„Wie der Bulle pisst, eben mal so und mal so.“ (Helmut Schmidt, 1980)
Es ist bizarr, was die Regierung in Athen aufführt. Alexis Tsipras kämpft heute vehement für das, was er letzte Woche noch verbissen attackierte. Er legte am Donnerstag der Euro-Gruppe einen Reformplan vor, der mit dem letzten Angebot der Troika vor dem Referendum fast deckungsgleich ist. Glaubwürdig ist ein solches Verhalten sicher nicht. Aber glaubwürdig war die griechische Politik seit dem erschwindelten Beitritt zur EWU noch nie. Zumeist dominierten Lug und Trug. Immer wieder Tricks und gebrochene Versprechen pflasterten den Weg. Giannis Varoufakis, der zurückgetretene Finanzminister, war ein Meister dieses Fachs des Falschspiels. Es stellt sich deshalb die Frage, wen will Alexis Tsipras dieses Mal austricksen: Seine Wähler oder die Troika? Die Antwort liegt auf der Hand.
Das Unmöglichkeitstheorem
Alexis Tsipras musste klar sein, dass er die Versprechen an seine Wähler und die Forderungen der Troika nicht unter einen Hut bringen kann. Die Kreditgeber sind der Meinung, die griechische Schuldenlast wird nur tragfähig, wenn die Haushalte konsolidiert und Strukturreformen umgesetzt werden. Alexis Tsipras versprach seinen Wählern das glatte Gegenteil. Er wollte die Politik harter Austerität und marktlicher Reformen auf den Müllhaufen der europäischen Geschichte befördern. Ein satter Schuldenschnitt sollte helfen, den notwendigen Primärüberschuss zu verringern. Dann hätte die griechische Extremisten-Regierung auch die finanziellen Mittel, um ihre ausgabenintensiven sozialistischen Ideen in die Tat umzusetzen. Vor allem Angela Merkel hält davon nichts, noch nicht.
Dieses „Unmöglichkeitstheorem“ lässt sich auf den ersten Blick für Alexis Tsipras kaum lösen. Der Schwenk auf den Kurs der Troika („Geld gegen Reformen“) verprellt seine Wähler. Alexis Tsipras hat im Wahlkampf und vor dem Referendum die Troika wütend attackiert. Für Syriza und seinen spieltheoretisierenden Chefideologen war die blutsaugende Troika das Böse schlechthin, der IWF bestenfalls eine kriminelle Organisation. Austerität und Strukturreformen galten als Machwerk neoliberaler Terroristen. Der Troika warf Giannis Varoufakis „fiskalisches waterboarding“ vor, um das stolze Griechenland gefügig zu machen. Wer so argumentiert hat, wird vor seinen Wählern schwerlich bestehen, wenn er nach den Wahlen das glatte Gegenteil macht.
Politischer Selbstmord?
Es ist trotzdem nicht unmöglich, dass Alexis Tsipras den Kopf aus der Schlinge zieht. Eine erste Strategie ist eine alte. Er kann sich – wie seine Vorgänger – mit der Troika auf einen Kuhhandel einlassen. Formal gilt zwar das Prinzip der Troika: „Geld gegen Reformen“. Dazu bekennt sich die griechische Regierung offiziell. Es werden aber vor allem Absichten vereinbart, konkrete Zielvereinbarungen bleiben eher Mangelware. Das eröffnet diskretionäre Handlungsspielräume. Von den Vereinbarungen werden nicht alle verwirklicht. Es ist nicht zu erwarten, dass die Regierung Tsipras die „neoliberale“ Politik der verhassten Troika umsetzt. Eine engmaschige Kontrolle durch die Kreditgeber ist in einer EWU solange nicht möglich, wie es keine Politische Union gibt. Jede griechische Regierung wird die Karte des „verwerflichen“ Eingriffs in die nationale wirtschaftspolitische Souveränität spielen.
Am meisten könnte Alexis Tsipras bei seinen linken Wählern punkten, wenn es ihm gelänge, einen kräftigen Schuldenschnitt durchzusetzen. Das ist gar nicht so unwahrscheinlich, wie uns die Bundesregierung weiß machen will. Die Front, die Angela Merkel und Wolfgang Schäuble dagegen aufgebaut haben, bröckelt langsam aber sicher. Es ist allen Beteiligten seit langem klar, dass Griechenland ohne Schuldenschnitt wirtschaftlich nicht auf die Beine kommen wird. Der IWF hat die einheitliche Front der Troika mit einer neuen Studie gesprengt, in der ein Schuldenschnitt gefordert wird. Mit starken Erleichterungen bei den Schulden könnte Tsipras seine Wähler besänftigen. Der Primärüberschuss, der notwendig ist, um die griechischen Schulden tragfähig zu machen, könnte dann geringer ausfallen. Griechenland müsste weniger Ausgaben kürzen und die Steuern weniger stark erhöhen. Das wäre im Sinne der Wähler von Syriza.
