In seinem aktuellen Jahresgutachten 2012/13 spricht sich der Sachverständigenrat auf den S. 220 ff. für die Einführung einer dualen Einkommensteuer zur Verbesserung der Eigenfinanzierung und Investitionstätigkeit inländischer Unternehmen aus. Zentrales Instrument dieses Vorschlags ist die „Zinsbereinigung des Grundkapitals“, was im vorliegenden Fall heißt, dass eine vorgegebene Verzinsung auf das eingelegte Eigenkapital, nicht aber auf thesaurierte Gewinne, von der ertragsteuerlichen Bemessungsgrundlage abgezogen wird und Veräußerungsgewinne/-verluste bei Kapitalgesellschaften (wieder) steuerlich irrelevant sind.
Obwohl sich der Sachverständigenrat in seinem detailliert beschriebenen Vorschlag für eine eher milde Form der in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelten Zinsbereinigung ausspricht, konnte sich eines seiner Mitglieder diesem Vorschlag nicht anschließen. Auf den S. 241 ff. ist Peter Bofingers „andere Meinung“ abgedruckt, zu der es viel zu sagen gäbe. Nachfolgend soll indessen nur sein erstes Argument betreffend die Verletzung des Leistungsfähigkeitsprinzips kommentiert werden, weil es sich auch bei anderen Wortmeldungen steuerpolitischer Provenienz angesichts seiner Pseudoplausibilität besonderer Beliebtheit erfreut.
Bofinger beschreibt den angeblichen Verstoß gegen das Prinzip der Leistungsfähigkeit als Basis der Besteuerung anhand eines Beispiels, in dem ein lediger Steuerpflichtiger mit einem zu versteuernden Einkommen aus unselbständiger Arbeit von 1 Mio. Euro rund 458.000 Euro Steuern zahlt. Ein von einer Aktiengesellschaft erwirtschafteter Vorsteuergewinn von ebenfalls 1 Mio. Euro führt demgegenüber bislang bei Vollausschüttung zu rund 483.334 Euro kumulierter Steuerlast auf Gesellschafts- und Anteilseignerebene. An diesem Status quo wird von Bofinger keine Kritik geübt, wohl aber an der für die im Falle einer Zinsbereinigung von ihm c.p. berechneten Steuern von 289.519 Euro für Kapitalgesellschaften und 263.750 Euro für Personengesellschaften. Auf den ersten Blick erscheint dies wirklich ungerecht, aber hält diese Plausibilität einer genaueren Betrachtung stand?
Selbst wenn man die Annahmen und Berechnungen, die Bofinger zur Erlangung dieser Ergebnisse heranzieht, akzeptieren würde, bliebe der von ihm vorgenommene Vergleich irrelevant. Ursache hierfür ist die unterschiedliche Weise, wie steuerliche Leistungsfähigkeit gemessen wird. Jenseits der im Einkommensteuergesetz benutzten Terminologie von sieben Einkunftsarten kann man ökonomisch eine grundsätzliche Zweiteilung für die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer vornehmen: Erträge aus Humankapital werden grundsätzlich über eine Überschussrechnung ermittelt, während Erträge aus Sach- und Finanzkapital durch einen Vermögensvergleich gemessen werden. Für unsere Frage muss nun nicht nach der theoretisch richtigen Form der Messung gesucht, sondern nur der differentielle Messeffekt als solcher thematisiert werden, und dabei ist offensichtlich, dass die steuerrechtliche Fixierung auf die Betrachtung einer Periode von einem Jahr wenig über die Leistungsfähigkeit von Kapital aussagt, dass über viele Jahre oder gar Jahrzehnte genutzt wird. Berücksichtigt man dies und betrachtet die gesamte Nutzungsdauer von Human-, Sach- und Finanzkapital, so kommt man am folgenden Resultat nicht vorbei: Solange am Kapitalmarkt positive Zinssätze existieren, führt die jährliche Überschussrechnung insgesamt zu einer geringeren steuerlichen Belastung als der jährliche Vermögensvergleich. Damit korrespondiert der Effekt, dass die Verzinsung von Humankapitalinvestitionen anders als bei Sach- und Finanzkapitalinvestitionen implizit steuerfrei bleibt. Entsprechend sind die für eine betrachtete Periode unterschiedlich ermittelten Bemessungsgrundlagen für einen fairen, an Steuerbarwerten orientierten Vergleich hinsichtlich der Leistungsfähigkeit zu korrigieren, was der Sachverständigenrat durch die von ihm vorgeschlagene Zinsbereinigung erreichen möchte. Die alternative Form der Berücksichtigung dieser Ungleichheit durch unterschiedliche Steuersätze ist demgegenüber offenkundig der Hauptgrund, weshalb er die Bereinigung nicht auf Eigenkapital anwenden möchte, das aus Thesaurierungen stammt (inwieweit dies sinnvoll ist, soll hier nicht weiter diskutiert werden).
