Darf’s noch ein bisschen mehr sein?
Zur Debatte um eine vermeintliche „Investitionslücke“ in Deutschland

Internationale Organisationen wie Währungsfonds oder EU-Kommission sehen eine Ursache für die schwache wirtschaftliche Entwicklung in Europa in der vermeintlich schwachen Nachfrageentwicklung, die wiederum (auch) eine Folge übermäßiger Konsolidierungsbemühungen in den öffentlichen Haushalten sei. Bis dahin ist es nur ein kurzer Schritt hin zur Forderung, dass insbesondere Deutschland durch Abkehr von seiner auf Nachhaltigkeit hin ausgerichteten Finanzpolitik der konjunkturellen Entwicklung zusätzliche Impulse geben solle. Im Mittelpunkt stehen dabei die (öffentlichen und privaten) Investitionen, die mit Verweis auf eine angebliche „Investitionslücke“ sowohl im zeitlichen wie im internationalen Vergleich schnell als „zu niedrig“ angesehen werden. Es finden sich erste Anzeichen dafür, dass diese Forderungen auch politisch auf durchaus fruchtbaren Boden stoßen, so in der Ankündigung eines 300 Mrd. Euro schweren Investitionsprogrammes durch die EU-Kommission und die Pläne der Bundesregierung, für den Zeitraum 2016 bis 2018 zusätzliche 10 Mrd. Euro für Investitionen zur Verfügung zu stellen und damit dem im Koalitionsvertrag formulierten Ziel, die „Gesamtinvestitionsquote“ über den OECD-Durchschnitt hinaus anzuheben.

Etwas erstaunlich ist, dass nichts hiervon in der breiten öffentlichen Diskussion kritisch hinterfragt wird; auch die großen Forschungsinstitute haben sich in ihrem Herbstgutachten (anders als etwa der Sachverständigenrat) durchaus positiv zur Stärkung der Investitionstätigkeit in Deutschland positioniert. Gerade auch aus ordnungsökonomischer Sicht bedarf es daher einer Überprüfung sowohl der Grundhypothesen als auch der daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen.

Zunächst einmal: Zwar ist es richtig, dass viele Länder der Europäischen Union sich in einer konjunkturell angespannten Lage befinden. Die Ursache hierfür liegt jedoch wohl kaum in einer Nachfrageschwäche, sondern eher darin, dass notwendige Strukturreformen auf den Güter- und Arbeitsmärkten, im Bankensektor und auch bei der Anpassung der öffentlichen Haushalte in den vergangenen Jahren eher zögerlich angegangen worden sind. Insoweit fehlt es nicht primär an Nachfrage, sondern an wachstumsorientierten Reformen, die zu einer Zunahme des Produktionspotentials der Volkswirtschaften beitragen könnten. Beispiele hierfür haben kürzlich Enderlein/Pisani[1] in einem auch im politischen Raum stark beachteten Thesenpapier dargelegt.

Gerade in Deutschland ist eine konjunkturelle Schwäche derzeit nicht zu beobachten, so dass die Forderung nach staatlichen Ausgabenprogrammen zur Konjunkturstützung hier vollends unangebracht ist: Für das Jahr 2015 wird ein Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts in Höhe von rund 1½% vorhergesagt, bei einer Output-Lücke von weniger als 1/2%. Angesichts eines niedrigen Potentialwachstums von rund 1% pro Jahr ist erkennbar, dass Deutschland damit alsbald wieder eine Phase normal ausgelasteter Kapazitäten vorstoßen wird. Konjunkturprogramme bergen insoweit – gerade auch wegen ihres zumeist verzögerten Wirksamwerdens– das Risiko eines letzthin prozyklischen konjunkturellen Impulses.

Eher überzeugen könnte demgegenüber die Argumentationslinie, dass Deutschland ein „zu geringes“ Potentialwachstum aufweist, Investitionen also erforderlich sein könnten, die Angebotsbedingungen in der Wirtschaft zu stärken. Tatsächlich sind die öffentlichen Nettoinvestitionen seit Beginn des letzten Jahrzehnts negativ (was man auch so interpretieren kann, dass der Infrastrukturkapitalstock „auf Verschleiß gefahren wird“), und auch die privaten Investitionen sind seit längerer Zeit äußerst schwach: Seit Beginn der 1990er Jahre ist die Investitionsquote insgesamt von rund 22% auf 16% des Bruttoinlandsprodukts gefallen. Das Argument einer „strukturellen Investitionsschwäche“ Deutschlands wird zudem durch internationale Vergleich zu unterstützen versucht: Nach Schätzungen des DIW, die auf der Vorstellung einer durch ökonomische Fundamentaldaten determinierten „Normalinvestitionsquote“ beruhen, weist Deutschland gegenüber den übrigen OECD-Ländern derzeit eine „Investitionslücke“ von 3,7% des Bruttoinlandsprodukts (oder 75 Mrd. Euro jährlich) auf;[2] andere Autoren und Institutionen nennen, nachdem dieser Stein erst einmal ins Rollen gebracht wurde, sogar noch höhere Zahlen.