Drittes Hilfsprogramm
Die Front gegen Griechenland bröckelt. Ein Grexit steht nicht mehr auf der Tagesordnung. Dagegen opponieren die EU-Kommission und das EU-Parlament. Auch wichtige Club-Med-Länder, wie Italien und Frankreich, sind dagegen. Selbst die Euro-Gruppe tendiert inzwischen mehrheitlich dazu, einen Grexit möglichst zu vermeiden. Deutschland und seine nördlichen und östlichen Verbündeten können einen Grexit nicht durchsetzen, selbst wenn sie es wollten, was ich bei der Bundesregierung stark bezweifle. Der IWF, die EZB und die EU-Kommission haben nach eiliger Prüfung der Reformliste aus Athen grünes Licht für weitere Verhandlungen gegeben. Die Finanzminister und Regierungschefs zieren sich noch, mit Griechenland ein neues, drittes Hilfsprogramm auszuhandeln. Sie werden aber letztlich zustimmen.
Das neue Programm für Griechenland wird aus zwei Elementen bestehen: „Geld gegen Reformen“ und der Einstieg in einen Schuldenschnitt. Die Schlachten um das erste Element sind geschlagen. Griechenland und die Troika sind nicht mehr weit auseinander. Es wird zu einem Deal „Noch mehr Geld trotz fehlender Reformen“ kommen. Auch das zweite Element ist klar. Die Euro-Gruppe wird den Einstieg in einen Schuldenschnitt billigen. Der IWF bereitet das Feld. Zuerst wird der ESM die Kredite von IWF und EZB übernehmen. Damit Angela Merkel das Gesicht wahren kann, wird es einen inoffiziellen Schnitt mit noch längeren Laufzeiten der Kredite und noch niedrigen Zinsen geben. Spätestens bei der nächsten Griechenland-Krise wird ein offizieller nomineller Schuldenschnitt im ESM umgesetzt werden. Dann wird den europäischen Steuerzahlern die Rechnung der verfehlten Euro-Rettungspolitik präsentiert.
Fazit
Es spricht vieles dafür, dass Alexis Tsipras die Troika austrickst. Er hat erkannt, dass die Euro-Gruppe einen Grexit fürchtet wie der Teufel das Weihwasser. Das nutzt er geschickt, zynisch und skrupellos. Vom Prinzip „Geld gegen Reformen“ wird nicht viel übrig bleiben. Griechenland wird einen neuen Sack voll Geld erhalten, Austerität und Strukturreformen werden wieder auf der Strecke bleiben. Noch wichtiger für Alexis Tsipras dürfte allerdings sein, dass er den Einstieg in einen Schuldenschnitt schaffen wird. Das dürfte kurzfristig für sein politisches Überleben wichtig sein. Ein neues Hilfspaket ist allerdings ein Pyrrhus-Sieg für Griechenland. Es wird wirtschaftlich nicht gesunden. Die stolzen Griechen werden weiter vom Geld der Anderen abhängig bleiben. Die EWU wird endgültig zu einer ökonomisch noch heterogeneren und politisch heillos zerstrittenen Transferunion.
1. Update: Hier sind einige Übersichten über den Deal der Euro-Gruppe mit Griechenland
– Renè Höltschi (NZZ): Der Griechenland-Deal. Ein enges Korsett
– Werner Mussler (FAZ): Griechenland-Krise Ein Kompromiss mit deutscher Handschrift
– NZZ: Die Vereinbarung zwischen Griechenland und Eurozone
2. Update:Â Der IWF hat noch einmal nachgelegt. Am 26. Juni 2015 betonte er in einem Papier, dass die griechischen Schulden nicht tragfähig seien. Ein großer Schuldenschnitt sei unabdingbar. Nach dem Deal vom Wochenende hat er seine Prognose aktualisiert. Danach sei bis Ende 2018 mit einem Schuldenstand von fast 200 % des BIP zu rechnen. Die griechischen Schulden seien bei risikoäquivalenten Zinsen nicht tragbar. Griechenland müsse von diesem Schuldenberg spürbar entlastet werden. Ansonsten gerate es in eine Schuldenspirale.
