Die Werte der Wirtschaft (7)
Wettbewerb jenseits der Grenzmoral

Das Jahr 2015 war kein gutes Jahr für den Respekt, der unserer gemeinsamen Werteordnung entgegengebracht wird. Nach dem Betrug des ADAC bei der Verleihung des Preises „Gelber Engel“ im Vorjahr 2014 haben sich in diesem Jahr insbesondere Volkswagen und der Deutsche Fußballbund als Sünder ertappen lassen, die in erheblichem Umfang unsere Werteordnung missachtet haben. Man fragt sich, warum diese Institutionen dies nötig hatten – ein Existenzkampf im intensiven Wettbewerb erklärt die Notwendigkeit der Missachtung wohl kaum. Denn alle drei genannten Institutionen hatten vor den Skandalen an sich ein gutes Image; und sie hatten und haben eine marktführende Stellung inne, ohne dass ein wirtschaftlicher Abwärtstrend erkennbar gewesen wäre.

Was können wir von unseren Institutionen einfordern?

Unsere Gesellschaft darf und muss von ihren Institutionen erwarten können, dass sie immer im Rahmen unserer Werteordnung agieren. Dies gilt für staatliche Institutionen genauso wie für privatwirtschaftliche Unternehmen, und es gilt für Verbände genauso wie für Vereine. Moralisches Handeln soll dabei den Normalfall aller Handlungen darstellen. Moralisches Handeln beinhaltet, die von der Mehrheit einer Gesellschaft akzeptierten Normen und Werten zu beachten und sich danach zu verhalten, um der Gesellschaft respektive anderen Gesellschaftsmitgliedern nicht zu schaden. Für den Einzelnen kann das Agieren innerhalb dieser Werteordnung oft widersprüchlich zum Eigeninteresse sein. Es bedeutet zusätzliche Investitionen oder Verzicht auf bestimmte, moralisch nicht legitimierte Handlungen. Moralisches Handeln kann in dieser Interpretation durchaus bedeuten, sich zum Wohlwollen anderer in den eigenen Zielen und Interessen einzuschränken. Die Gier des Einzelnen wird zurückgestellt zum Wohle aller. Dies kann und wird oft verpflichtend gemacht durch die Formulierung von Gesetzen. Die von einer Gesellschaft entwickelte Moral ist die Grundlage dieser Gesetze, welche die Freiheit des Einzelnen einschränken und doch gleichzeitig schützen sollen. Die Gesetze einer Gesellschaft dienen als Ordnungsrahmen dazu, bestimmtes unmoralisches Handeln zu verhindern. Von unseren Institutionen können und dürfen wir erwarten, dass sie sich an diese Gesetze halten.

Können wir unsere Institutionen zu moralischem Handeln zwingen?

Auch Wettbewerbsprozesse in der freien Marktwirtschaft werden von einem solchen Ordnungsrahmen flankiert. Dieser Rahmen besteht einerseits aus der Verfassung und den Gesetzen, andererseits wird der Rahmen jedoch zusätzlich durch die in der Gesellschaft anerkannten Normen und Werte gebildet. Wer nicht innerhalb dieses Ordnungsrahmens agiert, soll entweder bei Gesetzesverstoß durch die Staatsgewalt bestraft oder/und bei Missachtung der herrschenden Normen und Werte durch die Ablehnung der Gesellschaft sanktioniert werden. Den Anreiz, sich entgegen des Eigeninteresses an die herrschenden Normen und Werte einer Gesellschaft zu halten, kann man also auf die Vermeidung von Strafen und Sanktionen durch Gesellschaft und Staat zurückführen (Homann /Blome-Drees, 1992; Horn, 1996).