Zweifel sind aber auch hier angebracht: Zum einen scheint ein internationaler Vergleich von Investitionsquoten, der auf statistischen Zusammenhängen zwischen Investitionen und Ausprägungen struktureller Daten aus der Vergangenheit beruht, kaum statthaft. Hinzu kommt, dass dabei institutionelle Besonderheiten der einzelnen Länder (wie z.B. eine Überinvestition in einzelnen Ländern aufgrund Fehlversagen der Finanzmärkte) nur unzureichend berücksichtigt werden. Zum anderen ist auch ein zeitlicher Vergleich nicht wirklich nützlich, da die langfristige Investitionstätigkeit in Deutschland in starkem Maße durch die zunächst expansiven, dann kontraktiven Effekte der deutschen Einheit (sowie, weniger prominent, durch den Zusammenbruch der sogenannten dotcom-Blase Anfang der 2000er Jahre) beeinflusst worden ist. Investitionen, die den Nachholbedarf in den neuen Ländern und temporäre Fehleinschätzungen der Unternehmen widerspiegeln, können insoweit wohl kaum zum Maßstab der heutigen Investitionshöhe gemacht werden. Betrachtet man überdies die Ausrüstungsinvestitionen allein, so ist auch im Zeitablauf eine Investitionsschwäche in Deutschland nicht auszumachen: Die reale Ausrüstungsinvestitionsquote ist von 1993 bis 2012 sogar leicht gestiegen.[3] Es wäre insoweit betrüblich, würde die Politik sich diese Sichtweise zu eigen machen und quantitative Zielvorstellungen zum Maßstab ihrer Politik zu nehmen.

Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass höhere Investitionen mit Blick auf das schwache Potentialwachstum angemessen sein könnten (wobei hier dann aber nicht nur die „klassischen“ Investitionsfelder einzubeziehen sind, sondern, wie mit der jüngsten Revision der VGR nachvollzogen, auch Investitionen in Forschung und Entwicklung). Investitionsprogramme zu fordern, greift aber zu kurz: Zumindest mit Blick auf die privaten Investitionen ist zu fragen, was der Grund für die (aktuelle) Investitionszurückhaltung deutscher Unternehmen ist.

Dies lenkt den Blick unmittelbar auf die Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns in Deutschland: Deutschland weist auf längere Sicht eher ungünstige wirtschaftliche Perspektiven auf, weil mit rückläufiger (und zugleich alternder) Bevölkerung weder mit hohen Nachfragesteigerungen noch mit einer angebotsseitigen Steigerung der Attraktivität des Investitionsstandorts gerechnet werden kann. Insoweit scheinen eher ungünstige Renditeerwartungen der Unternehmen Grund dafür zu sein, dass trotz aktuell äußerst günstiger Finanzierungsbedingungen eher wenig investiert wird. Hierfür spricht auch die Tatsache, dass viele deutsche Unternehmen durchaus investieren – aber nicht im Inland, sondern im Ausland; die Direktinvestitionen deutscher Unternehmen betrugen im Jahr 2013 rund 20% der in Deutschland getätigten Investitionen (ohne Wohnungsbau, Tiefbau und FuE). Zwar ist ein eher komplementäres Verhältnis zwischen Investitionen im Inland und im Ausland anzunehmen; dennoch wird auch hierdurch unterstrichen, dass die Investitionsbedingungen hierzulande derzeit nicht optimal sind.

Neben unzureichenden Investitionsrenditen dürfte darüber hinaus auch eine nicht zuletzt durch politische Entscheidungen verursachte Verunsicherung vieler Unternehmen ein Grund für die Investitionszurückhaltung sein; sowohl die Mindestlohngesetzgebung, die mit den jüngst erfolgten Rentenreformen angelegten Beitragssatzsteigerungen bei den Sozialversicherungen und die Unwägbarkeiten der „Energiewende“ dürften im Zweifel die Unternehmen dazu veranlassen, weit in die Zukunft reichende Investitionsentscheidungen zumindest solange zurückzustellen, bis weitergehende Klarheit über die künftigen Rahmenbedingungen besteht.

