Wer mit Sicherheit wüsste, wie die Verhandlungen über die „Rettung Griechenlands“ ausgehen, könnte viel Geld verdienen, wenn er über hinreichend viel Kapital verfügen würde, um entsprechend hohe einseitige Wetten an den Kapitalmärkten abschließen zu können. Eine solche Sicherheit gibt es jedoch nicht. Denn “Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen“ (Mark Twain). Die Experten liegen jedenfalls meist nicht richtig (If you are so smart, why ain’t you rich?).
1. Von Experten zu Versicherungen
Das bedeutet allerdings kaum, dass es unvernünftig wäre, auf das eine oder das andere Resultat der Verhandlungen zur Rettung Griechenlands zu setzen. An den Kapitalmärkten geschieht dies täglich. Auch wenn Medien und Bürger es gern als „Spekulation“ verurteilen, gibt es sehr gute Gründe für dieses Verhalten. Wenig bewusst ist den meisten von uns, dass wir selber mitwetten. Denn jeder, der einen etwas höheren Bargeldbetrag bei seiner Bank hält, könnte diesen ohne große Kosten in US-Dollar wechseln und diesen Betrag auf einem Dollar-Konto halten, um sich so gegen eine Euro-Entwertung zu versichern. Sollte es zum Grexit kommen und sollte dies, wie populäre, an Sensationen interessierte Medien gern verbreiten, zu einer Euro-Krise und einer fundamentalen Abwertung des Euro gegenüber dem Dollar beitragen, so wäre es danach möglich, in den Euro zurückzukehren und mit einem gewissen Gewinn abzuschließen.
Sicher ist nicht, dass der Gewinn eintritt. Sicher ist nur, dass der Staat, der die Euro-Probleme selbst mitangerichtet und die Bürger den entsprechenden Unsicherheiten durch Schlamperei und politischen Opportunismus beim Griechenlandbeitritt ausgesetzt hat, verdienen würde. Nach dem Versagen seiner steuernden, würde er gern seine „steuerliche“ Hand aufhalten.
Jeder Bürger, der nichts unternimmt, um sich gegen die Folgen verfehlter Politiken zu schützen, spekuliert, ohne es zu wollen, mit. Er begreift sich nicht zu Unrecht als hilfloses Opfer. Doch zu Unrecht sieht er sich als Opfer der Finanzmärkte und nicht der Politik. Verantwortlich ist vor allem die Politik und nicht der Markt.
Angesichts der Insignifikanz der einzelnen Stimme sind wir als einzelne Bürger nicht legitim für Politik verantwortlich zu machen. In einer offenen Gesellschaft mit offenen Kapitalmärkten trifft uns jedoch eine gewisse Selbstverantwortung für unser finanzielles Einzelschicksal.
Es ist zumindest nicht so, dass wir privat gar nichts tun könnten. Auch ein Bürger, der sich keineswegs mit Aktienmärkten auskennt und der vielleicht intuitiv jede Form der Spekulation verurteilt, kann sich in Maßen wehren. Er könnte, um ein ganz konkretes Beispiel zu nennen, einen breit gestreuten Fonds wie etwa den ARERO (Aktien, Renten und Rohstoffe) Weltfonds kaufen. Auch hier ist der Gewinn keinesfalls gewiss. Aber es ist nachvollziehbar, dass in diesem Falle zumindest eine angemessene Reaktion auf die Schwierigkeit, die Zukunft vorauszusehen, erfolgt. Auch trifft nicht zu, dass wir als Laien gar nicht beurteilen können, worum es geht. Denn jedermann kann sich über die Strategie hinter dem ARERO Fonds in einem leicht zugänglichen und für jeden halbwegs gebildeten Laien verständlichen Buch informieren (vgl. Martin Weber 2007).
Es geht hier nicht um Werbung für den ARERO Weltfonds. Lob verdient, dass man aus der Einsicht in die Begrenztheit des Expertenwissens die richtigen Schlüsse zog. Allgemeine Regeln der Fondsverwaltung erlauben es dem Laien, vernünftig mit seiner eigenen Unwissenheit, aber auch der Unwissenheit von Experten umzugehen.
2. Wissen, nichts zu wissen
Was die direkte Voraussage von einzelnen wirtschaftlichen Entwicklungen anbelangt, sind die Experten erstaunlich unfähig (vgl. Camerer und Johnson, 1991). Das gilt verstärkt, wenn die Politik involviert ist (vgl. Tetlock, 2005). Den Experten kann man angesichts der Komplexität des Geschehens nicht vorwerfen, keine korrekten Einzelvoraussagen zu machen. Vorwerfen muss man ihnen, dass sie nicht bereit sind, sich und anderen die Unwissenheit  selbst einzugestehen und daraus entsprechende praktische Konsequenzen zu ziehen. In den komplexen Angelegenheiten der Wirtschaftspolitik und der wirtschaftlichen Prognose ebenso wie in der davon abhängigen Anlageberatung der Bürger ist die wichtigste Botschaft vermutlich, dass auch die Experten nichts oder fast gar nichts fundiert über einzelne Entwicklungen voraussagen können (vgl. dazu auch Güth und Kliemt 2014).
Sokrates hatte bestimmt Unrecht mit seiner These, dass er wisse, nichts zu wissen. Jedenfalls für alle praktischen Zwecke wissen wir hinreichend genau, dass die Erde keine Scheibe, dass eine Experten-Voraussage über ein zukünftiges Einzelergebnis komplexer menschlicher Interaktionen nicht wissenschaftlich gesichert und dass Griechenland eigentlich pleite ist.
