seinen Wert durch die Antizipation erwarteter Erträge in Form zukünftiger Überschüsse. Aufgrund dieses funktionalen Zusammenhangs kann man also beide Besteuerungsbereiche vereinheitlichen und die Steuerwirkung von Substanzsteuern in eine zusätzliche fiskalische Belastung von Erträgen umrechnen et vice versa.
Nun wird auch von Juristen mitunter der Begriff der „Sollertragsteuer“ für die Vermögensteuer verwendet, weil bereits in den Gesetzgebungsmaterialien zum Reichsvermögensteuergesetz von 1922 als Erfordernis der Steuer nachzulesen ist, dass sie aus dem Einkommen zu tragen sei und nicht zu einer „schleichenden Vermögenskonfiskation“ führen dürfe; vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, Rn. 56. Entsprechend kann man die Einkommensteuer zum Sammelbecken aller Belastungen machen, was freilich dazu führt, dass man schnell die hälftige Teilung eines vom Steuerpflichtigen erwirtschafteten Euros mit dem Staat überschreitet und – zumal wenn man noch die beim Konsum anfallende Umsatzsteuer berücksichtigt – mitunter sogar eine Total- oder Überkonfiskation ins Blickfeld geraten kann.
Überdies ist hier Humankapital wiederum gravierend bevorzugt: Sein Wert geht nicht in die Bemessungsgrundlage der Vermögensteuer ein, vgl. http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=9970, und so zeigt sich auch an dieser Stelle, wie problematisch die öffentlichen Gerechtigkeits- und Verteilungsdiskussionen werden können, wenn allzu schnell ein allzu einfacher Vergleichsmaßstab angelegt wird.
Gescheiterte Belastungsideale
Wenn die üblichen Steuersatzdiskussionen schon all diese Defizite aufweisen, könnten sie wenigstens dann allgemein anerkannte Ergebnisse zeitigen, wenn es die bisher beschriebenen Probleme nicht gäbe? Anders formuliert: Lässt sich ohne Einschränkungen festlegen, welche Progression bzw. welcher Verlauf der Steuertariffunktion fair und gerecht ist? Brauchen wir eine Reichensteuer oder eine Flat Tax?
Zur Antwort auf solche Fragen wurden gerechtigkeitsorientierte Ansätze entwickelt, von denen die sogenannten „Opfertheorien“ die größte Prominenz aufweisen dürften. Ihr Name korrespondiert mit dem von ihnen verfolgten Programm: „Eine vorgegebene Steuerlast soll so konzipiert werden, dass alle Steuerpflichtigen dasselbe Opfer erbringen“ (Homburg, Allgemeine Steuerlehre, 6. Aufl. 2010, S. 205). Leider stellte sich hier wie auch bei vergleichbaren Versuchen heraus, dass man auch für die Verfolgung solcher Ziele nur unter restriktiven Annahmen, die nicht auf allgemeine Zustimmung stoßen werden, eindeutige Vorgaben finden kann.
Entsprechend werden die Diskussionen um die optimale Tariffunktion (nicht nur) der Einkommensteuer ohne eine exakte Gerechtigkeitsvorgabe weitergehen, und es steht dabei in Umwidmung eines alten Aphorismus zu vermuten, dass mitunter der resultierende Mangel an Tiefe durch umso größere Länge ausgeglichen wird.
Die Folge kann hier wie in den anderen skizzierten Punkten nur sein, dass man sich so weit wie möglich auf das ökonomisch Greifbare beschränkt, anstatt vorschnell Gerechtigkeits- und/oder Verteilungsideale zu propagieren. Selbst und gerade wenn eine solche Propaganda im besten Willen geschähe, würde sie nämlich das allgemeine Verdikt des hinsichtlich einer Forderung nach geringerer Besteuerung von Kapitaleinkünften völlig unverdächtigen Berthold Brecht treffen: „Das Gegenteil des Guten ist nicht das Böse, sondern das gut Gemeinte!“
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2 Antworten auf „Die beliebtesten Irrtümer in Steuerdiskussionen“