Italien betreibt eine wesentlich nachhaltigere Finanzpolitik als Deutschland. Kann das sein? Mit einer Schuldenstandsquote von über 130 Prozent? Verglichen mit rund 76 Prozent in Deutschland? Die Behauptung stammt von Laurence Kotlikoff, der an der Boston University forscht. Er beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Entwicklung von Methoden, mit denen man die Frage beantworten kann, ob eine aktuelle Finanzpolitik langfristig durchzuhalten ist, oder ob eine Konsolidierung in der Zukunft absehbar notwenig ist. Man sollte also nicht gleich amüsiert abwinken, sondern sich seine Argumente etwas genauer anschauen.
Kotlikoffs Argumentation hat einen einfachen Ausgangspunkt: Um zu ermitteln, ob eine aktuelle Politik tatsächlich langfristig aufrecht zu erhalten ist, muß man sich nicht nur die normale, sogenannte explizite Staatsschuld ansehen, von der wir in Statistiken und Wirtschaftsnachrichten regelmäßig hören, sondern auch die implizite Verschuldung. Diese setzt sich zusammen aus den über die explizite Schuld hinausgehenden Leistungsversprechen des Staates für die Zukunft, die nicht durch erwartete Einnahmen gedeckt sind.
Die diesbezüglichen Werte, die Kotlikoff anführt, stammen aus dem Fiscal Sustainability Report der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2012. Es geht hier zunächst um die fiskalische Lücke, die definiert ist als die Differenz zwischen dem Gegenwartswert aller erwarteten zukünftigen Ausgaben und dem Gegenwartswert aller erwarteten zukünftigen Einnahmen. Diese beträgt nach den erwähnten Berechnungen der Kommission für Deutschland 1,4 Prozent des BIP, für Italien dagegen minus 2,3 Prozent. Anders ausgedrückt: In der langen Frist muß Deutschland sparen, während Italien mehr ausgeben kann – Kotlikoff sieht den Gegenwartswert dieser zusätzlich möglichen Ausgaben über den langen Zeithorizont für Italien bei insgesamt 180 Milliarden Euro.
Um die Zahlen zu verstehen, muß man zurück zur Originalquelle gehen und sich ansehen, wie die Kommission die fiskalische Lücke in diesem Fall berechnet hat. Zunächst zu den verwendeten Daten: Ausgegangen ist man von den Prognosen, die 2012 für die Fiskalpolitik der Mitgliedstaaten bis 2014 vorlagen. Dann hat man berechnet, wie von den prognostizierten Daten für 2014 ausgehend die Finanzpolitik bis 2020 angepasst werden müsste, um zwei unterschiedliche Stabilitätskriterien zu erfüllen. Das mittelfristige Kriterium (S1 genannt) enthält drei Ziele: Erstens ein Primärsaldo im Jahr 2020, bei dem die Schuldenstandsquote nicht mehr wächst. Zweitens soll dieser Primärsaldo auch sicherstellen, daß bis 2030 das Maastricht-Kriterium einer Quote von 60 Prozent des BIP erfüllt ist. Und drittens wird die Notwendigkeit der Anpassung an demographische Kosten bis 2030 berücksichtigt. Das langfristige Krieterium (S2 genannt) interessiert sich dagegen nicht für das Maastricht-Kriterium, sondern nur für die Stabilisierung der Schuldenstandsquote und die demographischen Kosten. Außerdem reicht sein Zeithorizont bis ins Jahr 2060.
Die Zahlen, die Kotlikoff berichtet, sind die langfristigen, bis 2060 reichenden. Es sind also die Zahlen unter der Annahme, daß Italien seine Schuldenstandsquote etwa auf den aktuellen, sehr hohen Stand stabilisiert und niemals das Erfüllen des Maastricht-Kriteriums anstrebt. Nimmt man stattdessen das S1-Kriterium, so drehen sich die Vorzeichen um und Deutschland steht etwas besser da als Italien (Deutschland: S1=-0,3 Prozent des BIP; Italien: S1=0,6 Prozent). Außerdem ist zu berücksichtigen, daß über diese sehr lange Frist bis 2060 die jährlichen Mehrausgaben, die Italien sich nach dem S2-Kriterium leisten könnte, je nach Annahmen jedenfalls auf einen einstelligen Milliardenbetrag schrumpfen.