Die näherungsweise Kugelform der Erde können wir nicht durch eigene Interventionen verflachen. Die Staatspleite Griechenlands können wir bzw. unsere politischen Agenten abwenden. Ob wir das tatsächlich versuchen sollten, ist eine Frage der Mittel, die uns zur Verfügung stehen und der Voraussage der wahrscheinlichen Konsequenzen, die sich aus dem Einsatz dieser Mittel ergeben werden. Da diese Konsequenzen aber von einer Vielzahl weiterer Handlungen und Handlungsoptionen abhängen, die sich dynamisch im Zeitablauf ergeben, sind alle Voraussagen eigentlich nur Prophezeiungen und in keinem Falle verlässlich.
3. Expertentäuschungen
Was auch immer geschehen wird, irgendein Experte wird es „vorausgesagt“ haben und im Nachhinein darauf hinweisen, „wie Recht er doch hatte“. Wir wissen sogar noch mehr: Wenn viele Experten jeweils viele Prophezeiungen von sich geben (die sie natürlich als Voraussagen maskieren), wird es auch Experten geben, die mehrfach hintereinander richtig lagen.
Soweit „Experten“ darauf vertrauen dürfen, die Opfer ihrer Prophezeiungen, gut voneinander trennen zu können, bieten sich interessante Möglichkeiten zu umgedrehten Schneeballsystemen: Die Experten senden eine Nachricht an 2n Personen. An die eine Hälfte schreiben sie z.B., dass der Grexit erfolgt und an die andere, dass er nicht erfolgt. Dann werden diese Experten in der Hälfte der Fälle, also in (2n/2)=2n-1 Fällen, richtig liegen. Im nächsten Schritt machen sie das gleiche mit einem anderen Phänomen und werden in 2n-2 Fällen zweimal hintereinander richtig gelegen haben. Bei hinreichend großem n>>2 werden sie zum Beispiel fünfmal hintereinander bei 2n-5 Adressaten richtig gelegen haben.
Für die 2n-5 Adressaten, die ausschließlich die richtigen Prophezeiungen erhielten, sieht die Tätigkeit des Experten ziemlich überzeugend aus. Da die Wahrscheinlichkeit hierfür im Vorhinein weniger als 5 % betrug, müssen sie in Unkenntnis der Massensendung von Prophezeiungen schließen, dass der Experte wirklich etwas weiß, zu dem sie selbst keinen Zugang haben. Diese Art von „Betrug“ ist überdies in der heutigen Zeit der einfachen E-Mail Versendung gar nicht mehr so schwierig durchzuführen.
Der vorangehende „Trick“ ist unter Statistikern altbekannt. Er spielt vermutlich in der Praxis des realen Lebens eine geringere Rolle als unter Wissenschaftlern, die auf der Suche nach signifikanten Ergebnissen und einem Weg in die großen Zeitschriften „herumtricksen“. Trotzdem macht das Gedankenexperiment klar, dass man den scheinbaren Beweisen für Expertentum mit großer Skepsis begegnen muss.
Seriöse Wissenschaftler werden von den vorgenannten Tricks weder untereinander noch gegenüber der breiteren Öffentlichkeit Gebrauch machen. Aber auch sie tendieren dazu, ihre eigenen Fähigkeiten als Experten zu überschätzen. Sie sind eben auch nur Menschen und die Öffentlichkeit sehnt sich nach Propheten.
4. Zum guten oder schlechten Schluss
Wir wissen mit großer Sicherheit, dass wir in vielem nur wenig wissen. Fangen wir endlich an, uns unser eigenes Unwissen einzugestehen und jede Art von Allwissenheitssehnsüchten zu bekämpfen. Nicht Ruhe, sondern kritische Vernunft ist die erste Bürgerpflicht. Sie wird uns nicht vor Irrtümern bewahren. Denn Irren ist menschlich. Sie hilft aber vielleicht, das nicht zu glauben, das wir gerne glauben würden, aber eigentlich vernünftiger Weise nicht glauben dürfen.
Wir wissen, recht sicher, dass wir nichts oder fast nichts über die Wahrscheinlichkeit des Grexits wissen. Wir können auch wissen, dass für die Probleme Griechenlands nicht der Markt, sondern Politik verantwortlich ist. Unsere Verantwortung ist es deshalb, in Reaktion auf die griechischen (spanischen, portugiesischen) Ereignisse, nicht nach einer Ausweitung, sondern nach einer Beschränkung des Einflusses der Politik und der politisierten Experten zu rufen. Die Öffentlichkeit tut aber genau das Gegenteil. Ihr Schluss wird wiederum sein, mehr Politik! Und der Bock gärtnert weiter.
Literatur
Güth, W., Kliemt, H., 2015, Experts and Evidence in Economic Policy, in: Martin Held, Gisela Kubon-Gilke, Richard Sturm (eds): Reformen und ihre politisch-ökonomischen Fallstricke, Marburg: Metropolis-Verl., pp. 35-54.
Camerer, C. and Johnson, E. 1991. The process-performance paradox in expert judgment: How can experts know so much and predict so badly? in: Goldstein, W.M. and Hogarth, R. M. Research on Judgment and Decision Making. New York et. al. Cambridge University Press.
Tetlock, Philip E. 2009. Expert Political Judgment: How Good Is It? How Can We Know? Princeton University Press.
Weber, Martin. 2007. Genial einfach investieren: Mehr müssen Sie nicht wissen – das aber unbedingt! 1st ed. Frankfurt am Main: Campus Verlag.
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