Säkulare Stagnation (1)
Nachfragemangel schwächt langfristiges Wachstum
Gute Idee oder heiße Luft?

„Secular stagnation, we have learned, is an economist’s Rorschach Test. It means different things to different people.“ (Barry Eichengreen)

„Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.“ Dieser Spruch von Mark Twain hat was, auch für die Ökonomie. Es ist bald schon ein Jahrzehnt her, dass die Finanzkrise ausbrach, die weltweit größte Krise seit der „Großen Depression“. Ökonomen sprechen von der „Großen Rezession“. Nach wie vor ist die wirtschaftliche Entwicklung enttäuschend. Die Arbeitslosigkeit ist noch immer meist höher als zuvor. Das wirtschaftliche Wachstum ist weiter anämisch. Auf den ersten Blick ähnelt die Entwicklung heute der nach der „Großen Depression“. Das ist die Zeit der Pessimisten, damals wie heute. Alvin Hansen sprach im Jahre 1938 von „Säkularer Stagnation“. Heute sehen prominente Ökonomen eine ähnliche Entwicklung heraufziehen. Das wirtschaftliche Wachstum stockt. Der Harvard-Ökonom Lawrence Summers bemängelt die unzulängliche gesamtwirtschaftliche Nachfrage, Robert Gordon von der Northwestern University eine rückläufige Rate der Innovation. Die historische Entwicklung hat den Pessimisten allerdings nicht Recht gegeben. Eine „Säkulare Stagnation“ fand nicht statt. Wird die Entwicklung dieses Mal anders verlaufen?

Schwaches Wachstum

Für die Pessimisten war früher vieles besser. Die wirtschaftliche Entwicklung folgte einem klaren Muster. Langfristig wuchsen die Länder stetig mit einer positiven Rate, die einen mehr, andere weniger. Für die USA etwa lag das Wachstum seit 1880 bei ungefähr 2 % pro Jahr. Überall schwankte die Konjunktur um die länderspezifischen Wachstumsraten. Waren die Einbrüche schwer, waren die Aufschwünge steil. Mehr Nachfrage schloss die aufgetretene Output-Lücke. Als die Dot-Com-Blase im Jahre 2001 platzte, änderte sich etwas. Der Aufschwung kam nur mühsam in Gang. Eine sehr expansive Geld- und Fiskalpolitiken machten ihm wieder Beine. Allerdings zog sich der Abbau der Arbeitslosigkeit hin. Es war lange ein Aufschwung „ohne“ Arbeitsplätze. Dieses Mal scheint aber alles anders. Nach dem starken Einbruch 2007 lässt der steile Aufschwung auf sich warten. Das Wachstum ist anämisch. Die Arbeitslosigkeit geht nur sehr langsam zurück. Die Output-Lücke schließt sich, allerdings oft vor allem deshalb, weil das Produktionspotential schrumpft. Kein Wunder, dass die Angst vor „säkularer Stagnation“ umgeht.

Outputlücke
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Tatsächlich zeigt die Trendrate des wirtschaftlichen Wachstums aber schon seit einiger Zeit nach unten. Der Wurm ist offensichtlich schon länger drin. Die Wachstumswunderjahre nach dem 2. Weltkrieg waren spätestens mit den Ölpreiskrisen Mitte der 70er Jahre zu Ende. Das galt für die USA wie für Europa. Bis Anfang der 00er Jahre stabilisierten sich allerdings die Wachstumsraten sowohl in den USA als auch in Europa, mit Vorteilen für die USA. Spätestens seit dem Dot-Com-Desaster zu Beginn des Jahrtausends stürzten sowohl das amerikanische als auch das europäische Wachstum ab. Während es aber in den USA nach der Finanzkrise 2007 einen Boden bei über 1,6 % fand, ging der freie Fall in Europa weiter. Dort liegt das Trendwachstum mittlerweile im negativen Bereich. Diese seit fast 15 Jahren anhaltende Entwicklung schürt die Angst vor „säkularer Stagnation“. Die Ursachen des langfristigen Trends des wirtschaftlichen Wachstums sind nach wie vor umstritten. Angebots- und nachfrageseitige Gründe spielen eine prominente Rolle in der Diskussion. Vieles spricht allerdings eher für strukturelle Treiber.