3. Update:Â Alexis Tsipras betont immer wieder, dass ab Herbst weitere Gespräche mit der Euro-Gruppe stattfinden werden, in denen vereinbart wird, wie die horrenden griechischen Schulden umstrukturiert werden (hier). Er wird dabei von Frankreich unterstützt. Der französische Finanzminister Sapin begrüßt die Forderung des IWF nach einem Schuldenschnitt. Der Weg für einen partiellen Schuldenerlass ist vorgezeichnet. Die spannende Frage dürfte sein, wie sich Angela Merkel verhalten wird. Sie hat – hoch und heilig – versprochen, dass es mit ihr keinen (nominellen) Schuldenschnitt geben wird.
4. Update: Die Nebel lichten sich. Der Weg wird klarer, über den ein weiterer, signifikanter Schuldenschnitt für Griechenland eingefädelt werden soll. Ein wichtiger Akteur in dem Kuhhandel ist der IWF. Er soll auch weiter Mitglied der Troika bleiben. Ihm ist es allerdings nur erlaubt, Kredite an Programmländer zu vergeben, wenn deren Schulden tragfähig sind. Das war zwar schon bisher nicht der Fall. Auch hier wurden die Regeln gedehnt. Nach den Vereinbarungen der Euro-Gruppe mit Griechenland vom Wochenende sind die Schulden noch viel weniger tragfähig. Es ist kein Zufall, dass der IWF seit Tagen in diese Richtung trommelt. Soll der IWF auch künftig an Bord bleiben, ist ein starker Schuldenschnitt unvermeidlich. Es ist paradox: Der Garant eines Schuldenschnitts ist der in Griechenland verhasste IWF.
Es spricht einiges dafür, dass es einen inoffiziellen Deal gibt. Der Kuhhandel könnte aus drei Elementen bestehen: Erstens bringt die Regierung Tsipras wichtige Sparbeschlüsse und Strukturreformen durch das Parlament. Das scheint zu gelingen. Allerdings ist der politische Preis, den Alexis Tsipras bezahlen muss, relativ hoch. Er wäre allerdings bei einem Grexit wohl noch höher gewesen. Damit ist der Weg für Verhandlungen zwischen Griechenland und der Troika frei. Ob die Beschlüsse später auch umgesetzt werden, ist eine andere Frage. Die griechische Regierung steht nicht hinter der getroffenen Vereinbarung. Alexis Tsipras hält sie für moralisch verwerflich und ökonomisch ineffizient. Mit dieser Aussage will er den politischen Preis drücken, den er bei seinen Wählern zahlen muss.
Zweitens wird der IWF in den Verhandlungen mit Griechenland ultimativ darauf drängen, dass es zu einem signifikanten Schuldenschnitt kommt. Ihm kommt die Rolle des bösen Buben zu. Die Mitglieder der Euro-Gruppe werden sich „zähneknirschend“ darauf einlassen. Der IWF und die EZB sind fein raus. Ihre bisher gewährten Kredite werden vom ESM abgelöst. Drittens wird ein Schuldenschnitt „durch die Hintertür“ organisiert. Längere Laufzeiten und „Nullzinsen“ sind die wichtigsten Parameter. Ein nomineller Schuldenschnitt findet nicht statt. Angela Merkel wird nicht wortbrüchig. Dieser  Schuldenschnitt ist das, was Alexis Tsipras und seine Syriza immer wollte. Damit kann er innenpolitisch punkten. Er muss allerdings die möglichen Turbulenzen bis dahin politisch überleben.
5. Update: Troika erwägt Schuldentausch für Griechenland
Blog-Beiträge zum Griechenland-Poker:
Tim Krieger: Der griechische Pyrrhussieg
Hartmut Kliemt: Nun haben wir den Bauern-Salat
Norbert Berthold: Hütchenspieler in Athen. Grexit: Nai oder Oxi?
Dieter Smeets: Wie geht es weiter mit Griechenland?
Wolf Schäfer: Grexit jetzt!
Uwe Vollmer: Das Eurosystem in der griechischen ELA-Falle
Norbert Berthold: A Never Ending Story. Greece, the final act? Hardly likely!