Der Mainstream der Literatur der Wirtschaftsethik geht nun davon aus, dass moralisches Handeln sich durch die Verankerung von Normen und Werten in gesetzlichen Rahmenbedingungen erzwingen lässt. Normen werden gesetzlich festgeschrieben, quasi als Spielregeln festgelegt. Jeder Marktteilnehmer erhält dann die Möglichkeit, frei zu agieren unter der Bedingung, sich an die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu halten. Die Rahmenordnung wiederum soll Anreize für die Unternehmen setzen, die moralisches Verhalten belohnen. Homann nennt die Rahmenordnung den systematischen Ort der Moral (Homann, 2002; Homann, 2007). Doch können solche festgeschriebenen Gesetze nur allseits akzeptierte Mindeststandards darstellen; quasi eine Untergrenze des moralischen, des gesellschaftlich akzeptierten Handelns bilden.

Wie agiert der Grenzmoralist?

Eine Institution oder ein Unternehmen, das innerhalb des Gesetzesrahmens die Grenzen der Werteordnung zu seinen Gunsten auslotet, dabei jedoch am Rande und nicht entgegen der Normen und Werte der Gesellschaft handelt, lässt sich als Grenzmoralist bezeichnen. Der Grenzmoralist verhält sich also gesetzlich gerade noch korrekt, ethisch ist sein Verhalten jedoch trotzdem fragwürdig – es geschieht eben hart an der Grenze des gerade noch Erlaubten. Der Grenzmoralist zieht seinen Vorteil nicht daraus, dass er für die Gesellschaft etwas Wertvolles herstellt, sondern daraus, dass er vom allseits akzeptieren Wertecanon weiter abweicht als andere. Je näher dabei die Grenze zum unmoralischen Handeln rückt, desto kostengünstiger und damit erfolgsversprechender werden für den Grenzmoralisten seine Handlungen, da die Investitionen in die Einhaltung von Normen und Werten zum Wohle der Gesellschaft immer weiter abgesenkt werden können.

Durch geringere Investitionen spart der Grenzmoralist in seinen Ausgaben, was positiv auf seine Gesamtkosten zurückfällt – sei es, dass er weitere Investitionen in eine qualitativ bessere Abgasvermeidung oder weitere Investitionen innerhalb eines fairen Wettbewerbs um die Vergabe eines Weltmeisterschaftsturniers einsparen kann. Damit produziert er kostengünstiger als der moralisch einwandfrei nach den herrschenden Normen und Werten produzierende Konkurrent. Ist der Wettbewerb intensiv und der Preisdruck hoch, wird dieser Unterschied in den Kosten (zumindest in der ceteris paribus Betrachtung) den Ausschlag geben, dass das moralisch einwandfrei handelnde Unternehmen vom Markt verdrängt wird oder sein Produktionsverhalten an jenes des Grenzmoralisten anpasst, indem es ebenfalls die von der Gesellschaft gewünschten Normen und Werte ignoriert. Da alle Unternehmen unter Wettbewerbsdruck als Grenzmoralist handeln müssen, muss für den Grenzmoralisten daraus nicht einmal ein Gewinn entstehen. Etwaige Zusatzkosten für die Einhaltung von Moral bewirken daher im Wettbewerb Verluste. Das moralisch agierende Unternehmen wird bestraft. Es ist jedoch nicht einmal so, dass der Grenzmoralist davon profitiert.

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– zum Vergrößern bitte auf die Grafik klicken –

In der Grafik sind die stilisierten Durchschnitts- und Grenzkosten eines moralisch agierenden Unternehmens (MA) sowie die stilisierten Durchschnitts- und Grenzkosten eines Grenzmoralisten (GM) dargestellt. Bei Konkurrenz setzen die Grenzmoralisten den Marktpreis (p*) fest. Sie werden von der Konkurrenzsituation gezwungen, im Minimum der Durchschnittskosten zu produzieren und einen Preis in Höhe ihres Durchschnittskostenminimums zu akzeptieren. Der moralisch agierende Akteur muss den Aufpreis für die Einhaltung der herrschenden Normen und Werte zahlen, sein Durchschnittskostenminimum liegt folglich höher. Zum herrschenden Marktpreis macht er Verluste.