Man kann sich das Ganze ungefähr wie die unterschiedliche Messung von Temperatur in den USA und Deutschland vorstellen. In beiden Ländern heißt die Temperatureinheit „Grad“, doch werden unterschiedliche Skalen (Fahrenheit bzw. Celsius) verwendet, hinter denen jeweils ein unterschiedliches Messkonzept steckt. Während 100Ëš Fahrenheit nur eine leicht erhöhte Körpertemperatur anzeigen, stehen 100Ëš Celsius für den Siedepunkt des Wassers. Kein Mensch käme auf die Idee, diese beiden Gradzahlen als gleichwertig für die vorherrschende Temperatur anzusehen, und analog unterschiedlich sind nach Überschussrechnung und Vermögensvergleich ermittelte steuerliche Bemessungsgrundlagen von 1 Mio. Euro für eine Periode hinsichtlich ihrer Aussagekraft für wirtschaftliche Leistungsfähigkeit.
Allerdings trägt die Analogie nicht in jeder Beziehung. Die Ergebnisse der beiden Temperaturmessungen lassen sich bekanntlich durch eine affin lineare Transformation ineinander überführen: Eine Gradzahl in Fahrenheit erhält man, indem man die Gradzahl in Celsius mit 1,8 multipliziert und dann 32 addiert. Eine derart einfache Beziehung besteht für einjährige Bemessungsgrundlagen der Einkommensteuer nicht. Das Verhältnis hängt vielmehr von einer Reihe von Faktoren wie beispielsweise dem Zinssatz und dem Verlauf von Kapitalaufbau und –verzehr ab. Dass diese Wertentwicklung bei Humankapital schwer zu bestimmen ist, birgt letztlich das wichtigste Argument dafür, dass man dort nur Überschüsse betrachtet. Letztlich ist die Gleichheit der periodischen Bemessungsgrundlage aber auch nicht relevant, weil es – wie beschrieben – auf die gesamte Nutzungsdauer für einen Leistungsfähigkeitsvergleich ankommt. Solange man daher bei Sach- und Finanzkapital nicht ebenfalls auf eine reine Cash Flow-Rechnung übergeht, sollte entsprechend eine Korrektur vorgenommen werden, die an dem langfristigen Effekt der Ungleichheit ausgerichtet ist und zu einem näherungsweise gleichen Steuerbarwert führt. Dies gelingt idealtypisch, wenn beim Vermögensvergleich eine fiktive Kapitalmarktverzinsung von der steuerlichen Bemessungsgrundlage abgezogen wird.
Ein Vergleich von unterschiedlich ermittelten Bemessungsgrundlagen pro Jahr ohne entsprechende Korrektur ist dagegen sinnlos und kann folglich auch nicht als Argument gegen die vom Sachverständigenrat vorgeschlagene Zinsbereinigung angeführt werden.
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3 Antworten auf „Messung von Temperatur und steuerlicher Leistungsfähigkeit: Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Warum Peter Bofinger irrt“