Trendwachstum
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Ein Paradigmenwechsel

Der Blick auf die empirischen Fakten zeigt: Vor allem reiche Länder leiden schon seit längerem unter einer anhaltenden Schwäche des wirtschaftlichen Wachstums. Das wird nicht von allen so gesehen. Viele sprechen eher von einer Rückkehr zur Normalität. Die hohen Wachstumsraten der Nachkriegszeit waren die Ausnahme, nicht die Regel. Vor allem Europa profitierte von einem Aufholprozess zum amerikanischen technologischen Spitzenreiter. Danach herrschte in der Zeit nach den Ölpreiskrisen und dem Platzen der Dot-Com-Blase wieder wachstumspolitische Normalität. Erklärungsbedürftig ist allerdings der Rückgang des Trendwachstums seit Beginn des neuen Jahrtausends. Das gilt für die schwächeren, sich allerdings stabilisierenden Wachstumsraten der USA. Es trifft aber noch stärker für den Absturz des wirtschaftlichen Wachstums in Europa zu. Die traditionelle Theorie ist eindeutig: Das Wachstum des Produktionspotentials wird langfristig von der Menge und der Qualität der Produktionsfaktoren bestimmt. Die treibende Kraft ist das aggregierte Angebot, nicht die gesamtwirtschaftliche Nachfrage.

Das sehen keynesianische Ökonomen wie Lawrence Summers oder Paul Krugman, grundsätzlich anders. Sie stellen die traditionelle Sicht von Konjunktur und Wachstum auf den Kopf. Nach „alter“ Vorstellung schwankt die gesamtwirtschaftliche Nachfrage kurzfristig um den langfristigen Pfad des potentiellen Outputs. Sie beeinflusst aber den langfristigen Trend nicht. Dafür sorgen allein angebotsseitige Faktoren. Die Neu-Keynesianer sind hingegen der Meinung, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage beeinflusst das Trendwachstum selbst. Damit wird sie zu einem wichtigen Treiber des wirtschaftlichen Wachstums. Ein Mangel an Nachfrage produziert einen Angebotsüberhang auf dem Gütermarkt, nicht nur temporär, sondern dauerhaft. Die relativen Preise (Löhne, Güterpreise, Zinsen) können ihn nicht beseitigen. Sie sind anhaltend nach unten inflexibel. Das trägt dazu bei, dass die Produktionskapazitäten dauerhaft unterausgelastet bleiben. Die Anpassung muss über die Mengen (Güter, Faktoren) erfolgen. Das Produktionspotential passt sich nach unten an. Ein stagnierendes wirtschaftliches Wachstum ist unvermeidlich.

Negative Realzinsen

Die keynesianische Theorie analysiert den Konjunkturzyklus. Ein Mangel an Nachfrage treibt die Arbeitslosigkeit. Inflexible Zinsen verhindern Vollbeschäftigung. Das ist aber allenfalls ein temporäres, kein permanentes Problem. Zinsen sind zwar kurz- aber nicht langfristig nach unten starr. Aus diesem vorübergehenden Ungleichgewicht konstruieren die keynesianischen Stagnationstheoretiker ein dauerhaftes. Die These lautet: Private Ersparnisse steigen dauerhaft an, private Investitionen gehen anhaltend zurück. Der Angebotsüberhang bleibt länger erhalten. Mit höheren Ersparnissen ist weltweit zu rechnen, weil (1) die Bevölkerung älter wird und mehr für das Alter spart, (2) die Schwellenländer reicher werden und verstärkt Ersparnisse bilden und (3) die Einkommen ungleicher verteilt werden und höhere Einkommensschichten mehr sparen. Die Investitionen sind dauerhaft niedriger, weil (1) die Kapitaltiefe moderner Produktion („software“ versus „hardware“) zurückgeht, (2) die Preise für Investitionsgüter weiter sinken und (3) ein globalisierungsgetriebener intensiver Strukturwandel  die Risikoprämie erhöht.