Die Crux des Wettbewerbsprozesses tritt hier klar in Erscheinung: Moralisches Verhalten oberhalb der Grenzmoral wird wegkonkurriert. Nun ist es durchaus möglich, dass es dabei vor allem bei großen Institutionen ob ihres Bekanntheitsgrades zu Schäden an der Reputation und damit zu negativen Konsequenzen auf den Märkten kommt. Folglich versuchen diese Institutionen zumeist, sich nicht zu nah an der gesetzlich vorgeschriebenen Grenze zu orientieren oder zumindest eine Art Feigenblatt zwischen sich und die Grenze des eben noch Erlaubten zwischenzuschieben. Große Institutionen verfügen über Marktmacht, sie nutzen den für sie eben nicht so intensiven Wettbewerb aus, um sich von der Grenzmoral soweit fernzuhalten, dass ihre Handlungen kein gesellschaftliches Unbehagen und damit keine Reputationsschädigungen auslösen. Liegt bezüglich ihrer Handlungen eine asymmetrische Informationsverteilung vor, so dass die Gesellschaft über die Distanz des Handelns der Institutionen zur moralischen Grenze nicht informiert ist, fällt die Einhaltung von Distanz zur moralischen Grenze aber offensichtlich sehr schwer, weil sie wiederum dem eigennutzorientieren Verhalten oft diametral gegenübersteht. Es ist dann aber nicht der Wettbewerbsprozess, der die Unternehmen an die Grenze moralischen Handelns rückt – es sind eher ihre Motive, seien es Eigennutz, Gier oder Machtstreben, der Erhalt von Arbeitsplätzen oder andere intrinsische Beweggründe.

Was aber geschieht, wenn die Gesetze – also die fest vorgeschriebene Moral – nicht entsprechend kontrolliert und etwaige Verstöße nicht entsprechend sanktioniert werden?

Das Ergebnis ist dann oft eine Unterschreitung der Grenze und ein Agieren jenseits der Grenzmoral; und wenn diese Handlungen aufgedeckt werden, wird gerne als Entschuldung auf den Wettbewerbsprozess verwiesen: So geschieht es in der öffentlichen Meinung zu den Vorgängen beim DFB rund um die Vergabe der WM 2006, wo die implizite Rechtfertigung für mutmaßliche Korruptionsvorgänge darin besteht, dass ja alle Mitbewerber um WM-Vergaben nur auf diese Weise erfolgreich sein konnten; und so geschieht es auch bei VW, wo unterstellt wird, dass realitätsferne Kontrollen auf dem Prüfstand dazu anhalten, dass auch andere Mitbewerber nahe oder jenseits der Grenzziehung agieren. Schlimm ist es, wenn die öffentliche Meinung einer Gesellschaft dies akzeptiert; wenn diese Handlungen also nicht auf die Reputation der Institutionen nachhaltig abfärben. Denn dann werden Handlungen jenseits der Grenzmoral den Institutionen als gesellschaftlich akzeptabel erscheinen. Die Folgen für die Rahmenordnung als Ort der Moral sind weitreichend: Nicht einmal die Rahmenordnung kann ein Ort der Moral sein, wenn sie nicht von der öffentlichen Meinung einer Gesellschaft ausreichende Rückendeckung erhält. Dafür aber sind ein kollektiver öffentlicher Aufschrei und vor allem eine kollektive Abstrafung in beiden genannten Fällen deutlich zu leise respektive zu gering. 2015 war insofern wahrhaftig kein gutes Jahr für den Respekt, den wir unserer Werteordnung entgegenbringen.