All dies spricht dafür, dass eine auf die Stärkung von privaten Investitionen zielende Politik nicht primär auf direkte Hilfen an die Unternehmen setzen sollte, sondern vielmehr die allgemeinen investitionsrelevanten Rahmenbedingungen wenn nicht verbessern, so doch wenigstens stabilisieren sollte. Gerade vor dem Hintergrund einer eher wenig wirtschaftsfreundlichen Gesetzgebung in den vergangenen 12 Monaten scheint hier ein größeres Erfolgspotential zu liegen als in weitergehenden (monetären) Anreizen, denen bei ohnehin schon niedrigen Zinsen kaum größere Erfolgsaussichten beizumessen sind.

Es bleiben die öffentlichen Investitionen; auch hier werden teilweise erhebliche Forderungen an die Politik gestellt,[4] wobei diese freilich oftmals eher wirtschaftlichem Interesse oder einer rein ingenieurwissenschaftlichen Betrachtungsweise geschuldet scheinen. Doch auch wenn es zumindest anekdotische Evidenz über zunehmenden Verschleiß bei Straßen und Brücken oder bei öffentlichen Gebäuden gibt, spricht dies nicht unbedingt für eine starke Ausweitung des staatlichen Investitionsbudgets: Investitionstheoretische Überlegungen sprechen dafür, dass es im öffentlichen Bereich irgendwann zu Sättigungstendenzen beim notwendigen Kapitalstock kommt, und, mehr noch, ein Teil der in der Vergangenheit aufgebauten öffentlichen Infrastruktur wird bei schrumpfender Bevölkerung womöglich gar nicht mehr benötigt. Schließlich ist auch nicht zu verkennen, dass eine Vielzahl von öffentlichen Bauvorhaben nach aller Erfahrung ohnehin nur einen geringen Wachstumseffekt aufweisen, sondern eher konsumtiven Zwecken dienen. Der Sachverständigenrat taxiert den jährlichen Mehrbedarf an öffentlichen Investitionen daher lediglich auf einen „niedrigen einstelligen“ Milliarden-Betrag.[5] Dies scheint allein durch Umschichtungen in den öffentlichen Haushalten realisierbar zu sein, ohne dass es hierzu einer Abkehr vom Konsolidierungskurs bedarf.[6] Wichtige Voraussetzung hierfür ist es allerdings, vorab eine Engpassanalyse tatsächlich notwendiger (wachstumsrelevanter) Investitionsprojekte vorzunehmen anstatt die zur Verfügung stehenden Mittel wie bisher häufig geschehen nach Länderproporz zu verteilen.

Alles  in allem: Es ist sicherlich wohlfeil, nach vermehrten Investitionen zu rufen; gerade im öffentlichen Bereich scheint es für viele Bürger offensichtlich, dass es Investitionsbedarfe gibt (und es ist sicherlich auch wählerwirksam, kurz vor der nächsten Bundestagswahl neue Straßen und Brücken der öffentlichen Nutzung zu übergeben). Eine Politik, die sich dem Ziel verschrieben hat, Deutschlands Zukunft  zu gestalten (so die Überschrift des Koalitionsvertrags der Bundesregierung), muss hierfür aber ganz sicherlich mehr tun – denn langfristig ist nichts umsonst, vor allem aber nicht, heute Geld in die Hand zu nehmen, um damit weitere Annehmlichkeiten für die heutige Generation zu finanzieren.



[1] Vgl. Henrik Enderlein/Jean Pisani-Ferry, Reform, Investments and Growth: An Agenda for France, Germany and Europe, Berlin, November 2014.

[2] Vgl. DIW (Hrsg.), Schwache Investitionen dämpfen Wachstum in Europa, DIW-Wochenbericht 27/2014.

[3] Der Sachverständigenrat (JG 2014, Tz. 435) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die in Relation zum BIP rückläufigen nominalen Ausrüstungsinvestitionen durch relativ sinkende Investitionsgüterpreise verzerrt sind.

[4] So wird vom DIHK den allein zum Substanzerhalt notwendige Investitionsbedarf mit knapp 20 Mrd. Euro jährlich veranschlagt; vgl. DIHK, Investitionslücke schließen – Standortstärke sichern, Berlin 2014, S. 8.

[5] Vgl. SVR, JG 2014, Tz. 444.

[6] Vorschläge dieser Art werden mit Verweis auf die im Rahmen der Schuldenbremse beim Bund noch zulässige Nettokreditaufnahme in Höhe von 0,35% des BIP (entspricht etwa 9 Mrd. Euro) zum Beispiel von den führenden Wirtschaftsforschungsinstituten in ihrer Gemeinschaftsdiagnose vom Herbst 2014 unterbreitet.

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