Negative Realzinsen
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In dieser Welt kann nur ein negativer Realzins für Abhilfe sorgen. Er sollte sich allerdings am „natürlichen Zins“ (Knut Wicksell) orientieren. Das ist der Zins, bei dem alle Produktionsfaktoren bei flexiblen relativen Preisen voll beschäftigt sind. Der „natürliche Zins“ wird von realen Faktoren bestimmt. Das sind alle Faktoren, die über die Lage von Spar- und Investitionskurve bestimmen, etwa die individuelle Zeitpräferenzrate, die demographische Entwicklung, die erwartete Kapitalproduktivität, das Steuer- und Ausgabengebaren des Staates und viele andere mehr. Er ist aber in der Realität nicht direkt beobachtbar, da er der kontrafaktische Zins ist, bei dem alle Faktoren vollbeschäftigt wären. Der „natürliche Zins“ hängt nicht von geldpolitischen Aktivitäten ab. Die Geldpolitik sollte allerdings versuchen herauszufinden, wie hoch er ist und sich an ihm orientieren. Nur so kann es gelingen, weitere allokative Verzerrungen zu vermeiden. Wenn der „natürliche Zins“ gegenwärtig und möglicherweise auch künftig negativ ist, muss die Geldpolitik versuchen, den direkt beobachtbaren langfristigen Realzins negativ zu gestalten.

Keynesianische Politikvorschläge

Was ist zu tun, damit der Realzins negativ wird? Ein erster Ansatzpunkt sind sinkende Nominalzinsen. Dieser Weg ist allerdings versperrt, wenn sich die Länder an der Null-Zins-Grenze befinden. Das ist heute fast überall der Fall. Ein Versuch, die langfristigen Zinsen zu senken, ist der massive Kauf von Staatspapieren durch die Notenbanken. Eine solche Politik des QE stößt aber an Grenzen der Wirksamkeit und Legitimität. In den USA und Japan war sie nicht erfolgreich, in der EWU ist monetäre Staatsverschuldung verboten. Ein zweiter Ansatzpunkt ist der Weg, die Erwartungen über das allgemeine Preisniveau nachhaltig zu erhöhen. Mit einer Selbstheilung ist in einer keynesianischen Welt von Angebotsüberhängen auf den Gütermärkten nicht zu rechnen. Disinflation und Deflation sind eher wahrscheinlich. Ob eine glaubwürdige Anhebung des Inflationsziels durch die Notenbanken funktioniert, ist höchst ungewiss und gefährlich. Sie müssten glaubwürdig versprechen, geldpolitisch nachhaltig unverantwortlich zu handeln (Paul Krugman). Die Geldpolitik dürfte deshalb scheitern, einen permanent negativen Realzins zu installieren.

Als dritter Ansatzpunkt bleibt die Fiskalpolitik. Der Staat muss die ständige Nachfragelücke durch immer neue Defizite schließen. Werden Human- und Realkapital unterbeschäftigt, entwerten sie sich. Dieser Hysterese-Effekt verringert Menge und Qualität von Arbeit und Kapital dauerhaft. Das wirtschaftliche Wachstum stagniert. Über diesen Kanal kann mangelnde gesamtwirtschaftliche Nachfrage stagnierendes Wachstum auslösen. Um ihn nachhaltig zu verstopfen, muss der Staat sich ständig neu verschulden und die Nachfragelücke schließen. Investiert er in Projekte, die sich rechnen, wie etwa Bildung und Infrastruktur, ist in der Tat mit positiven Effekten auf das Wachstum zu rechnen. Die Gefahr ist bei niedrigen Zinsen allerdings groß, dass die Politik auch unrentable Projekte finanziert. Damit lässt sich aber das Wachstum nicht stärken, im Gegenteil. Wachsende Schuldenberge produzieren ein weiteres Problem. Sie machen Staaten anfälliger gegen exogene Schocks. Geraten etwa systemrelevante Banken in Schieflage, ist staatliche Hilfe kaum mehr möglich. Staatsverschuldung ist selbst bei Null-Zinsen nicht kostenlos.