Hartmut Kliemt: Was wir über den “Grexit“ jetzt schon wissen
Henning Klodt: Nach dem Grexit
Dieter Smeets: Das Tauziehen um Griechenlands Schulden
Wolf Schäfer: Wenn der Euro zur Staatsräson überhöht wird
Mathias Erlei: Rettungsprogramme in der Europäischen Währungsunion. Eine spieltheoretische Rekonstruktion
Norbert Berthold: Eine unendliche Geschichte. Griechenland, Klappe die letzte? Wohl kaum!
Norbert Berthold: Europa, Marktwirtschaft und Varoufakis. Ist ein Grexit „anti-europäisch“?
Thomas Apolte: Die griechische Tragödie. Warum sich niemand zu handeln traut
Norbert Berthold: Die EWU verwahrlost ordnungspolitisch. Ein Drama in fünf Akten
Jan Schnellenbach: Kann man verlorene Steuermoral wieder aufbauen? Ein (nicht nur) griechisches Problem
Norbert Berthold: Allein gegen Alle. Griechenland spielt weiter Vabanque.
Norbert Berthold: Die EWU am Scheideweg. Permanente Transfers oder temporärer Grexit?
Juergen B. Donges: Griechische Manöver in der Eurozone. Droht aus Spanien ähnliches Ungemach?
Norbert Berthold: Briefe in die griechische Vergangenheit. Giannis Varoufakis: Abgezockt oder unfähig?
Wolf Schäfer: Mit „Gewissheit“ im Euro. Das strategische Spiel der Griechen
Norbert Berthold: Immer Ärger mit Griechenland. Ein Pyrrhus-Sieg der “Institutionen“?
Dieter Smeets: Nach der Rettung ist vor der Rettung. Griechenland und kein (Rettungs-)Ende!
Roland Vaubel: Schäubles Scherbenhaufen
Norbert Berthold: Trojanisches Pferd. Der Brief des Giannis Varoufakis
Uwe Vollmer: Scheidung auf griechisch. Wie realistisch ist der “Grexit“?
Norbert Berthold: Was erlauben Griechenland? Schwach wie Flasche leer
Dieter Smeets: Poker um Griechenland
Norbert Berthold: Sie kamen, sahen und verloren. Haben sich Alexis Tsipras und Giannis Varoufakis verzockt?
Thomas Apolte: Hexenmeister und Reformer. Was Varoufakis von Balcerowicz lernen kann.
- Pakt für Industrie
Korporatismus oder Angebotspolitik? - 27. Oktober 2024 - De-Industrialisierung nimmt Fahrt auf
Geschäftsmodelle, De-Globalisierung und ruinöse Politik - 12. September 2024 - Ordnungspolitischer Unfug (13)
So was kommt von sowas
Unternehmer, Lobbyisten und Subventionen - 17. August 2024
Ja, die Artikel in diesem Blog ueberschlagen sich ja nur so. Herr Berthold, schauen Sie sich doch mal die Dokumente an, die von der griechischen Regierung nach Bruessel geschickt wurden. Was denken Sie wird dann in der Realitaet umgesetzt ? Gar nichts und deshalb sind alle Verhandlungen auch irrelevant. Es kann noch so viel Austeritaet beschlossen werden, in der Realitaet wird es die nicht geben. Es wird weiter Geld fliessen, auch wenn Griechnland austritt. Denn denen ist das egal, sie werden dann nur ihre eigene Zentralbank benutzen. Ziemlich ernuechternd, aber so ist das.
Und man sieht doch immer wieder, dass wenn es hart auf hart kommt die Deutschen vor den Franzosen einknicken. Und warum ? In Germania wird man die Geschichte erzaehlt bekommen Herr Kohl waere der Einiger Europas gewesen. Naja, eine schoene Geschichte eben ^^. Verzeihen Sie mir den Sarkasmus, aber ich kann das alles nicht mehr hoeren.
„Geht alles nach Plan, wird der HFSD (Hellenic Financial Stability Fund) möglicherweise weniger als die bereitstehenden 10 Mrd. € zuschiessen, um den Kapitalbedarf der Banken zu decken. Dies hat für die griechische Regierung den Vorteil, dass die Rekapitalisierung ungeachtet des Fortschritts bei der Realisierung des Reformprogramms durchgeführt werden kann. Wäre der Restkapitalbedarf höher als 10 Mrd. €, bräuchte es eine neue Entscheidung der Finanzminister der Euro-Staaten (Eurogruppe), um diesen Betrag aufzustocken.“
Panagis Galiatsatos, EZB-Stresstest: Erleichterung in Athen, in: NZZ vom 31. Oktober 2015