Literatur

  1. Homann, K. / Blome-Drees, F. (1992): Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen.
  2. Homann, K. (2002): Vorteile und Anreize: Zur Grundlegung einer Ethik der Anreize, Tübingen.
  3. Homann, K. (2007): Ethik in der Marktwirtschaft, München.
  4. Horn, K. I., (1996): Moral und Wirtschaft, Tübingen.
  5. Neumann, M. (2012): Corporate Citizenship durch Lobbyaktivität: Wie können Unternehmen das Vertrauen der Menschen in die Marktwirtschaft stärken?, in: Behrends, S. et al., Jahresband des Fachbereis Wirtschaft, Berlin S. 149-165

 

6 Antworten auf „Die Werte der Wirtschaft (7)
Wettbewerb jenseits der Grenzmoral“

  1. „Moralisches Handeln beinhaltet, die von der Mehrheit einer Gesellschaft akzeptierten Normen und Werten zu beachten und ich danach zu verhalten, um der Gesellschaft respektive anderen Gesellschaftsmitgliedern nicht zu schaden.“

    Wenn Moral als das definiert wird, was „von der Mehrheit einer Gesellschaft“ akzeptiert wird, wäre es im „Dritten Reich“ in Deutschland ja ziemlich „moralisch“ zugegangen.

    Der Autor macht es sich, mit seiner impliziten Definition von „Moral“ als Mehrheitsmeinung viel zu einfach.

    Wann beginnen die „Wirtschaftsethiker“ endlich einmal damit, sich der Komplexität des Problems – so wie es schon seit langer Zeit in der akademischen Philosophie behandelt wird – bewusst zu werden?

    Die Loslösung der „Wirtschaftsethik“ (unter Rückgriff auf eine selbst erschaffene „Spezialliteratur“) vom seit langem bestehenden wissenschaftlichen Diskurs über ethische Probleme ist, um es einmal ökonomisch zu formulieren, nicht besonders „effizient“.

  2. Diese unschönen Rekurse auf den Nationalsozialismus aber auch immer! Es reicht doch auf die Zeit vor 1994 zurückzublicken, als § 175 StGB noch galt und die Mehrheit der Bevölkerung fand, dass das auch gut so sei: Da war Homosexualität folglich noch unmoralisch und eine schwere Sünde. Unternehmen, die sich wissentlich homosexuelle Mitarbeiter leisteten, wurden völlig zu recht „durch die Ablehnung der Gesellschaft sanktioniert“.

    Heute, wo man damit in Talk-Shows reussieren kann, ist Homosexualität ganz einfach cool und verantwortungsvolle Unternehmen sorgen auch in dieser Hinsicht für Diversität in ihren Aufsichtsräten. Ansonsten werden sie völlig zu recht „durch die Ablehnung der Gesellschaft sanktioniert“.

  3. Große allgemeine Verunsicherung:

    Jetzt ist also bereits das bloße Einhalten von Gesetzen moralisch fragwürdig! Gilt das dann auch für den Mindestlohn?

    Also nur den Mindestlohn zu zahlen ist moralisch zweifelhaft – man muss schon auch noch eine Schippe drauflegen!

    Warum plädiert Prof. Neumann dann nicht dafür, dass die Gesetze so geändert werden, dass das Einhalten von Gesetzen für ihne moralisch akzeptabel ist – und stellt sich dem offenen Diskurs mit seinen andersdenkenden Kollegen?

  4. Liberalismus ohne Pluralismus ist wie Schwarzwälder Torte ohne Schlagsahne: Ziemlich sinnlos!

  5. Leute,

    es geht doch hier um Wirtschaftsethik, nicht den allgemeinen gesellschaftlichen Umgang. Was der Autor meint ist doch, dass von aussen betrachtet, Verhaltensweisen die in einer freien Gesellschaft normalerweise sanktioniert würden ( Machtmissbrauch, Intoleranz/Diskriminierung ), in diesen Fällen nicht bestraft wurden, weil eben die Mehrheit mehr oder minder davon profitiert hat. Das ist das was moralisch verwerflich ist.

    Noch ein kleiner Satz zum Mindestlohn: was ist denn ein gerechter Lohn ? 5, 10, 20, 100 Geldeinheiten pro Stunde ? Es ist und bleibt eine fiktive Rechengrösse. Was zählt ist einzig und allein die dahinterstehende Faktorproduktivität und wie sich das reale Wachstum zusammensetzt. Um es platt auszudrücken: orientiert Euch nicht an Zahlen sondern an den Dingen, die ihr mit den Zahlen eintauschen könnt.

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