Offene Fragen

Lawrence Summers zimmert aus einer kurzfristigen Konjunktur- eine langfristige Wachstumstheorie. Er hat allerdings mit mindestens zwei grundsätzlichen Problemen zu kämpfen. Seine Überlegungen basieren auf der Annahme, dass der vollbeschäftigungskonforme Realzins negativ ist, auch in der langen Frist. Der „natürliche Zins“ ist nicht direkt beobachtbar. Es gibt aber einige Versuche für die USA, ihn zu quantifizieren. Danach geht er schon seit den 60er Jahren zurück, bleibt aber positiv. Erst nach der Finanzkrise wird er leicht negativ, hat aber die Null-Zins-Grenze inzwischen schon wieder überschritten. Der „Ausrutscher“ in den negativen Bereich war der wachsenden wirtschaftlichen Unsicherheit von Haushalten und Unternehmen im Zuge der Finanzkrise 2007 und dem Mangel an sicheren staatlichen und seit der Lehman-Pleite auch privaten Wertpapieren geschuldet (Ricardo J. Cabellero und Emmanuel Farhi). In Zeiten großer Unsicherheit sorgt die Liquiditätsprämie sicherer Papiere für niedrige, oft negative Zinsen. Längerfristig ist der „natürliche Zins“ positiv. Dafür sorgen allein schon unsinnige Investitionen bei negativen Zinsen (Ben Bernanke).

Der natürliche Zins
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Der keynesianischen Stagnationstheorie fällt es auch schwer zu erklären, wie die gesamtwirtschaftliche Nachfrage das langfristige Wachstum treiben kann. Keynes und die heutigen Keynesianer glauben daran, dass langfristig die relativen Preise flexibel sind und allein Angebotsfaktoren das Wachstum bestimmen. In der kurzen Frist entscheidet wegen inflexibler relativer Preise aber die aggregierte Nachfrage über Output und Beschäftigung. Der Übertragungskanal von Nachfrage zu Wachstum, den keynesianische Stagnationstheoretiker anbieten, läuft über den Hysterese-Effekt der Beschäftigung. Geringe Güternachfrage entwertet das Humankapital arbeitsloser Arbeitnehmer und verringert langfristiges Angebot und wirtschaftliches Wachstum. Wie tragfähig dieses Argument empirisch ist, bleibt abzuwarten. Wichtiger ist allerdings, dass bei einem Anstieg der Arbeitslosigkeit, nicht klar ist, ob er auf Angebots- oder Nachfragefaktoren zurückzuführen ist. Die Gefahr ist groß, dass die Politik abwartet, Aktivitäten zu ergreifen. Ist der Hysterese-Effekt erst einmal eingetreten, ist die Fiskalpolitik beschäftigungspolitisch allerdings weitgehend wirkungslos.

Fazit

Der Keynesianismus erlebt gegenwärtig eine Renaissance. Lawrence Summers wärmt seit einiger Zeit die These der „Säkularen Stagnation“ von Alvin Hansen aus der Zeit nach der „Großen Depression“ wieder auf. Er erklärt das stagnierende wirtschaftliche Wachstum seit der Jahrtausendwende mit einem dauerhaften Mangel an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage. Schuld daran sei ein zu hoher Realzins. Nur ein fiskalpolitisch hyper-aktiver Staat könne die Nachfragelücke schließen. Dazu müsse er sich ständig neu verschulden. Das probate Mittel gegen „säkulare Stagnation“ sei mehr Staat. Lawrence Summers liegt heute nach der „Großen Rezession“ genauso falsch wie Alvin Hansen nach der „Großen Depression“. Damals wie heute ist die Angst vor einem Mangel an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage unbegründet. Die Wirtschaft ist noch nie nachhaltig gewachsen, weil der Staat einen immer größeren Schuldenberg angehäuft hat. Der Schlüssel für Wachstum liegt auf der Angebotsseite. Ein besserer Ordnungsrahmen ist die adäquate Antwort. Darauf sollte sich die Politik konzentrieren und nicht auf nachfragepolitische Strohfeuer.

6 Antworten auf „Säkulare Stagnation (1)
Nachfragemangel schwächt langfristiges Wachstum
Gute Idee oder heiße Luft?

  1. „Secular stagnation“ combines an observation, that growth has slowed remarkably, with a diagnosis and cure: lack of „aggregate demand“ and a need for much more „stimulus,“ large public works projects in particular. On the former, I agree. On the latter, this essay is intentionally its diametric opposite. No, do not add fertilizer, weed the garden. Fix zoning, regulation and so forth — rather than build a second high speed train on borrowed money, this time from, say Chico to Colusa, and count on „demand“ and „multipliers,“ while leaving the weeds alone.
    John H. Cochrane, Economic Growth, in: The Grumpy Economist, October 26, 2015

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