Aber es kommt noch einiges hinzu. Die Berechnungen gehen, wie gesagt, von Prognosen aus, die 2012 für das Jahr 2014 berechnet wurden. In diesen Prognosen steht Italien sehr gut da, mit einem Primärüberschuß für 2014 von 5 Prozent. Tatsächlich geht man aktuell eher von einem Überschuß von 3,8 Prozent für 2014 und 3,7 Prozent für 2015 aus. Hier ist Italien also hinter den Erwartungen zurückgeblieben, was den Spielraum für höhere jährliche Ausgaben weiter schrumpfen läßt. In der langen Perspektive fällt der Vergleich zwischen Italien und Deutschland damit weniger spektakulär aus, aber die S2-Fiskallücke Italiens sieht dennoch weiterhin etwas besser aus als die Deutschlands. In der mittleren Frist dagegen öffnet sich die Schere weiter und der Anpassungsgdruck Italiens wird deutlich größer.
Man muß die konkreten Zahlen Kotlikoffs also am besten nicht nur cum grano salis, sondern lieber mit einem ganzen Sack voll Salz nehmen. Das liegt aber in der Natur der Sache. Die Berechnung von impliziten Schuldenständen und Fiskallücken ist wegen der sehr langen Frist extrem sensitiv gegenüber den Annahmen, die man trifft. Hier spielen, wie gesehen, die Annahmen über den Zustand der Finanzpolitik am Beginn des Berechnungszeitraums eine Rolle. Hinzu kommen aber auch noch Annahmen über die langfristigen Wachstumspfade der beobachteten Volkswirtschaften, über sehr langfristige demographische Entwicklungen und vieles mehr. Und vor allem: Die Berechnungen stehen immer unter der (für die Analyse auch sinnvollen) Prämisse, daß die Finanzpolitik und alle anderen budgetär relevanten Politikfelder insgesamt stabil bleiben – man will schließlich wissen, wie der Anpassungdruck ausgehend vom Status Quo aussieht.
So vorsichtig man mit den quantitativen Daten umgehen muß, so interessant sind sie doch im Hinblick auf die qualitative Beurteilung der aktuellen Lage. Der Grund für die relativ positive Situation Italiens bei Berücksichtigung auch der impliziten Schuld ist in seinen Rentenreformen zu suchen. In diesem Bereich ist es der italienischen Politik gelungen, das Land auf die zu erwartende demographische Entwicklung sehr gut vorzubereiten. In Deutschland hingegen geht die Tendenz mit dem erneuten Herabsetzen des Renteneintrittsalters bekanntlich in die genau entgegengesetzte Richtung.
Der Vorteil von Methoden wie der Berechnung der impliziten Schuld und der fiskalischen Lücke besteht darin, daß sie zeigen, wie man bereits mit überschaubaren Reformen in der Gegenwart langfristige Entwicklungspfade so verändern kann, daß – eben aufgrund des langen Zeithorizonts – die Effekte beachtlich sind. Das funktioniert aber (aus deutscher Sicht: leider) auch in die andere Richtung. Kleine Unverantwortlichkeiten beim Basteln am Rentensystem, oder auch bei der Einführung neuer Rigiditäten am Arbeitsmarkt mit ihren negativen Wachstumseffekten, bilden sich in der sehr langen Frist zu erheblichen Problemen aus.
Deutschland steht mit seiner expliziten Staatsverschuldung relativ (allerdings mit einer Schuldenstandsquote von über 70 Prozent immer noch nicht absolut) gut da, aber mit der schludrigen Reformpolitik der letzten Jahre ist es unter dem Strich doch alles andere als ein europäischer Musterschüler. Dieser Weckruf ist den Untersuchungen der langfristigen finanzpolitischen Nachhaltigkeit deutlich zu entnehmen.
- Auch Du, Brutus?
Die NZZ auf einem Irrweg zu höherer Staatsverschuldung - 21. Oktober 2024 - Wie steht es um den Bundeshaushalt 2025 – und darüber hinaus? - 19. September 2024
- Die Krise des Fiskalföderalismus
Dezentralisierung und Eigenverantwortung sind notwendiger denn je - 31. Juli 2024